Rechtsprechungsübersicht zum Schutzstatus syrischer Wehrdienstverweigerer nach dem EuGH‑Urteil »EZ gg. Deutschland«

Vor einem Jahr hat der EuGH Grundsatzfragen zum Schutzbedarf syrischer Militärdienstverweigerer entschieden. Aufgrund des Urteils wurde vielfach davon ausgegangen, dass den Betroffenen Flüchtlingsschutz zuzuerkennen ist. Viele syrische Schutzsuchende, denen zuvor nur subsidiärer Schutz gewährt worden war, stellten daraufhin Asylfolgeanträge. Die seitdem ergangenen BAMF- und Gerichtsentscheidungen zeigen jedoch: Die Vorgaben des EuGH haben kaum Auswirkungen auf die deutsche Entscheidungspraxis.

I. Ausgangslage

Schutzsuchende aus Syrien erhalten seit einer Änderung der Entscheidungspraxis des BAMF im Jahr 2016 häufig nur noch subsidiären Schutz statt Flüchtlingsschutz, wobei die Änderung der behördlichen Praxis mit der Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten einherging (Pro Asyl Meldung vom 14.7.2016). Flüchtlingsschutz wird nach wie vor zugesprochen bei Personen, die individuelle Verfolgungsgründe geltend machen (z.B. aufgrund ihres politischen Engagements) sowie bei palästinensischen Geflüchteten, die in Syrien unter dem Schutz der UNRWA standen (EuGH - asyl.net: M29216 und BVerwG - asyl.net: M29730). In der Rechtsprechung umstritten ist, ob auch Männer, die sich dem syrischen Wehrdienst durch Flucht entzogen haben, den Flüchtlingsschutz beanspruchen können. Mit dieser Gruppe beschäftigt sich die folgende Übersicht.

Die Frage, welcher Schutzstatus Wehrdienstverweigerern aus Syrien zu gewähren ist, wurde in den letzten Jahren zuerst von den Verwaltungsgerichten und später von den Oberverwaltungsgerichten unterschiedlich beantwortet (siehe unten die asyl.net-Meldungen zum Thema). So nehmen einige Gerichte an, dass bei Wehrdienstverweigerern, Reservisten und Deserteuren ein Risikoprofil vorliege, das die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfordere. Sie gehen davon aus, dass Personen im militärdienstpflichtigen Alter, die sich durch die Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben, bei Rückkehr nach Syrien die Gefahr einer staatlichen Verfolgung in Anknüpfung an eine – unterstellte – oppositionelle Gesinnung drohe. Gerichte, die die Gegenmeinung vertreten, gehen zwar ebenfalls davon aus, dass die Betroffenen bei einer Rückkehr nach Syrien zumindest von Strafverfolgung und möglicherweise auch von Menschenrechtsverletzungen bedroht sein könnten. Die drohenden Maßnahmen werden dabei aber als nicht schwerwiegend genug eingestuft, um das Niveau von Verfolgungshandlungen im Sinne der Flüchtlingsdefinition zu erreichen. Daneben wird vertreten, dass die in Syrien drohenden Maßnahmen nicht auf die politische Überzeugung der Betroffenen abzielen. Es fehle also an der Verknüpfung der möglichen Verfolgungshandlung mit einem Verfolgungsgrund (hier: politische Überzeugung), die Voraussetzung für den Flüchtlingsschutz ist. Entsprechend kommen diese Gerichte zum Ergebnis, dass lediglich subsidiärer Schutz zu gewähren ist.

II. Erste Reaktionen auf das EuGH-Urteil „EZ gg. Deutschland“

Auf eine Vorlage des VG Hannover (asyl.net: M27109) hat der EuGH im November 2020 zu mehreren Grundsatzfragen im Zusammenhang mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für syrische Militärdienstverweigerer entschieden.

Zu der für die deutsche Entscheidungspraxis zentralen Frage von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund führte der Gerichtshof aus:

„Hierbei ist hervorzuheben, dass eine starke Vermutung dafür spricht, dass die Verweigerung des Militärdienstes […] mit einem der fünf in Art. 10 [Qualifikationsrichtlinie] genannten Gründe in Zusammenhang steht“ (Rn. 57).

Die Prüfung der Plausibilität dieser Verknüpfung ist laut EuGH dabei Sache der zuständigen nationalen Institutionen. Mit seiner Maßgabe der »starken Vermutung« gibt der EuGH aber den deutlichen Hinweis, dass die Militärdienstverweigerung vom syrischen Staat in aller Regel als oppositioneller Akt angesehen werden dürfte und in Anknüpfung an die (unterstellte) politische Überzeugung verfolgt wird (asyl.net Meldung vom 23.11.2020)

Das EuGH-Urteil wurde in Fachmedien als klärende Grundsatzentscheidung aufgenommen, die »mit der divergierenden Rechtsprechung der OVG« aufräumen würde (Siehe etwa lto.de Meldung vom 19.11.2020). Menschenrechtsorganisationen bezeichneten das Urteil als Erfolg, es zeige, dass Betroffenen bislang der »Flüchtlingsstatus zu Unrecht verweigert« wurde (Siehe etwa proasyl.de Meldung vom 19.11.2020). Fachleute betonten die am völker- und europarechtlichen Schutz orientierte Auslegung des EuGH und wiesen darauf hin, dass die bis dahin ergangenen, die BAMF-Praxis bestätigenden Gerichtsentscheidungen eindeutig im Widerspruch zu den Vorgaben des Gerichtshofs stünden (Siehe etwa Hruschka, VerfBlog und Feneberg, VerfBlog). Nur vereinzelt wurde die Meinung vertreten, dass sich die dem EuGH-Urteil entgegenstehende Rechtsprechung nicht ändern müsse (Pettersson, JurWissBlog).

III. Asylfolgeanträge aufgrund des EuGH-Urteils

Infolge der EuGH-Entscheidung stellten in Deutschland viele Syrer im wehrpflichtigen Alter, denen bisher nur subsidiärer Schutz zuerkannt worden war, einen Asylfolgeantrag beim Bundesamt. Sie beriefen sich darauf, dass das Urteil des EuGH eine neue Sach- oder Rechtslage darstelle, die eine von dem früheren Bescheid abweichende Entscheidung – nämlich die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft - begründen könne. Entsprechend der weit verbreiteten Auffassung unter Fachleuten wurde davon ausgegangen, dass die BAMF-Entscheidungspraxis aufgrund der EuGH-Vorgaben geändert werden muss. Personen, deren Bescheide rechtskräftig abgelehnt wurden, wurde häufig geraten, Folgeanträge zu stellen (siehe etwa Arbeitshilfe der Parität).

In den ersten drei Monaten dieses Jahres haben laut BAMF-Asylgeschäftsstatistik 13.585 Schutzsuchende aus Syrien Asylfolgeanträge gestellt (BT-Drs. 19/27462). Da diese Zahl weit über der Zahl von 4.137 Folgeanträgen für das gesamte Jahr 2020 liegt, dürfte die Mehrzahl dieser Anträge infolge des EuGH-Urteils gestellt worden sein.

1. BAMF und Grichte: Asylfolgeanträge unzulässig

Die gestellten Folgeanträge wurden - soweit ersichtlich - auch nach der EuGH-Entscheidung weitestgehend als unzulässig abgelehnt. Es scheint aufgrund des Urteils keine Änderung der BAMF-Entscheidungspraxis erfolgt zu sein. Von Dezember 2020 bis Februar 2021 wurde nur 5,6% der erwachsenen männlichen Asylsuchenden aus Syrien Flüchtlingsschutz zugesprochen, was dem Wert von 5,7% des Jahres 2020, also vor dem EuGH-Urteil, entspricht; 71% bekommen weiterhin lediglich den subsidiären Schutz zugesprochen (Antwort vom 15.3.2021 (Nr. 3/127) auf eine schriftliche Frage der Abgeordneten Ulla Jelpke).

Während manche Antragsteller diese Entscheidung akzeptierten, legten andere Klage gegen die Ablehnung ihres Folgeantrags ein.

Bis zum heutigen Tag sind wenige Urteile veröffentlicht, denen eine solche Folgeantragskonstellation zugrunde liegt. In den uns bekannten Urteilen wurde die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts bestätigt (vgl. etwa VG Stuttgart - asyl.net: M29485; VG Berlin - asyl.net: M29831).

2. Strittig: EuGH-Urteil als Folgeantragsgrund

Die Klageabweisung wurde damit begründet, dass die Entscheidung des EuGH keine Änderung der Sachlage im Sinne von § 71 AsylG i.V.m. § 51 VwVfG darstelle, da der EuGH keine (neue) Feststellung zur Sachlage in Syrien getroffen habe. Auch eine Änderung der Rechtslage sei nicht erkennbar, da der EuGH nur deklaratorisch die Vorschriften des Unionsrecht erläutere, nicht jedoch konstitutiv das geltende Recht ändere. Eine Änderung der Rechtslage könne nur ausnahmsweise durch eine Änderung der Rechtsprechung eintreten, wenn eine mit Bindungswirkung des § 31 BVerfGG ausgestattete relevante Entscheidung ergehe. Der Entscheidung des EuGH komme jedoch keine solche Bindungswirkung zu. Eine andere Einschätzung ergebe sich auch nicht aus dem „FMS“-Urteil des EuGH aus dem Jahr 2020 (asyl.net: M28528). In dieser Entscheidung, in der es um ungarische Transitlager ging, hatte der Gerichtshof ausgeführt, dass ein EuGH-Urteil, mit dem die Unionsrechtswidrigkeit einer nationalen Regelung festgestellt wird, eine „neue Erkenntnis“ im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Bst. d Verfahrensrichtlinie (2013/32/EU) darstellt. Die Verwaltungsgerichte gehen jedoch davon aus, dass die „neue Rechtslage“ nur dann vorliegt, wenn sich die Unionsrechtswidrigkeit der asylrechtlichen Erstentscheidung aus einem Urteil des Gerichtshofs ergebe oder von einem nationalen Gericht inzident festgestellt worden sei.

In Literatur und Rechtsprechung finden sich aber weiterhin Argumente gegen die hier zitierte Auffassung – so auch in aktuellen Entscheidungen des EuGH: Eine Entscheidung des EuGH stellt demnach „eine neue Erkenntnis“ im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Bst. d AsylVerfRL „im Hinblick auf die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz dar, so dass der Folgeantrag nicht auf der Grundlage dieser Bestimmung abgelehnt werden kann“ (siehe o.g. „FMS“ Urteil des EuGH). Demgemäß müsse bei Vorliegen einer solchen neuen Erkenntnis die nach Art. 40 Abs. 2 AsylVerfRL vorzunehmende Vorprüfung  dazu führen, dass der Folgeantrag gemäß Art. 40 Abs. 3 AsylVerfRL inhaltlich geprüft werde. In einer aktuellen Entscheidung zu Asylfolgeanträgen hat der EuGH darüber hinaus festgestellt, dass bestehende nationale Vorschriften zur Wiederaufnahme abgeschlossener Verfahren mit den Vorgaben der EU-Verfahrensrichtlinie für die Prüfung von Asylanträgen im Einklang stehen müssen (asyl.net: M29993). Für die deutsche Rechtslage heißt das, dass Änderungen der „Sach- oder Rechtslage“, wie sie in § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG als Wiederaufgreifensgründe vorgesehen sind, im Sinne der Verfahrensrichtlinie („neue Elemente oder Erkenntnisse“) ausgelegt werden müssen. Es wird daher in Frage gestellt, ob die oben dargestellte, bisher in der Rechtsprechung vertretene Auffassung, die sich auf den Wortlaut der nationalen Vorschrift in § 51 VwVfG stützt, Bestand haben kann.

Es wird sich zeigen, ob die Gerichte, die nun laufend über die gestellten Folgeanträge entscheiden werden, sich auf die bisher einhellige Auffassung in der Rechtsprechung festlegen oder im Lichte des Europarechts und der einheitlichen Umsetzung des GEAS auch EuGH-Urteile als Folgeantragsgrund akzeptieren.

IV. Oberverwaltungsgerichte zu den materiellen Vorgaben der EuGH-Entscheidung

Unabhängig von den Fällen der Folgeantragsstellung sind weiterhin vielfach sogenannte Aufstockungsklagen von Männern aus Syrien anhängig, die sich dem dortigen Wehrdienst entzogen haben. Seit der Änderung der BAMF-Entscheidungspraxis 2016 wurden knapp 32.000 solcher „Upgrade-Klagen“ von syrischen Männern im wehrpflichtigen Alter erhoben; Ende 2020 waren noch 3.670 dieser Klagen anhängig. Die nach dem EuGH-Urteil „EZ“ ergangenen obergerichtlichen Entscheidungen setzen sich, soweit ersichtlich, allesamt mit den Feststellungen des Gerichtshofs auseinander. Als einziges Obergericht hat das OVG Berlin-Brandenburg aufgrund der EuGH „EZ“ Entscheidung seine Rechtsprechung geändert (asyl.net: M29482). Es stellte fest, dass syrischen Männern, die den Wehrdienst verweigert haben, unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Ihnen drohe politische Verfolgung wegen einer ihnen von dem syrischen Regime zugeschriebenen oppositionellen Haltung.

Die anderen Obergerichte bleiben auch angesichts der EuGH-Entscheidung grundsätzlich bei der Feststellung, dass Personen, die sich durch Flucht dem syrischen Militärdienst entzogen haben, nicht die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, wenn keine weiteren Verfolgungsmerkmale hinzutreten.

1. Geänderte Tatsachengrundlage

Kurz nach Veröffentlichung des EuGH-Urteils hat es der VGH Baden-Württemberg abgelehnt, die Berufung bei vorgetragener Verfolgung wegen Militärdienstentziehung in Syrien zuzulassen: Aus dem EuGH-Urteil folge nicht, dass unterschiedslos jedem syrischen Staatsangehörigen im wehrpflichtigen Alter "automatisch" die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei (asyl.net: M29155). Auch die vom EuGH formulierte "starke Vermutung" bei tatsächlich anzunehmender Militärdienstverweigerung ziele primär auf die Frage nach politischer Vorverfolgung ab. In späteren Urteilen blieb das Gericht bei dieser grundsätzlichen Bewertung, betonte die Notwendigkeit einer Einzelfallprüfung und befand, dass die vom EuGH formulierte "starke Vermutung" einer politischen Verfolgung bei tatsächlich anzunehmender Militärdienstverweigerung aufgrund aktueller Erkenntnisse derzeit als widerlegt angesehen werden müsse (asyl.net: M29598).

Der VGH schloss sich damit dem Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen an, das für Wehrflüchtige sowohl die Gefahr einer flüchtlingsrelevanten Bestrafung oder sonstigen Verfolgung als auch die erforderliche Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund verneint hatte (asyl.net: M29545). Dies sah das OVG jedenfalls für Personen als gegeben an, die sich dem Wehrdienst vor der Einberufung entzogen hätten. Das Gericht ließ offen, ob seine Einschätzung auch für Deserteure und Überläufer gelte.

Ähnlich sah es auch das Niedersächsische OVG: Erst eine unmittelbar drohende Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes könne eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung begründen. Zudem fehle es an der erforderlichen Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund (asyl.net: M29702).

Laut dem OVG Sachsen-Anhalt fehlen hinreichende Anknüpfungspunkte für die Annahme, dass das syrische Regime jedem, der sich durch das Verlassen des Landes dem Militärdienst (Wehrdienst und Reservedienst) entzogen habe, eine regimefeindliche bzw. oppositionelle Gesinnung unterstelle. Dies gelte jedenfalls, sofern nicht weitere risikoerhöhende Faktoren in der jeweiligen Person vorlägen, die auf eine Regimegegnerschaft hinweisen könnten (asyl.net: M29855).

Der VGH Hessen greift die oben genannten Gründe auf: Es fehle an einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit und der Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund. Zudem sei die vom EuGH aufgestellte "starke Vermutung" einer Verknüpfung zwischen (unterstellter) Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund in Bezug auf Syrien aktuell widerlegt (asyl.net: M30000).

Ähnlich begründet auch das OVG Sachsen seine Entscheidung (asyl.net: M30124). „Einfache Wehrdienstentzieher“ ohne hinzutretende Risikofaktoren bräuchten keine Verfolgung zu befürchten. Ergänzend geht das OVG Sachsen auch auf die Frage ein, ob syrische Wehrdienstleistende befürchten müssten, bei einem Einsatz im laufenden Konflikt zur Beteiligung an Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit gezwungen zu werden. Wäre dies der Fall, wäre die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Verweigerung, sich an derartigen Taten zu beteiligen, als Verfolgungshandlung zu werten (Art. 9 Abs. 2 Bst. e QRL). Hierzu führt das OVG aus, dass aufgrund der aktuellen militärischen Situation in Syrien nicht davon auszugehen sei, dass Wehrdienstpflichtige, die ihr hypothetisches Einsatzgebiet nicht kennen, Kriegsverbrechen begehen würden. Damit schätzt das OVG im September 2021 die Frage, ob ein völkerrechtswidriger Krieg in Syrien herrscht, anders ein als der EuGH noch im November 2020 in seinem Urteil in der Rechtssache „EZ“.

Bereits kurz nach der EuGH-Entscheidung wurde die Vermutung geäußert, dass die obergerichtliche Rechtsprechung die Vorgaben des EuGH mit Verweis auf eine geänderte Tatsachengrundlage umgehen werde (Feneberg, VerfBlog). Diese Prognose hat sich bewahrheitet.

2. Beweislast

Auch die Frage, ob durch die EuGH-Entscheidung eine Beweislastumkehr erfolgt ist, wurde diskutiert (Pettersson, JurWissBlog). Die Frage der Beweislast greift der VGH Baden-Württemberg in einer Entscheidung aus August 2020 explizit auf und stellt klar, dass trotz des EuGH-Urteils grundsätzlich die schutzsuchende Person die (materielle) Beweislast für das Vorliegen der (positiven) Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft trage (asyl.net: M30122). Eine Aussage dergestalt, dass "im Zweifel" internationaler Schutz zu gewähren ist, ließe sich dem EuGH-Urteil nicht entnehmen. Bei einer unklaren Erkenntnislage im Zweifel schutzorientiert zugunsten der asylsuchenden Person zu entscheiden, würde dagegen einen „materiellen Rechtsverstoß“ begründen, denn gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 AsylG bzw. Art. 2 Bst. d QRL müsse die Furcht der schutzsuchenden Person vor Verfolgung begründet sein, damit ihr die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden könne.

Der VGH bezieht sich dabei auf das BVerwG. Dieses hatte sich im März 2021 in einem Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der Revision zu dieser Frage geäußert (asyl.net: M30153). Es entschied, dass eine „durch eine "starke Vermutung" begründete Beweiserleichterung jedenfalls nicht zu einer von der tatsächlichen Verfolgungslage und den hierzu heranzuziehenden Erkenntnismitteln unabhängigen, unwiderleglichen Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund“ führe. Auch der EuGH stelle die Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund unter den Vorbehalt der tatsächlichen Prüfung.

Das OVG des Saarlandes geht ebenfalls von der Notwendigkeit einer Einzelfallbetrachtung aus und lehnte den Berufungszulassungsantrag eines syrischen Asylsuchenden ab (asyl.net: M30150). Die Frage der Verfolgungsrelevanz von Wehrdienstentziehung bei syrischen Staatsangehörigen könne wegen der Einzelfallbezogenheit nicht mit einer verallgemeinerungsfähigen Aussage beantwortet werden. Die Feststellungen des EuGH seien weder auf alle Asylbegehren syrischer Asylsuchender anwendbar noch präjudizierten sie im Fall, dass sie für das jeweilige Verfahren relevant sein, das Ergebnis.

V. Fazit

Es ist eine starke Tendenz der Obergerichte zu beobachten, dem Urteil des EuGH zwar nicht inhaltlich zu widersprechen, es jedoch so auszulegen, dass seine Anwendung vermieden wird: Anstatt die vom EuGH festgestellte „starke Vermutung“ einer politisch motivierten Verfolgung und die damit verbundene Beweiserleichterung aufzugreifen, betonen die Obergerichte weiterhin die Notwendigkeit einer Einzelfallbetrachtung oder sie verweisen auf aktuelle Erkenntnisse zur Lage in Syrien, die belegen sollen, dass der EuGH auf einer überholten Tatsachengrundlage entschieden habe.

Die Ausführungen der Gerichte zur Tatsachengrundlage waren schon vor der "EZ"-Entscheidung des EuGH kritisch kommentiert worden. So wurde angemerkt, dass das OVG Nordrhein-Westfalen eine politische Motivation der Verfolgung von Wehrdienstentziehung weitgehend auf der Grundlage von Vermutungen verneint habe. Dabei habe das OVG versucht, das Interesse des syrischen Staats an der Verfolgung seiner Staatsbürger nach rationalen Kriterien zu beurteilen. Dies habe das Gericht dann zu dem Schluss geführt, eine politische Verfolgung scheide aus, weil der syrische Staat Wehrdienstverweigeren grundsätzlich keine politische Motivation unterstelle. Auf diese Weise habe das OVG das syrische Regime "rationalisiert" und die Wehrdienstverweigerer "entpolitisiert"  (siehe etwa Idler, Anmerkung zu OVR NRW M25072;  Feneberg,  Fluchtforschungsblog). Festzustellen ist in diesem Zusammenhang, dass auch in den aktuellen Entscheidungen des OVG Annahmen über die "Interessenlage" und "Beweggründe" des syrischen Regimes für die Argumentation herangezogen werden (siehe etwa OVG NRW  M29545).

Aktuell hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in einigen der Verfahren, in denen es vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg verpflichtet worden war, die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegt (BVerwG anhängiges Verfahren 1 B 77.21). Eine Entscheidung liegt in diesen Verfahren bisher noch nicht vor.

Hinweis:

  • Diese Rechtsprechungsübersicht erscheint in erweiterter Form im Asylmagazin 12/2021.

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