Keine Flüchtlingsanerkennung für syrische Männer allein wegen Militärdienstentziehung:
"1. Eine unmittelbar drohende Einziehung zum Militär(Reserve-)Dienst erfüllt für sich genommen auch unter Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 (- C-238/19 -, juris [asyl.net: M29016]) noch nicht den Tatbestand des Regelbeispiels des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG/Art. 9 Abs. 2 lit. e RL 2011/95/EU. Vielmehr kann erst eine unmittelbar drohende Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung begründen.
2. Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit aus den Gründen des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG folgt für syrische Asylkläger ohne besondere risikoerhöhende individuelle Umstände auch weiterhin nicht aus einer (illegalen) Ausreise, einer Asylantragstellung und einem längeren Aufenthalt im westlichen Ausland, der Herkunft aus einem (ehemals) von der Opposition beherrschten Gebiet oder der kurdischen Volkszugehörigkeit. Gleiches gilt für Militärdienstentziehung; es fehlt insoweit an der gemäß § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und einem Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG (Fortführung der ständigen Senatsrechtsprechung).
3. Das Tatbestandsmerkmal des Regelbeispiels des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG, dass der Militärdienst in einem Konflikt Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, ist auch unter Berücksichtigung des genannten Urteils des Europäischen Gerichtshofs zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Fall des Militärdienstes in der syrischen Armee nicht als erfüllt anzusehen. Zudem fehlt es an der auch insoweit erforderlichen Verknüpfung der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Verweigerung des Militärdienstes mit einem Verfolgungsgrund."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
33 Die Annahme einer bei der Ausreise unmittelbar drohenden Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG kann nur dann in Betracht kommen, wenn sich ein im militärdienstpflichtigen Alter befindlicher Mann aus Sicht des syrischen Staates bereits vor dem Moment seiner Ausreise erkennbar dem Militärdienst entzogen hatte und er gerade aus diesem Grund der beachtlich wahrscheinlichen Gefahr unterlag, Verfolgungsmaßnahmen der Sicherheitskräfte erleiden zu müssen.
34 Von vornherein ausscheiden muss eine Vorverfolgung daher in den Fällen, in welchen der Ausländer zum Zeitpunkt seiner Ausreise aus Syrien noch nicht militärdienstpflichtig gewesen ist oder noch von der Ableistung des Wehrdienstes befreit war. Selbiges gilt, wenn er vor der Ausreise seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem nicht unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehenden Landesteil hatte und daher eine Strafverfolgung oder Bestrafung von Seiten der syrischen Sicherheitskräfte mangels Unterworfenseins unter eine effektive Herrschaftsgewalt des syrischen Regimes nicht zu befürchten war.
35 Aber auch in den Fällen, in welchen der Ausländer vor seiner Ausreise aus Syrien bereits militärdienstpflichtig gewesen ist und er sich im Herrschaftsbereich des syrischen Regimes aufgehalten hat, kann nicht ohne Weiteres eine unmittelbar drohende Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes angenommen werden. Wie der eindeutige Wortlaut des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG (bzw. des Art. 9 Abs. 2 lit. e RL 2011/95/EU) zeigt, vermag eine (unmittelbar) drohende Einziehung zum Wehrdienst bzw. Reservedienst für sich genommen noch nicht den Tatbestand des dort normierten Regelbeispiels einer Verfolgungshandlung auszulösen. Vielmehr ist erst eine drohende Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes tatbestandsauslösend, was voraussetzt, dass der Betroffene aus Sicht des syrischen Staates schon vor der Ausreise in irgendeiner Form als Wehrdienstentzieher angesehen werden konnte. In dem Regelfall, in welchen sich ein militärdienstpflichtiger Mann erst durch seine Ausreise dem Wehrdienst entzieht, es aber keinerlei Hinweise dafür gibt, dass er bereits zuvor von den syrischen Behörden als Wehrdienstentzieher hätte angesehen werden können, muss die Annahme einer unmittelbar drohenden Vorverfolgung im Hinblick auf § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG daher ausscheiden (so auch OVG NRW, Urt. v. 22.3.2021 - 14 A 3439/18.A -, juris Rn. 35 ff.; a.A., allerdings ohne die gebotene Differenzierung zwischen einer drohenden Wehrdiensteinziehung und einer drohenden Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes OVG Berl.-Bbg., Urt. v. 29.1.2021 - 3 B 109.18 -, juris Rn. 22, 51). [...]
48 b) Wehrdienstentziehung führt ebenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Verfolgung aus politischen Gründen (vgl. bereits Senatsbeschl. v. 5.12.2018 - 2 LB 570/18 -, juris Rn. 32 ff.).
49 aa) Mit der syrischen Praxis der Rekrutierung hat sich der Senat in seinem Urteil vom 27. Juni 2017 (- 2 LB 91/17 -, juris Rn. 73 ff.) ausführlich befasst:
50 "In Syrien besteht grundsätzlich für alle syrischen Männer Militärdienstpflicht. Die Registrierung erfolgt im Alter von 18 Jahren. Es werden zwischenzeitlich aber auch jüngere eingezogen (SFH v. 23.3.2017, Dt. Botschaft Beirut, Auskunft v. 3.2.2016). Die Wehrpflicht dauerte in der Vergangenheit bis zum Alter von 42 Jahren. Auch diese Altersgrenze wird mittlerweile überschritten (Finnish Immigration Service v. 23.8.2016, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition). Gediente Wehrpflichtige müssen nach Beendigung des Wehrdienstes als Reservisten mit ihrer Einberufung rechnen (AA v. 2.1.2017 an VG Düsseldorf, 508-9-516.80/48808), und zwar unter Umständen im Alter bis zu 50 oder 60 Jahren (SFH v. 23.3.2017). Es besteht keine Möglichkeit, den Wehrdienst zu verweigern bzw. zivilen Ersatzdienst zu leisten (UNHCR 4/2017, AA v. 2.1.2017 an VG Düsseldorf 508-9-516.80/48808, SFH v. 30.7.2014). Entlassungen aus dem Militärdienst sind eher zur Ausnahme geworden; viele Wehrpflichtige sind über Jahre hinweg in der Armee tätig und oftmals wäre Desertion die einzige Möglichkeit, den Militärdienst zu beenden (SFH v. 28.3.2015, Finnish Immigration Service v. 23.8.2016).
51 Jegliche Arten einer Wehrdienstentziehung stehen unter Strafandrohung. Entziehung durch Verlassen des Wohnortes ohne Angabe der Adresse führt zur Geldbuße oder drei Monaten bis zwei Jahren Haft. Bei Wehrdienstentziehung in Friedenszeiten droht Haft zwischen ein und sechs Monaten, in Kriegszeiten bis zu fünf Jahren. Für Desertion drohen fünf Jahre Haft. Wer als Deserteur das Land verlässt, muss mit Haft zwischen fünf und zehn Jahren rechnen. Wer im Angesicht des Feindes desertiert/zum Feind überläuft, dem droht die Todesstrafe (AA v. 2.1.2017 an VG Düsseldorf, 508-9-516.80/48808).
52 Zudem ist die Ausreisemöglichkeit von Wehrdienstpflichtigen eingeschränkt. Bereits seit Ausbruch des Krieges verlangen syrische Behörden bei einer Ausreise von Männern im Alter zwischen 18 und 42 Jahren eine Bewilligung der Armee. Seit Oktober 2014 besteht darüber hinaus für zwischen 1985 und 1991 geborene Männer ein generelles Ausreiseverbot (SFH v. 23.3.2017).
53 Seit Herbst 2014 hat das syrische Regime die Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten und die Suche nach Wehrdienstentziehern und Deserteuren intensiviert und dieses Vorgehen seit Januar 2016 nochmals gesteigert. Es erfolgen örtliche Generalmobilmachungen und intensive Razzien im öffentlichen und privaten Bereich. An den Checkpoints der syrischen Armee gibt es Listen mit Namen von einzuziehenden Reservisten/erstmals wehrdienstpflichtiger junger Männer, die bei Aufgreifen verhaftet werden (SFH v. 23.3.2017, v. 28.3.2015, Mobilisierung in die syrische Armee)."
54 Diese Feststellungen des Senats gelten fort. [...]
56 bb) Entzieht sich ein Wehrpflichtiger - unabhängig davon, ob er als Rekrut oder Reservist herangezogen wird - dem Wehrdienst, droht ihm die Festnahme bei der Einreisekontrolle an der Grenze oder am Flughafen, an einem Checkpoint, bei einer Razzia oder bei jedem sonstigen Kontakt mit den staatlichen Sicherheitsbehörden. Der Festnahme folgt in der Praxis jedoch regelmäßig nicht die gesetzlich angedrohte strafrechtliche Sanktion; ein Wehrstrafprozess findet in der Regel nicht statt (für Personen im Ausland anders, aber lediglich auf einer einzigen Quelle beruhend nur SFH, Syrien: Vorgehen der syrischen Armee bei der Rekrutierung v. 18.1.2018, S. 7). Wehrdienstentzieher werden nach weitgehend übereinstimmender Quellenlage vielmehr unverzüglich eingezogen und müssen damit rechnen, nach gegebenenfalls nur minimaler Ausbildung unverzüglich zum Einsatz, auch an vorderster Front, zu gelangen (UNHCR v. 7.5.2020, S. 9; UNHCR, November 2017, S. 40; DIS, Mai 2020, S. 31; DIS, Februar 2019, S. 17; EASO, März 2020, S. 37; Landinfo v. 3.1.2018, S. 8). Insbesondere die zahlreichen vom Danish Immigration Service befragten Quellen gehen nahezu einhellig davon aus, dass Wehrdienstentziehern üblicherweise die sofortige Einziehung zum Wehrdienst droht (DIS, August 2017, insbes. S. 39, 45, 55, 68, 74, 81, 86, 103; ebenso DIS, Februar 2019, S. 35). In manchen nicht näher quantifizierbaren Fällen erfolgt zuvor eine Inhaftierung für einen begrenzten Zeitraum (vgl. Quellen des DIS, August 2017, S. 39, 61, 74, 103; DIS, Mai 2020, S. 31; Landinfo v. 3.1.2018, S. 8). Bei Verhören und in Haft kommt es - wie in Syrien durchaus üblich - in nicht quantifizierbarem Umfang zu Misshandlungen, Folter und Verschwindenlassen (UNHCR, November 2017, S. 41; UNHCR v. 7.5.2020, S. 22 mit Fn. 89; Landinfo v. 3.1.2018, S. 8; SFH, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion v. 23.3.17, S. 10; SFH v. 18.1.2018, S. 7; BFA, August 2017, S. 20). Die Entscheidung darüber, ob der Betreffende inhaftiert und misshandelt wird, erfolgt offenbar willkürlich und vor Ort (Landinfo v. 3.1.2018, S. 8). [...]
59 Die dem Senat zugänglichen Quellen lassen auch im Licht der abweichenden Rechtsprechung nur noch einzelner Obergerichte (vgl. mittlerweile nur noch HessVGH, Urt. v. 26.7.2018 - 3 A 403/18.A -, juris Rn. 14 ff.; ThürOVG, Urt. v. 15.6.2018 - 3 KO 155/18 -, juris Rn. 69 ff.; zur im Hinblick auf § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ergangenen Entscheidung d. OVG Berl.-Bbg., Urt. v. 29.1.2021 - 3 B 109.18 -, juris Rn. 22 ff., siehe weiter unten) nicht den Schluss zu, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer solchen Verknüpfung auszugehen ist [...].
60 Die Aussage, dass das syrische Regime eine Wehrdienstentziehung wahrscheinlich als eine politische, gegen die Regierung gerichtete Handlung betrachtet, findet sich in erster Linie noch in den Hinweisen des UNHCR. Aus den aktuellen Herkunftslandinformationen zu Syrien ergibt sich, dass nach Auffassung des UNHCR Wehrdienstentziehung besonders dann als oppositioneller Akt angesehen werde, wenn weitere Umstände wie die Teilnahme an Demonstrationen, die Kundgabe regierungsfeindlicher Äußerungen, die Herkunft aus einem Oppositionsgebiet, familiäre Beziehung zur Opposition oder die Flucht in das Ausland hinzukämen (UNHCR v. 7.5.2020, S. 8 ff.; ähnlich schon UNHCR, November 2017, S. 39 ff.; UNHCR, April 2017, S. 23). Weiterhin fehlen aber objektivierbare Belege für diese Auffassung. Die in dem jüngsten Bericht vom 7. Mai 2020 zitierten Quellen (dort Fn. 33) lassen nicht genau erkennen, worauf sie ihre Auffassung stützen. Zudem ist den Quellen gerade zu entnehmen, dass nicht jeder Wehrdienstentzieher als oppositionell betrachtet wird, sondern es maßgeblich darauf ankommt, ob eine Person bereits aufgrund anderweitiger Umstände als oppositionell wahrgenommen wird. Ungeachtet der bei dem UNHCR zweifellos vorhandenen Expertise bei der Beurteilung flüchtlingsrechtlicher Fragestellungen rechtfertigen es die Darstellungen des UNHCR daher nicht, (allein) daraus die gemäß § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund abzuleiten. [...]
61 Gegen eine pauschale Einstufung als oppositionell spricht erstens der Vergleich der Behandlung, die Wehrdienstentzieher in Syrien erfahren, mit der Behandlung, die Personen droht, die sich tatsächlich politisch gegen das Regime betätigt haben bzw. vom Regime derartiger Betätigungen bezichtigt werden. Politisch oppositionelle Personen werden nach allen verfügbaren Quellen mit aller Konsequenz und extremer Härte verfolgt. Ihnen drohen regelhaft und nicht nur in bestimmten Fällen Haft, Folter, Misshandlung, Verschwindenlassen und der Tod (vgl. statt vieler AA v. 4.12.2020, S. 12; AI, "It breaks the Human", Torture, Disease and Death in Syria’s Prisons, August 2016, S. 17 ff.; UNHCR, November 2017, S. 35 ff.; ebenso UNHCR, April 2017, S. 7 ff.; EASO, März 2020, S. 13 ff.). Bei Wehrdienstentziehern ist die Situation nach allen Berichten anders. Wie ausgeführt stehen hier Fälle, in denen Wehrdienstentzieher ohne ernstliche weitere Konsequenzen den Streitkräften zugeführt werden, neben anderen Fällen, in denen die Betreffenden inhaftiert werden und wiederum anderen Fällen, in denen es zu Misshandlungen, Folter und Verschwindenlassen kommt. Den weitaus überwiegenden Berichten zufolge ist die unmittelbare Einziehung ohne weitere Konsequenzen sogar die Regel (EASO, März 2020, S. 37; DIS, Mai 2020, S. 31; DIS, Februar 2019, S. 17; DIS, August 2017, S. 13; Landinfo v. 3.1.2018, S. 8; vgl. auch UNHCR v. 7.5.2020, S. 9 f.; UNHCR, November 2017, S. 40). Das gilt auch für Rückkehrer (AA v. 4.12.2020, S. 30). Wehrdienstentzieher haben mithin nicht stets dieselben Konsequenzen zu befürchten, die Oppositionelle zu erwarten haben. Die Verfolgungsdichte ist geringer. Das zeigt, dass das syrische Regime zwischen Oppositionellen und Wehrdienstentziehern differenziert und diese gerade nicht gleichsetzt.
62 Gegen die Annahme, Wehrdienstentzieher stünden unter dem Generalverdacht einer oppositionellen Haltung, spricht zweitens die bereits eingangs behandelte Möglichkeit der Befreiung vom Wehrdienst durch Zahlung eines Wehrersatzgeldes für im Ausland lebende Syrer, die nach fast allen hierzu vorliegenden aktuellen Berichten in der Praxis auch tatsächlich umgesetzt wird (vgl. ausführlich DIS, Mai 2020, S. 25 ff.; DIS, Oktober 2019, S. 9; DIS, Februar 2019, S. 28 f..; FIS, 14.12.2018, S. 12). Dies gilt umso mehr, als die syrische Regierung den Prozess der Erlangung einer Befreiung vom Wehrdienst durch Zahlung eines Wehrersatzgeldes vereinfacht hat, da sie dringend auf die Erlangung ausländischer Devisen angewiesen ist (vgl. DIS, Mai 2020, S. 25, m.w.N. in Fn. 156; DIS, Oktober 2019, S. 9; siehe auch FIS, 14.12.2018, S. 12). Dass das syrische Regime die Möglichkeit zum Freikauf vom Wehrdienst durch Zahlung eines Geldbetrages auch tatsächlich respektiert und die entsprechenden Personen nach einer Rückkehr nicht mehr zum Wehrdienst einzieht, liegt daher in seinem eigenen Interesse, da anderenfalls eine abschreckende Wirkung auf weitere im Ausland befindliche potentielle Interessenten zu erwarten wäre. [...]
63 In Rechnung zu stellen sind des Weiteren die vom Regime erlassenen Amnestien, die auch für Wehrdienstentzieher eine Straffreiheit vorsehen. Das am 9. Oktober 2018 verkündete Dekret Nr. 18/2018 sah eine generelle Amnestie für diejenigen Wehrdienstentzieher vor, die sich binnen vier bzw. - bei einem Aufenthalt im Ausland - binnen sechs Monaten stellen (vgl. dazu DIS, Februar 2019, S. 29 ff.). Dieses Dekret schließt Personen mit oppositioneller Haltung, die gegen das Regime gekämpft oder sich den Rebellen angeschlossen haben, ausdrücklich aus (vgl. Al Jazeera, Syria's Assad offers amnesty to army deserters, 9.10.2018; ebenso die vom DIS, Februar 2019, S. 48, zitierte Quelle). [...]
64 Die Behandlung, die Wehrdienstentzieher erfahren, entspricht im Ergebnis der Behandlung, die allen Personen droht, die in engeren Kontakt mit den Sicherheitsbehörden kommen und von diesen festgehalten werden. Wie insbesondere die Berichte des Auswärtigen Amts (AA v. 4.12.2020, S. 18 ff., AA v. 20.11.2019, S. 14 f.), die Schilderungen von Amnesty International (AI, Human Slaughterhouse, Mass Hangings and Extermination at Saydnaya Prison, Syria, Februar 2017, S. 11 ff.; August 2016, S. 17 ff.) und ein Bericht des Finnish Immigration Service (14.12.2018, S. 39 ff.) belegen, gehören willkürliche Übergriffe, Inhaftierungen, Misshandlungen, Folter, Verschwindenlassen und Tötungen im Gewahrsam seit vielen Jahren zu den ständigen Praktiken der Sicherheitsdienste. Sie sind weit verbreitet und systemisch angelegt, geschehen in einem Klima der Straflosigkeit und treffen nicht bloß missliebige Aktivisten und als nicht ausreichend regimetreu wahrgenommene Personen, sondern können sich - einem Willkürstaat entsprechend und zur Unterdrückung und Einschüchterung der Bevölkerung nach der entsprechenden Staatslogik durchaus zielführend - gegen jedermann richten (BFA v. 25.1.2018, S. 34, AI, August 2016, S. 16 f.). [...]
65 Nahe liegt die pauschale Unterstellung eines politischen Motivs für Wehrdienstentzieher auch deshalb nicht, weil ein solches Motiv nach den Erkenntnissen des Senats offenkundig nicht der Realität entspricht. Bei jungen Männern wird das Ziel, sich der Wehrpflicht zu entziehen, als der Hauptgrund zum Verlassen des Landes angesehen (Landinfo v. 3.1.2018, S. 7, siehe auch EASO, März 2020, S. 31). Das deckt sich mit dem - freilich nicht repräsentativen - Eindruck, den der Senat aufgrund der Durchsicht von mehr als 1.000 Verfahrensakten gewonnen hat. Wie für die Gesamtheit der Flüchtlinge (vgl. Senatsurt. v. 27.6.2017 - 2 LB 91/17 -, juris Rn. 56; VGH BW, Urt. v. 9.8.2017 - A 11 S 710/17 -, juris Rn. 47), so gilt auch hier, dass die Annahme, es handele sich hier durchweg um Oppositionelle, offensichtlich realitätsfern ist (vgl. VGH BW, Urt. v. 23.10.2018 - A 3 S 791/18 -, juris Rn. 40). Die generell gefährliche Lage in Syrien, die Gefahren des Militärdienstes im Besonderen, die generell schlechten Lebensverhältnisse und die mangelnden Perspektiven sind für wehrpflichtige junge Männer - für jeden und auch das Regime offensichtlich - ausreichende Gründe, um das Land zu verlassen. Der Senat hält es daher weiterhin von Rechts wegen nicht für zulässig, dem syrischen Staat in diesem Punkt ohne belastbare Belege eine gänzliche Verkennung der Realitäten zu unterstellen und diese ungesicherte Hypothese zur Grundlage der rechtlichen Bewertung zu machen. Auch die Argumentation, das syrische Regime unterstelle deshalb jedem Wehrdienstentzieher eine oppositionelle Gesinnung, weil es von einem alles beherrschenden "Freund-Feind-Schema" geprägt sei, überzeugt vor diesem Hintergrund und angesichts der dargestellten Erkenntnismittellage zur unterschiedlichen Behandlung von Wehrdienstentziehern und tatsächlich als oppositionell angesehenen Personen nicht (vgl. hierzu im Einzelnen Senatsbeschl. v. 5.12.2018 - 2 LB 570/18 -, juris Rn. 46 f., u. v. 16.1.2020 - 2 LB 731/19 -, juris Rn. 49 f.). [...]
78 § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG sieht vor, dass der Militärdienst in einem Konflikt Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Diese Voraussetzung ist nach der vom Senat gewonnenen Überzeugung zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt seiner mündlichen Verhandlung im Falle des Wehr- bzw. Reservedienstes in der syrischen Armee nicht (mehr) als erfüllt anzusehen. [...]
81 Allerdings kann es als umfangreich belegt angesehen werden, dass aus den Reihen der syrischen Armee im Verlaufe des im Jahr 2011 ausgebrochenen Bürgerkrieges eine Vielzahl von Kriegshandlungen begangen wurden, die sich gezielt gegen Wohngebiete und die zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser und Schulen richteten und die als Kriegsverbrechen einzustufen sind. Das syrische Regime hat immer wieder in großem Umfang international geächtete Fassbomben gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt (vgl. AA v. 4.12.2020, S. 7). [...]
83 {...] Mit der somit jedenfalls seit März 2020 deutlich zurückgegangenen Intensität an Kampfhandlungen in Syrien (vgl. auch DIS, Oktober 2020, S. 6) mit dem Potential zur Begehung von Kriegsverbrechen von Seiten der syrischen Armee, an welchen Wehrdienstleistende beteiligt werden könnten, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt von einer veränderten Lage auszugehen. Dies gilt umso mehr, als wie ausgeführt ein wesentlicher Teil der bis März 2020 dokumentierten Kriegsverbrechen nicht von der syrischen Armee selbst, sondern von ausländischen Verbündeten des Regimes (insb. Russland) begangen wurden und insofern eine Beteiligung von syrischen Wehrdienstleistenden ohnehin unwahrscheinlich gewesen wäre. Aktuelle Berichte zum Einsatz verbotener chemischer Waffen liegen in Bezug auf ganz Syrien für das Jahr 2020 nicht mehr vor (vgl. USDOS v. 30.3.2021, S. 23). Die seit Beginn der Waffenruhe in Idlib dort schwersten Angriffe von Seiten des Regimes am 26. Oktober 2020 richteten sich gegen die Türkei-nahe Gruppierung Faylaq al-Sham und forderten jedenfalls keine zivilen Opfer (vgl. AA v. 4.12.2020, S. 8). Auch zu den Ende September bis Anfang Oktober 2020 in den südlichen Gouvernements Daraa und Suweida wieder aufgeflammten Gefechten unter anderem zwischen Regimetruppen und bewaffneten oppositionellen Gruppierungen (vgl. AA v. 4.12.2020, S. 7) liegen dem Senat keine Berichte über als Kriegsverbrechen einzustufende Handlungen der syrischen Armee vor. Dieses Lagebild passt dazu, dass die Anzahl der von einer syrischen NGO dokumentierten zivilen Opfer, die von den Konfliktparteien in Syrien getötet wurden, ab April 2020 deutlich zurückgegangen ist (vgl. BFA v. 18.12.2020, S. 17). Jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt erscheint es zur Überzeugung des Senats daher nicht (mehr) plausibel, dass noch nicht eingezogene Wehrdienstleistende im Rahmen ihres Militärdienstes in der syrischen Armee, die auf eine Truppengröße von mindestens 100.000 Mann zurückgreifen kann (zu den Zahlen vgl. BFA v. 25.1.2018, S. 29), zwangsläufig oder sehr wahrscheinlich an der Begehung von Kriegsverbrechen beteiligt werden würden (a.A. OVG Berl.-Bbg., Urt. v. 29.1.2021 - 3 B 109.18 -, juris Rn. 100 ff.). [...]