EuGH-Entscheidung zu syrischen Wehrdienstentziehern kein Grund für Asylfolgeantrag:
"Die vom Europäischen Gerichtshof in seiner Entscheidung vom 19. November 2020 (C-238/19, EZ) [asyl.net: M29016] angenommene "starke Vermutung" dafür, dass die Verfolgungshandlung der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Verweigerung des Militärdienstes in Art. 9 Abs. 2 lit. e) der Richtlinie 2011/95/EU zu einem der fünf in Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU genannten Gründe in Zusammenhang steht, begründet keine neue Sach- oder Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG."
(Amtlicher Leitsatz; unter Bezug auf VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.12.2020 - A 4 S 4001/20 (Asylmagazin 1-2/2021, S. 31 f.) - asyl.net: M29155)
Anmerkung:
[...]
19 Das Bundesamt hat den Folgeantrag des Klägers zurecht als unzulässig abgelehnt. Die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens liegen nicht vor. [...]
21 Vorliegend sind keine Wiederaufgreifensgründe ersichtlich. Insbesondere liegen weder eine andere Sach- (1.) oder Rechtslage (2.) noch neue Beweismittel (3.) vor.
22 1. Im Hinblick auf die vom Kläger vorgetragene Befürchtung, in Syrien einer Verfolgung wegen Wehrdienstverweigerung ausgesetzt zu sein, hat sich die Sachlage nicht verändert gegenüber der zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Erstverfahren.
23 Eine andere Sachlage liegt vor, wenn sich die für die unanfechtbare Entscheidung maßgeblichen Tatsachen ändern. Hierzu zählen im Asylverfahren insbesondere tatsächliche oder rechtliche Veränderungen im Herkunftsland eines Ausländers, die zu tatsächlich veränderten Umständen führen (vgl. Engels in NKVwVfG, 2. Aufl. 2019 Rn. 26 m.w.N.).
24 Eine Änderung der Sachlage folgt nicht aus neuen Erkenntnismitteln. Schon nach der am 10. April 2018 vorliegenden Erkenntnislage hat für syrische Männer im Alter zwischen 18 und 42 Jahren eine Pflicht zum Militärdienst bestanden und sie hatten jederzeit zu befürchten, eingezogen zu werden (vgl. Urteil des VG Stuttgart vom 23. Januar 2018 – A 10 K 5494/16 –, nicht veröffentlicht). Auch wurde schon zu diesem Zeitpunkt die Verweigerung zur Leistung des Wehrdienstes in Kriegszeiten nach dem syrischen Militärgesetzbuch in der Fassung von 1973 mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet (vgl. Landinfo, Syria: Reactions against deserters and draft evaders, 3. Januar 2018, S. 8).
25 Auch kommt nicht in Betracht, dass sich die Sachlage aufgrund des Urteils des EuGH vom 19. November 2020 (C-238/19, EZ) verändert hat. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung zuvor entschieden hat, die Annahme nicht für gerechtfertigt zu halten, dass das syrische Regime unterschiedslos alle Männer im wehrdienstpflichtigen Alter, die sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben, als potentielle Regimegegner betrachte (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23. Oktober 2018 – A 3 S 791/18 –, juris, Rn. 40). Der Europäische Gerichtshof hat zwar hinsichtlich einer einen syrischen Staatsangehörigen betreffenden Vorlagefrage festgestellt, dass eine starke Vermutung dafürspricht, dass die Verfolgungshandlung der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Verweigerung des Militärdienstes in Art. 9 Abs. 2 lit. e) der Richtlinie 2011/95/EU zu einem der fünf in Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU genannten Gründe in Zusammenhang steht (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19, EZ –, curia, Rn. 57, Ziffer 4 der Entscheidungsformel). Mit dieser Entscheidung hat der Gerichtshof jedoch keine (neue) Feststellung zur Sachlage in Syrien getroffen. Hierbei handelt es sich um eine Entscheidung im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens. Gemäß Art. 267 AEUV entscheidet der Europäische Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung der Verträge sowie über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstiger Stellen. Dabei entspricht es weder dem Sinn und Zweck des Verfahrens noch den Möglichkeiten des Gerichtshofs im Rahmen der Vorabentscheidung, eine Tatsachenbewertung vorzunehmen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Dezember 2020 – A 4 S 4001/20 –, juris, Rn. 8).
26 Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, er sei als Druse einer besonderen Verfolgung durch die syrische Regierung und rebellische Kräfte ausgesetzt, ist eine Änderung der Sachlage insoweit nicht ersichtlich.
27 2. Auch liegt keine neue Rechtslage durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19.
November 2020 (a.a.O.) vor.
28 Eine Veränderung der Rechtslage ist gegeben, wenn es eine Änderung im materiellen Recht gegeben hat, der eine allgemeinverbindliche Regelung zukommt. Nicht ausreichend ist in der Regel eine Änderung der Rechtsprechung, da sich die gerichtliche Entscheidungsfindung grundsätzlich auf die rechtliche Würdigung des Sachverhalts am Maßstab der vorgegebenen Rechtsordnung beschränkt (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2009 – 1 C 26/08 –, juris, Rn. 16). Dies gilt insbesondere auch für die nachträgliche Klärung einer unionsrechtlichen Frage durch den Europäischen Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens. Denn nach eigenem Verständnis des Europäischen Gerichtshofs ist dieser deklaratorischer und nicht konstitutiver Natur (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2009, a.a.O. unter Verweis auf EuGH, Urteil vom 12. Februar 2008 – C-2/06 –, Rn. 35).
29 Soweit der Europäische Gerichtshof die zuvor erwähnte "starke Vermutung" geäußert hat, ist das materielle Recht der §§ 3 ff. AsylG unverändert geblieben. Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG und Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU muss eine Verknüpfung zwischen der als Verfolgung eingestuften Handlung und den Verfolgungsgründen bestehen (vgl. auch EuGH, Urteil vom 19. November 2020, a.a.O., Rn. 44). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist es die Aufgabe der zuständigen nationalen Behörden, in Anbetracht sämtlicher von der um internationalen Schutz nachsuchenden Person vorgetragenen Anhaltspunkte, die Plausibilität der Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen und der Verfolgungshandlung – im Falle der Wehrdienstverweigerung die Strafverfolgung und Bestrafung – zu prüfen. Dabei ist in tatsächlicher Hinsicht zu berücksichtigen, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 lit. e) der Richtlinie 2011/95/EU näher erläuterten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU genannten Gründen in Zusammenhang steht (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2020, a.a.O., Rn. 56 f.). Insoweit hat der Europäische Gerichtshof lediglich eine deklaratorische Feststellung zur Auslegung der Richtlinie 2011/95/EU getroffen. [...]