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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 27.04.2021 - 1 C 2.21 (Asylmagazin 9/2021, S. 330 ff.) - asyl.net: M29730
https://www.asyl.net/rsdb/m29730
Leitsatz:

Zum Verlust des Schutzes des UNRWA bei "freiwilliger Ausreise" in anderes Einsatzgebiet:

"1. Einem Staatenlosen palästinensischer Herkunft wird im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG Schutz oder Beistand im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG nicht länger gewährt, wenn sich auf der Grundlage einer individuellen Beurteilung aller maßgeblichen Umstände herausstellt, dass er sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es dem UNRWA, um dessen Beistand er ersucht hat, unmöglich ist, ihm Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der Aufgabe des UNRWA im Einklang stehen, so dass er sich aufgrund von Umständen, die von seinem Willen unabhängig sind, dazu gezwungen sieht, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen.

2. Bei der Beurteilung der Frage, ob das Verlassen des Einsatzgebiets des UNRWA unfreiwillig erfolgt ist, ist in räumlicher Hinsicht auf das gesamte - die fünf Operationsgebiete Gazastreifen, Westjordanland (einschließlich Ost-Jerusalem), Jordanien, Libanon und Syrien umfassende - Einsatzgebiet des UNRWA abzustellen.

3. Einem freiwilligen Verzicht auf den von dem UNRWA gewährten Beistand kommt die Entscheidung eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft gleich, ein Operationsgebiet des UNRWA, in dem er sich nicht in einer sehr unsicheren Lage befindet und in dem er den Schutz oder Beistand des Hilfswerks in Anspruch nehmen könnte, zu verlassen, um sich in ein anderes Operationsgebiet des Einsatzgebiets zu begeben, in dem er auf der Grundlage konkreter Informationen, über die er hinsichtlich dieses Operationsgebiets verfügt, vernünftigerweise weder damit rechnen kann, durch das UNRWA Schutz oder Beistand zu erfahren, noch in absehbarer Zeit in das Operationsgebiet, aus dem er ausgereist ist, zurückkehren zu können.

4. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf der Grundlage von § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG setzt - jedenfalls nach nationalem Asylverfahrensrecht - voraus, dass es dem Betroffenen auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung nicht möglich oder zumutbar ist, sich dem Schutz oder Beistand des UNRWA durch Rückkehr in eines der fünf Operationsgebiete des Einsatzgebiets dieser Organisation erneut zu unterstellen."

(Amtliche Leitsätze; unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 13.01.2021 - C-507/19 Deutschland gg. XT - asyl.net: M29216 und Urteil vom 19.12.2012 - C-364/11 (= Asylmagazin 4/2013, S. 122 ff.) - asyl.net: M20496)

Schlagwörter: Palästinenser, UNRWA, ipso facto-Flüchtling, Syrien, Libanon, Gaza-Streifen, Westjordanland, Jordanien, Operationsgebiet, Einsatzgebiet, Schutz und Beistand einer Institution der Vereinten Nationen, Operationsgebiete,
Normen: RL 2011/95/EU Art. 12 Abs. 1 Bst. a S. 2, RL 2011/95/EU Art. 12 Abs. 1 Bst. a S. 1,
Auszüge:

[...]

12 1. Nach § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Art. 1 Abschn. D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (im Folgenden: GK) genießt. Wird ein solcher Schutz oder Beistand nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, ist § 3 Abs. 1 und 2 AsylG gemäß § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG anwendbar. [..]

13 2. Im Einklang mit § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG hat das Oberverwaltungsgericht angenommen, dass der Kläger die Voraussetzungen der Ausschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG erfüllt. Er genoss Schutz und Beistand des UNRWA. [...]

16 3. Bundesrecht verletzt der die angegriffene Entscheidung tragende Rechtssatz des Oberverwaltungsgerichts, staatenlose Palästinenser aus Syrien, die von dem UNRWA als Flüchtlinge registriert seien, seien schon dann als Flüchtlinge nach § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG anzuerkennen, wenn sie Syrien infolge des Bürgerkriegsgeschehens verlassen mussten und ihnen im Zeitpunkt ihrer Ausreise keine Möglichkeit offenstand, in anderen Teilen des Mandatsgebiets des UNRWA Schutz zu finden (UA S. 5 f.). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 -) kann der Feststellung eines unfreiwilligen Verlassens des Einsatzgebiets auch eine kurz vor dem endgültigen Verlassen dieses Gebiets erfolgte Aufenthaltsverlagerung von einem Operationsgebiet in ein anderes entgegenstehen, wenn und soweit dies als freiwillige Aufgabe des bislang durch den UNRWA gewährten Schutzes oder Beistands zu werten ist (3.1). Zudem genügt - jedenfalls nach nationalem Asylverfahrensrecht - für die Erfüllung der Voraussetzungen der Einschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG nicht bereits der Umstand, dass dem Betroffenen im Zeitpunkt des Verlassens des Einsatzgebiets keine zumutbare Möglichkeit offenstand, im Einsatzgebiet des UNRWA Schutz oder Beistand zu finden; vielmehr darf eine Möglichkeit, sich dem Schutz oder Beistand des UNRWA durch Rückkehr in dessen Einsatzgebiet erneut zu unterstellen, auch im Zeitpunkt der Entscheidung (vgl. § 77 AsylG) nicht bestehen (3.2).

17 3.1 Einem Staatenlosen palästinensischer Herkunft wird im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG Schutz oder Beistand im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG nicht länger gewährt, wenn sich auf der Grundlage einer individuellen Beurteilung aller maßgeblichen Umstände herausstellt, dass er sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es dem UNRWA, um dessen Beistand er ersucht hat, unmöglich ist, ihm Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der Aufgabe des UNRWA im Einklang stehen, sodass er sich aufgrund von Umständen, die von seinem Willen unabhängig sind, dazu gezwungen sieht, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen.

18 a) Die Feststellung eines Schutzwegfalls im Sinne von § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG setzt voraus, dass sich der Staatenlose bei Verlassen des Einsatzgebiets in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es dem UNRWA unmöglich ist, ihm Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der Aufgabe des UNRWA in Einklang stehen. [...]

19 b) Bei der Beurteilung der Frage, ob das Verlassen in diesem Sinne unfreiwillig erfolgt ist, ist in räumlicher Hinsicht auf das gesamte - die fünf Operationsgebiete Gazastreifen, Westjordanland (einschließlich Ost-Jerusalem), Jordanien, Libanon und Syrien umfassende - Einsatzgebiet des UNRWA abzustellen. Dies hat der Gerichtshof durch seine im vorliegenden Verfahren ergangene Vorabentscheidung geklärt (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 - Rn. 47, 53 f., 64-67). [...]

20 Ob ein Staatenloser palästinensischer Herkunft Zugang zu Schutz oder Beistand des UNRWA hat, hängt zum einen von der konkreten Möglichkeit dieses Staatenlosen ab, in ein Operationsgebiet des UNRWA einzureisen. [...]

21 Zum anderen muss es dem Staatenlosen möglich sein, sich in dem betreffenden Gebiet in Sicherheit und unter menschenwürdigen Lebensbedingungen aufzuhalten (vgl. EuGH, Urteile vom 25. Juli 2018 - C-585/16 - Rn. 134, 140 und vom 13. Januar 2021 - C-507/19 - Rn. 54 ff., 67; BVerwG, Urteil vom 25. April 2019 - 1 C 28.18 [ECLI:DE:BVerwG:2019:250419U1C28.18.0] - Buchholz 402.251 § 29 AsylG Nr. 7 Rn. 28).

22 c) Für die Freiwilligkeit des Verlassens ist nicht allein auf die Umstände im Operationsgebiet des letzten Aufenthalts abzustellen. Das Verlassen des Einsatzgebiets erfolgt auch dann nicht unfreiwillig, wenn sich der Betroffene durch eine kurz zuvor erfolgte Verlagerung seines Aufenthalts von einem Operationsgebiet in ein anderes der Sache nach freiwillig und vorhersehbar des Schutzes und Beistands durch das UNRWA begeben hat. Diesen - erst durch die Vorabentscheidung des Gerichtshofs geklärten - Gesichtspunkt hat das Berufungsgericht unter Verletzung von Bundesrecht nicht berücksichtigt und folgerichtig nicht die zur Beurteilung erforderlichen tatsächlichen Feststellungen getroffen.

23 Einem freiwilligen Verzicht auf den von dem UNRWA gewährten Beistand kommt die Entscheidung eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft gleich, ein Operationsgebiet des UNRWA, in dem er sich nicht in einer sehr unsicheren Lage befindet und in dem er den Schutz oder Beistand des Hilfswerks in Anspruch nehmen könnte, zu verlassen, um sich in ein anderes Operationsgebiet des Einsatzgebiets zu begeben, in dem er auf der Grundlage konkreter Informationen, über die er hinsichtlich dieses Operationsgebiets verfügt, vernünftigerweise weder damit rechnen kann, durch das UNRWA Schutz oder Beistand zu erfahren, noch in absehbarer Zeit in das Operationsgebiet, aus dem er ausgereist ist, zurückkehren zu können. Eine solche freiwillige Ausreise aus dem ersten Operationsgebiet in das zweite Operationsgebiet lässt nicht die Annahme zu, dass dieser Staatenlose, wenn er später das zweite Operationsgebiet verlässt, um in das Unionsgebiet einzureisen, gezwungen war, das gesamte Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen (EuGH, Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 - Rn. 74). Über das Vorliegen der vorstehenden Voraussetzungen ist im Rahmen einer individuellen Beurteilung sämtlicher maßgeblicher Umstände des Einzelfalles zu befinden. Zu Letzteren zählen insbesondere in objektiver Hinsicht die schutzund abschiebungsrelevante Lage in dem ersten wie auch in dem zweiten Operationsgebiet und in subjektiver Hinsicht die positive Kenntnis oder das Kennenmüssen von der schutz- und abschiebungsrelevanten Lage in dem zweiten Operationsgebiet (EuGH, Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 - Rn. 76 ff.).

24 3.2 Zusätzlich setzt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf der Grundlage von § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG - jedenfalls nach nationalem Asylverfahrensrecht - voraus, dass es dem Betroffenen auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung nicht möglich oder zumutbar ist, sich dem Schutz oder Beistand des UNRWA durch Rückkehr in eines der fünf Operationsgebiete des Einsatzgebiets dieser Organisation erneut zu unterstellen. Die Einbeziehung des in § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG bezeichneten Zeitpunkts trägt dem Umstand Rechnung, dass die Flüchtlingseigenschaft des Betroffenen nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. f i.V.m. Art. 14 Abs. 1 RL 2011/95/EU erlischt und abzuerkennen ist, wenn dieser - nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist, - in der Lage ist, in das Einsatzgebiet des UNRWA zurückzukehren (EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2012 - C-364/11 - Rn. 77).

25 Diese Regelungen sind in der vorliegenden Fallkonstellation zwar nicht unmittelbar anwendbar, da sie eine bereits erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft voraussetzen (siehe auch EuGH, Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 - Rn. 42). Es machte aber keinen Sinn, den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, um ihn sogleich wieder abzuerkennen (EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2012 - C-364/11 - Rn. 77; Kraft, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, Second Edition 2016, Part D III, Art. 12 Rn. 24). Dies spricht dafür, dem Betroffenen nachteilige Veränderungen der tatsächlichen Voraussetzungen der ipso facto-Flüchtlingseigenschaft, die zwischen dem Verlassen des Einsatzgebiets und dem Zeitpunkt der Entscheidung eintreten, in Anwendung der allgemeinen Regelung des § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG bereits bei der Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu berücksichtigen (so bereits BVerwG, Urteil vom 25. April 2019 - 1 C 28.18 - Buchholz 402.251 § 29 AsylG Nr. 7 Rn. 26).

26 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist dies auch unionsrechtlich jedenfalls zulässig. Denn Art. 46 Abs. 3 RL 2013/32/EU eröffnet dem nationalen Gericht zumindest die Befugnis, die - wiederhergestellte - Möglichkeit, Schutz oder Beistand vom UNRWA gewährt zu bekommen, bereits im Rahmen der dort erwähnten umfassenden ex-nunc-Prüfung zum Zeitpunkt des Erlasses einer Entscheidung über die Zuerkennung dieser Eigenschaft zu beurteilen (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 - Rn. 40, 42 und 65). Ob dies unionsrechtlich auch geboten ist, bedarf hier keiner Entscheidung. Die Prüfung der Frage, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 RL 2011/95/EU auch in dem Zeitpunkt der gerichtlichen (oder behördlichen) Entscheidung ausgeschlossen ist, ist dabei nach denselben Kriterien vorzunehmen wie die auf den Verlassenszeitpunkt bezogene Prüfung (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 - Rn. 66). [...]