Keine Zulassung der Berufung bei vorgetragener Verfolgung wegen Militärdienstentziehung in Syrien:
"Aus dem EuGH-Urteil "EZ" vom 19.11.2020 in der Rechtssache C-238/19 folgt nicht, dass unterschiedslos jedem Syrer im wehrpflichtigen Alter "automatisch" die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist.
Die vom EuGH formulierte "starke Vermutung" bei tatsächlich anzunehmender Militärdienstverweigerung zielt primär auf die Frage nach politischer Vorverfolgung."
(Amtliche Leitsätze; Beschluss mit umfassenden Ausführungen zur Einordnung der Entscheidung E.Z., EuGH, Urteil vom 19.11.2020 - C-238/19 (Asylmagazin 12/2020, S. 424 ff.) - asyl.net: M29016)
[...]
B. Der Zulassungsantrag bleibt ohne Erfolg. Die geltend gemachte Grundsatzbedeutung genügt nicht den Darlegungsanforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG. [...]
Diesen Anforderungen entspricht der Zulassungsantrag nicht. Auch aus dem EuGH-Urteil "EZ" folgt keineswegs, dass unterschiedslos jedem Syrer im wehrpflichtigen Alter gewissermaßen "automatisch" die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist.
I. Entgegen verschiedenen Anmerkungen zum Urteil "EZ" hat der EuGH nicht entschieden, unterschiedslos allen inzwischen wohl über zwei Millionen Syrern im wehrpflichtigen Alter (18-42), die sich dem Dienst in der syrischen Armee durch Flucht entzogen haben, sei nunmehr als "politisch Verfolgte" die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (mit den Vorteilen des Familiennachzugs, des blauen Flüchtlingsreiseausweises sowie einer dreijährigen Aufenthaltserlaubnis). [...]
Der EuGH hat vielmehr in ausdrücklicher Übereinstimmung mit dem Schlussantrag der Generalanwältin (Urteils-Rn. 48/59, Schlussantrags-Rn. 67/73 ff.) der Sache nach ausgeführt, dass dem europäischen Asylrecht jeder Automatismus grundsätzlich wesensfremd sei. [...]
1. Deshalb sei im Einzelfall zunächst zu prüfen, ob der Antragsteller nach seinen "Angaben … und den von ihm vorgelegten Unterlagen sowie seiner individuellen Lage und seinen persönlichen Umständen" tatsächlich den Militärdienst "verweigert" hat (URn. 31), was allerdings auch ohne formalisiertes Behördenverfahren bejaht werden könne. Im Rahmen einer eventuellen Gewissensprüfung sei zu fragen, "welcher Art seine Verweigerung ist", ob er "Pazifist ist und jede Anwendung militärischer Gewalt ablehnt, oder ob seine Verweigerung sich auf begrenztere Gründe stützt" (SRn. 73). Zu prüfen sei, ob die Angaben des Antragstellers glaubhaft ("plausibel") seien bzw. der Antragsteller glaubwürdig ("für ehrlich" zu halten) sei (SRn. 87).
2. Weiter sei zu prüfen, ob eine Ableistung des verweigerten Militärdienstes zumindest sehr wahrscheinlich zur Beteiligung an Kriegsverbrechen geführt hätte (URn. 34), was im April 2017 in Syrien sehr wahrscheinlich der Fall gewesen sein dürfte (URn. 37); dies zu prüfen sei Sache des (vorlegenden) Gerichts.
3. Schließlich sei zu prüfen, ob nach einer Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissensgründen Verfolgung insbesondere als politische Verfolgung im Sinne von politischer Opposition drohe, ob also "objektive und subjektive Anhaltspunkte dafür vorliegen", dass begründete Furcht bestanden habe, wegen politischer Überzeugung oder Anschauungen verfolgt zu werden (SRn. 76). Dabei spreche in einer Bürgerkriegssituation eine "starke Vermutung" dafür, dass die Kriegsdienstverweigerung mit einem der fünf Verfolgungsgründe in Zusammenhang stehe. [...]
II. Die vom EuGH betonte Einzelfallprüfung wurde auch bislang schon vom Bundesamt und den deutschen Verwaltungsgerichten durchgeführt. Gewissermaßen "neu" sind die vom EuGH nunmehr vorgegebenen Bewertungen, vor allem die anzunehmende "starke Vermutung", dass eine tatsächlich erfolgte Militärdienstverweigerung - subjektiv - mit politischer "Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung" i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG verknüpft ist und - objektiv - eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass in Syrien im April 2017 (URn. 60) einem Verweigerer von den Verfolgern politische Merkmale zugeschrieben wurden. Da diese Bewertungen nach der ausdrücklich zu prüfenden tatsächlichen "Plausibilität" im Einzelfall aber nicht zutreffen müssen, ist kaum jeder schon bestandskräftig gewordene, die Flüchtlingseigenschaft ablehnende Bescheid des Bundesamts - gewissermaßen automatisch - (unions)rechtswidrig (geworden).
Daher führen Wiederaufgreifens- bzw. Rücknahmeanträge nach § 51 bzw. § 48 VwVfG ebenso wie Asylfolgeanträge nach § 71 AsylG gegebenenfalls nicht unbedingt zum gewünschten Erfolg. Denn nach bisher wohl einhelliger Rechtsprechung ist eine Vorabentscheidung des EuGH grundsätzlich keine Änderung der Sach- oder Rechtslage i.S.v. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG. Der Hinweis von Flüchtlingsverbänden auf das EuGH-Urteil "Ungarische Transitzonen" vom 14.05.2020 in der Rechtssache C-924/19 könnte nicht zielführend sein, weil die dort angenommene Unionsrechtswidrigkeit hier gerade nicht automatisch vorliegt. Und den EuGH-Urteilen "Torubarov" (29.07.2019, Rs. C-556/17) sowie "Hamed und Omar" (13.11.2019, Rs. C-540/17 u.a.) könnten wesentlich andere Sachverhalte zugrunde liegen.
III. Die bisherige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg steht grundsätzlich im Einklang mit dem neuen EuGH-Urteil "EZ". Im diesbezüglichen Leitsatzurteil des 4. Senats vom 27.03.2019 - A 4 S 335/19 - (Juris) wurde nach Auswertung zahlreicher Erkenntnismittel entschieden, dass bei wehrdienstflüchtigen Männern aus Syrien derzeit zwar nicht angenommen werden kann, ausnahmslos jeder werde als "Oppositioneller" mit regimekritischer Meinung oder Grundhaltung verfolgt. Auch einer Person dieser Gruppe könne jedoch die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG zuerkannt werden, wenn in einer Einzelfallprüfung, gestützt auf entsprechende Erkenntnisquellen besondere, individuell gefahrerhöhende Umstände aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe feststellbar sind (Senats-Ls. 6, 8). [...]
1. Soweit ersichtlich liegen bislang keine neuen Erkenntnismittel vor, die dafür sprächen, dass nunmehr ausnahmslos jeder militärdienstflüchtige Mann bei einer Rückkehr nach Syrien als "Oppositioneller" mit regimekritischer Meinung oder Grundhaltung verfolgt wird (vgl. zuletzt Bay. VGH, Urteil vom 21.09.2020 - 21 B 19.32725 -, Juris Rn. 23 ff.). Eine eventuell vom EuGH vor dem Hintergrund der Situation im April 2017 angenommene diesbezügliche "hohe Wahrscheinlichkeit" kann deshalb heute empirisch - objektiv - wohl nicht bestätigt werden. Allein wegen Militärdienstverweigerung kann mithin voraussichtlich auch nach dem EuGH-Urteil "EZ" nicht pauschal die Flüchtlingseigenschaft zugesprochen werden.
2. Wie bislang muss vom Bundesamt und den Verwaltungsgerichten deshalb weiterhin jeder Einzelfall sorgfältig geprüft werden. Nach den Vorgaben des EuGH ist nunmehr ein besonderes Augenmerk darauf zu richten, ob Vorverfolgung anzunehmen ist (a) oder Nachfluchtgründe vorliegen (b); dabei ist stets auch zu prüfen, ob heute (gegebenenfalls "noch") eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht.
(a) Zur Beantwortung der Frage, ob Vorverfolgung anzunehmen ist, ist insbesondere der Frage nachzugehen, ob tatsächlich eine "Militärdienstverweigerung" beispielsweise aus Gewissensgründen vorliegt oder sich der Antragsteller einem - völkerrechtswidrigen - Krieg, also nicht nur dem Wehrdienst oder allgemein dem "(Bürger-)Krieg") entziehen wollte (ggf. ist zu unterscheiden zwischen "echten" Deserteuren nach Dienst bzw. Militärmeldung sowie einem Untertauchen "nur" vor bzw. nach Aufforderung zur Meldung); primär an dieser Stelle dürfte die vom EuGH betonte "starke Vermutung" der Militärdienstverweigerung als Ausdruck politischer Überzeugung relevant sein. Legt der Antragsteller etwa glaubhaft dar, gerade wegen der Völkerrechtswidrigkeit des syrischen Krieges den Militärdienst verweigert und das Land verlassen zu haben, und ist er glaubwürdig, so dürfte wohl politische Verfolgung im Zeitpunkt der Ausreise (vom Bundesamt kaum widerlegbar) zu vermuten sein.
Sodann ist die Rückkehrperspektive gemäß § 77 Abs. 1 AsylG bezogen auf den heutigen Entscheidungszeitpunkt einzunehmen. Bei Vorverfolgten greift nun die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU (insoweit ist die EuGH-Vermutung weder relevant noch erforderlich). Wer vorverfolgt ausgereist ist, kann sich auf die RL-Vermutung einer fortgesetzten Verfolgung bei Rückkehr berufen. Auch diese Vermutung kann jedoch erschüttert oder gar widerlegt werden, wenn "stichhaltige Gründe dagegen sprechen". Zwar könnte eventuell auch heute noch von völkerrechtswidrigen Kriegshandlungen in Syrien auszugehen sein. Die Fragen insbesondere von Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG könnten heute aber anders als bei dem der Entscheidung des EuGH zugrunde gelegenen Sachverhalt von April 2017 zu beurteilen sein. Insoweit dürften vor allem die verschiedenen Amnestien (zuletzt Präsidialdekret 6/2020 vom 22.03.2020) sowie "Freikauf"-Möglichkeiten gewürdigt werden müssen, die möglicherweise die RL-Vermutung erschüttern. Auf der anderen Seite dürfte aber auch zu prüfen sein, ob im konkreten Einzelfall des Antragstellers gefahrerhöhende Umstände gegeben sind (bspw. oppositionelle Aktivitäten), die ihrerseits die RL-Vermutung stärken. Von alledem hängt ab, ob bei (hypothetischer) Rückkehr heute noch Verfolgung aus einem der fünf Gründe des § 3 Abs. 1 AsylG anzunehmen und daher Flüchtlingseigenschaft zuzusprechen ist.
(b) Wird im Einzelfall keine Vorverfolgung angenommen (so z.B. im vorliegenden Falle des Klägers), greift auch die RL-Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU nicht ein (die EuGH-Vermutung ohnehin nicht, weil diese auf die Frage der Vorverfolgung zielt). Dann ist nach allgemeinen Maßstäben zu prüfen, ob heute etwa wegen Nachfluchtgründen gemäß § 28 Abs. 1a AsylG eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht, d.h. Verfolgung aus einem der fünf Gründe des § 3 Abs. 1 AsylG beachtlich wahrscheinlich anzunehmen ist, weshalb die (hypothetische) Rückkehr nach Syrien unzumutbar ist. Insoweit gehen die Obergerichte bislang weitgehend übereinstimmend davon aus, dass nur bei besonderen - tatsächlich vorliegenden oder im Sinne von § 3b Abs. 2 AsylG zugeschriebenen - gefahrerhöhenden Umständen im Einzelfall eine regimefeindliche bzw. oppositionelle Gesinnung und entsprechend eine politische Verfolgung angenommen werden kann (Nachweise zuletzt Bay. VGH, a.a.O. Juris-Rn. 58). Welche Auswirkungen insoweit eine "versöhnliche Haltung" des syrischen Regimes, "Rückkehrpläne für Flüchtlinge", Amnestien oder "Freikauf"-Möglichkeiten aus staatlicher Finanznot haben, bleibt zu würdigen. Nach dem EuGH-Urteil "EZ" ist jedoch auch insoweit nicht "automatisch" die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. [...]
IV. Vor diesem Hintergrund ist die vom Kläger geltend gemachte Grundsatzbedeutung nicht gegeben. Die von ihm aufgeworfenen Fragen wurden vom EuGH im Urteil "EZ" beantwortet, wie er selbst zutreffend darstellt. Zudem trägt der Kläger mit seinem Zulassungsantrag nicht vor, dass bzw. warum er selbst als vorverfolgter "Militärdienstverweigerer" eingestuft werden müsste; dies ist für den Senat auch nicht sonst erkennbar. Damit aber bezieht sich das EuGH-Urteil "EZ" im Wesentlichen nicht auf seine Fallkonstellation, sodass die begehrte, hierauf gestützte Berufungszulassung den gesetzlichen Vorgaben des § 78 AsylG widerspräche. [...]
Damit sind die vom Kläger aufgeworfenen Fragen bereits vom hierfür gemäß Art. 267 AEUV allein zuständigen EuGH rechtsgrundsätzlich geklärt. [...]