Kein Flüchtlingsschutz für Wehrdienstentzieher aus Syrien:
1. Eine Flüchtlingsanerkennung wegen Verfolgungsgefahr aufgrund der Wehrdienstentziehung ist nur dann möglich, wenn diese Gefahr bereits vor der Ausreise bestand und nicht erst durch die Ausreise entstanden ist.
2. Die Verweigerung des Wehrdienstes durch Flucht setzt als subjektives Element voraus, dass die Verweigerung das ausschlaggebende Motiv für die Ausreise/Flucht war.
3. Eine nicht ausreichende Überzeugungsgewissheit geht zu Lasten der schutzsuchenden Person, auch wenn sie darauf zurückzuführen ist, dass die Situation nicht aufklärbar ist (unter Bezug auf BVerwG, Beschluss vom 10.03.2021 - 1 B 2.21 - asyl.net: M30153).
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
e) Kann das Gericht auf dieser Grundlage nicht das nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorgegebene Maß an Überzeugungsgewissheit gewinnen, dass einem Schutzsuchenden Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, scheidet eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus. Grundsätzlich trägt der Schutzsuchende die (materielle) Beweislast für das Vorliegen der (positiven) Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und geht insoweit ein "non liquet" zu seinen Lasten. Dies gilt jedenfalls bei einem nicht vorverfolgt ausgereisten Antragsteller hinsichtlich der Frage, ob ihm bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht (vgl. BVerwG, Urt. v. 04.07.2019 - 1 C 31.18 -, juris Rn. 27; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 04.05.2021 - A 4 S 468/21 -, juris Rn. 24).
Dass eine unaufklärbare Situation (non liquet) bei plausiblen Angaben der antragstellenden Person zu ihren Gunsten wirke und Behörden und Gerichte im Zweifel schutzorientiert vom Vorliegen der Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft ausgehen müssten ("in dubio pro refugio"), folgt insbesondere nicht aus dem Urteil des EuGH vom 19.11.2020 (- C-238/19 -, juris; a. A. wohl OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 29.01.2021 - OVG 3 B 109.18 -, juris Rn. 64; Hruschka, Constantin: Am Schutz orientiert: Der EuGH zum Schutz bei Verweigerung des Militärdiensts in Syrien, VerfBlog, 2020/11/20, S. 3, verfassungsblog.de/am-schutz-orientiert/, DOI: 10.17176/20201121-003107-0). Der EuGH führt insoweit zunächst aus, dass das Bestehen einer Verknüpfung zwischen einer Verfolgungshandlung nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e QRL (entspricht § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG) und den in Art. 2 Buchst. d und Art. 10 QRL (entsprechen § 3 Abs. 1 und 2, § 3b AsylG) genannten Verfolgungsgründen nicht als gegeben angesehen und folglich der Prüfung durch die mit der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz betrauten nationalen Behörden nicht entzogen sein könne (vgl. EuGH, Urt. v. 19.11.2020 - C-238/19 - juris Rn. 50). Dies wird dann dahingehend konkretisiert, dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass es Sache der um internationalen Schutz nachsuchenden Person sei, den "Beweis" der erforderlichen Verknüpfung zu erbringen. Überdies spricht aus Sicht des EuGH eine "starke Vermutung" dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e QRL genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie genannten Gründe in Zusammenhang steht. Insoweit ist aber zu bedenken, dass sich der EuGH nur für einen bestimmten Fall - nämlich bei plausibler Darlegung des Vorliegens der Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e QRL - für die genannten Beweiserleichterungen ausspricht. Aus dem Kontext der Entscheidung wird überdies deutlich, dass die Beweiserleichterung lediglich die formelle Beweislast betrifft; die um internationalen Schutz nachsuchende Person muss danach die genannte Verfolgungshandlung plausibel darlegen, sodann obliegt es den behördlichen bzw. gerichtlichen Stellen, zu prüfen, ob die plausibel gemachte Verfolgungshandlung in hinreichendem Zusammenhang mit einem der genannten Verfolgungsgründe steht. Eine Aussage dergestalt, dass "im Zweifel" internationaler Schutz zu gewähren ist, lässt sich dem nicht entnehmen. Dies steht im Einklang damit, dass es in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess - ungeachtet der im Asylverfahren gesteigerten Mitwirkungspflichten des Antragstellers nach §§ 15 und 25 AsylG - Aufgabe des Tatsachengerichts ist, gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO den maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln und hierzu von Amts wegen die erforderliche Sachverhaltsaufklärung zu betreiben sowie sich auf Basis dessen eine eigene Überzeugung i.S.d. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu bilden. Bei einer unklaren Erkenntnislage im Zweifel schutzorientiert zu Gunsten des Ausländers zu entscheiden, würde dagegen einen materiellen Rechtsverstoß begründen, denn gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylG bzw. Art. 2 Buchst. d QRL muss die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet sein, damit ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden kann (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 22.01.2021 - 14 A 176/21.A -, juris Rn. 23 ff.; OVG Niedersachsen, Urt. v. 22.04.2021 - 2 LB 408/20 -, juris Rn. 28; OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 01.07.2021 - 3 L 154/18 -, juris Rn. 52). Es überzeugt vor diesem Hintergrund nicht, dass das OVG Berlin-Brandenburg (Urt. v. 29.01.2021 - OVG 3 B 109.18 -, juris Rn. 64), offenbar davon ausgeht, dass der allgemeine beweisrechtliche Grundsatz, dass ein "non liquet" regelmäßig zu Lasten desjenigen geht, zu dessen Gunsten der Nachweis ausfiele (sog. Günstigkeitsprinzip, vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.03.2012 - 16 B 277/12 -, juris Rn. 5), durch den EuGH im Falle einer Verfolgungshandlung nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e QRL durchbrochen worden sei (das OVG Berlin-Brandenburg spricht insoweit von einem "Sonderfall", siehe OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 29.01.2021 - OVG 3 B 109.18 -, juris Rn. 64). Eine derartige Interpretation finde vielmehr aus den genannten Gründen in der genannten Entscheidung des EuGH keine Stütze. Dementsprechend geht auch das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass die vom EuGH aufgestellte "starke Vermutung" einer Verknüpfung von (unterstellter) Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund unter dem Vorbehalt der tatsächlichen Prüfung der auch solchermaßen stark vermuteten "Plausibilität dieser Verknüpfung" steht; eine unwiderlegliche Vermutung oder eine starre Beweisregel, die eine richterliche Überzeugungsbildung nach den zu § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entwickelten Grundsätzen ausschließt, enthält diese Vermutung nicht (BVerwG, Beschl. v. 10.03.2021 - 1 B 2.21 -, juris). [...]
(1) Die Annahme einer bei der Ausreise unmittelbar drohenden Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG kann nur dann in Betracht kommen, wenn sich ein im militärdienstpflichtigen Alter befindlicher Mann aus Sicht des syrischen Staates bereits vor dem Moment seiner Ausreise erkennbar dem Militärdienst entzogen hatte und er gerade aus diesem Grund der beachtlich wahrscheinlichen Gefahr unterlag, Verfolgungsmaßnahmen der Sicherheitskräfte erleiden zu müssen. Von vornherein ausscheiden muss eine Vorverfolgung daher in den Fällen, in welchen der Ausländer zum Zeitpunkt seiner Ausreise aus Syrien noch nicht oder nicht mehr militärdienstpflichtig gewesen ist oder noch von der Ableistung des Wehrdienstes befreit war. Aber auch in den Fällen, in welchen der Ausländer vor seiner Ausreise aus Syrien militärdienstpflichtig gewesen ist, kann nicht ohne Weiteres eine unmittelbar drohende Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes angenommen werden. Wie der eindeutige Wortlaut des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG (bzw. des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e QRL) zeigt, vermag eine (unmittelbar) drohende Einziehung zum Wehrdienst bzw. Reservedienst für sich genommen noch nicht den Tatbestand des dort normierten Regelbeispiels einer Verfolgungshandlung auszulösen. Vielmehr ist erst eine drohende Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes tatbestandsauslösend, was voraussetzt, dass der Betroffene aus Sicht des syrischen Staates schon vor der Ausreise in irgendeiner Form als Wehrdienstentzieher angesehen werden konnte. Für den Fall, dass sich ein militärdienstpflichtiger Mann erst durch seine Ausreise dem Wehrdienst entzieht, es aber keinerlei Hinweise dafür gibt, dass er bereits zuvor von den syrischen Behörden als Wehrdienstentzieher hätte angesehen werden können, muss die Annahme einer unmittelbar drohenden Vorverfolgung im Hinblick auf § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG daher ausscheiden (so auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 22.3.2021 - 14 A 3439/18.A -, juris Rn. 35 ff.; vgl. auch VGH Baden-Württemberg., Urt. v. 04.05.2021 - A 4 S 468/21 -, juris Rn. 37; a.A. OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 29.01.2021 - 3 B 109.18 -, juris Rn. 22, 51). [...]
bb) Auch eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung infolge der einfachen Wehrdienstentziehung des Klägers durch Verlassen des Landes ist zur Überzeugung des Senats im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beachtlich wahrscheinlich. Insoweit kann auch dahinstehen, ob im gegenwärtigen Zeitpunkt noch von einem Konflikt mit menschenrechtswidrigen Verbrechen im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ausgegangen werden muss (dies mit ausführlicher Begründung verneinend: OVG Niedersachsen Urt. v. 22.04.2021 - 2 LB 147/18-, juris Rn. 78-82; a.A. OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 28.05.2021 - OVG 3 8 42.18 -, juris Rn. 19).
Insbesondere kann die notwendige Verknüpfung (§ 3a Abs. 3 AsylG) einer eventuell drohenden Verfolgungshandlung mit einem Verfolgungsgrund nicht festgestellt werden. Insoweit schließt sich der Senat nach eigener Prüfung vollumfänglich den überzeugenden Ausführungen des 4. Senats des VGH Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 04.05.2021 (VGH Bad.-Württ. - A 4 S 468/21 -, juris), des OVG Nordrhein-Westfalen (Urt. v. 22.03.2021 - 14 A 3439/18.A -, juris) und des OVG Sachsen-Anhalt (Urt. v. 01.07.2021 - 3 L 154/18 -, juris) an. Danach kann einer Person aus der Gruppe der einfachen Militärdienstentzieher aus Syrien die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG weiterhin nur dann zuerkannt werden, wenn in einer Einzelfallprüfung, gestützt auf entsprechende Erkenntnisquellen, eine Verfolgung aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe feststellbar ist. Dazu bedarf es bei einer solchen Person besonderer, individuell gefahrerhöhender Umstände. Eine solche Einzelfallprüfung hinsichtlich besonderer, individuell gefahrerhöhender Umstände ist angezeigt, weil in Syrien derzeit keine flächendeckende oder systematische Verfolgung einfacher Militärdienstentzieher feststellbar ist. Obwohl nach den Zahlen des UNHCR zwischen den Jahren 2016-2021 bereits mehr als 280.000 Flüchtlinge selbstorganisiert nach Syrien zurückgekehrt sind (https://data2.unhcr.org/en/situations/syria_durable_solutions, Zahlen vom 31.05.2021 ), sind dem Senat keine Erkenntnismittel bekannt, die überhaupt von solchen Verfolgungen oder davon berichteten, dass jeder Militärdienstentzieher aktuell vom syrischen Regime als politisch Oppositioneller angesehen und deshalb verfolgt und bestraft wird. Auch aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 04.12.2020 {Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien v. 04.12.2020, S. 14) ergibt sich hierzu lediglich, dass rückkehrende Wehrpflichtige zum Militärdienst eingezogen werden und Haftstrafen für Personen, die sich der konkreten Einberufung entzogen haben oder desertiert sind, drohen. Nichts Anderes folgt aus dem Bericht des UNHCR vom 01.03.2021 (International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic - Update VI, S. 124 ff.). Überdies fehlt es für die Annahme eines systematischen Einsatzes von Wehrdienstentziehern im Sinne einer Bestrafung mit Politmalus durch "Frontbewährung", die den Tatbestand des§ 3a Abs. 2 Nr. 1 und 3 AsylG erfüllen kann, an hinreichenden Belegen. Vielmehr besteht grundsätzlich für alle Rekruten die potenzielle Gefahr, dass sie für den Kampf an der Front eingesetzt werden (so auch OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 01.07.2021 - 3 L 154/18 -, juris Rn. 95; vgl. auch UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic - Update VI vom 01.03.2021, S. 127). Auf dieser Tatsachengrundlage greift demnach die vom EuGH formulierte "starke Vermutung", dass die Verweigerung des Militärdienstes unter bestimmten Bedingungen mit einem Verfolgungsgrund in Zusammenhang steht und deshalb als oppositioneller Akt angesehen wird, schon deshalb nicht, weil - ungeachtet des Charakters des Konflikts - bereits eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG durch Strafverfolgung oder Bestrafung nicht beachtlich wahrscheinlich ist. [...]