BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 10.03.2021 - 1 B 2.21 (Asylmagazin 12/2021, S. 431 ff.) - asyl.net: M30153
https://www.asyl.net/rsdb/m30153
Leitsatz:

EuGH-Beweiserleichterung für Wehrdienstentzieher aus Syrien entbindet das Gericht nicht von individueller Prüfung:

1. Sieht das Gericht für eine Anknüpfung an eine dem Wehrdienstentzieher unterstellte regimefeindliche Haltung keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte, dann führt die durch den EuGH (Urteil vom 19.11.2020 - C-238/19 EZ gg. Deutschland (Asylmagazin 12/2020, S. 424 ff.) - asyl.net: M29016) begründete Beweiserleichterung nicht zu einer von der tatsächlichen Lage und den Erkenntnismitteln unabhängigen, unwiderleglichen Verknüpfung von zu unterstellender Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund.

2. Auch der EuGH stellt die "starke Vermutung" einer Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund unter den Vorbehalt der tatsächlichen Prüfung und enthält jedenfalls keine unwiderlegliche Vermutung oder eine starre Beweisregel, die eine richterliche Überzeugungsbildung nach den zu § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entwickelten Grundsätzen ausschließt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Upgrade-Klage, Militärdienst, Wehrdienstentziehung, Verfolgungsgrund, politische Verfolgung, Asylrelevanz, Verknüpfung, Verfolgungshandlung, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, Wehrdienstverweigerung, Flüchtlingsanerkennung, Reservisten, Kriegsverbrechen, unverhältnismäßige Strafverfolgung, Strafverfolgung wegen Verweigerung von völkerrechtswidrigem Militärdienst, Beweislast, richterliche Überzeugungsbildung, Beweiswürdigung, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab,
Normen: RL 2011/95/EU Art. 9 Abs. 2 Bst. e, RL 2011/95/EU Art. 10, RL 2011/95/EU Art. 12, AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, AsylG § 3b, VwGO § 108 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

3 1.1 Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. [...]

5 1.2 Daran gemessen ist die Revision nicht zur Klärung der von der Beschwerde aufgeworfenen Rechtsfrage zuzulassen, "ob es mit der richterlichen Überzeugungsbildung nach § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO sowie mit § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG vereinbar ist, bei unklarer Erkenntnislage eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG anzunehmen und unter diesen Voraussetzungen als Verfolgungsgrund § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG zu bejahen."

6 a) Die so gestellte Frage ist schon nicht entscheidungserheblich. Denn sie bezieht sich auf die richterliche Überzeugungsbildung "bei unklarer Erkenntnislage". Von einer solchen Erkenntnislage ist das Berufungsgericht indes nicht ausgegangen. Vielmehr hat es die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung zwischen einer (möglichen) Verfolgungshandlung (§ 3a Abs. 1 und 2 AsylG) und einem Verfolgungsgrund (§ 3b AsylG) u.a. deswegen verneint, weil es "für die Annahme, das syrische Regime unterstelle jedem Wehrdienstentzieher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine regimefeindliche, oppositionelle Gesinnung, an belastbaren Anknüpfungstatsachen [fehlt]". Damit hat es weder angenommen noch verneint, dass "bei unklarer Erkenntnislage eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG" bestehe, noch unmittelbar hieraus gefolgert, ob dies "als Verfolgungsgrund [nach] § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG" zu bewerten ist. [...]

8 Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. BVerwG, Urteile vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 - NVwZ 2020, 161 Rn. 18 ff. und - 1 C 31.18 - Buchholz 402.251 § 3 AsylG Nr. 3 Rn. 20 ff. m.w.N.) ist es in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess Aufgabe des Tatsachengerichts, den maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln, dazu von Amts wegen die erforderliche Sachverhaltsaufklärung zu betreiben und sich eine eigene Überzeugung zu bilden (§ 86 Abs. 1 Satz 1, § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Hierzu muss es die Prognosetatsachen ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau bewerten und sich auf dieser Grundlage eine Überzeugung bilden. Die Überzeugungsgewissheit gilt nicht nur in Bezug auf das Vorbringen des Schutzsuchenden zu seiner persönlichen Sphäre zuzurechnenden Vorgängen, sondern auch hinsichtlich der in die Gefahrenprognose einzustellenden allgemeinen Erkenntnisse. Diese ergeben sich vor allem aus den zum Herkunftsland vorliegenden Erkenntnisquellen. Auch für diese Anknüpfungstatsachen gilt das Regelbeweismaß des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Auf der Basis der so gewonnenen Prognosegrundlagen hat das Tatsachengericht bei der Erstellung der Gefahrenprognose über die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden zu befinden. Diese in die Zukunft gerichtete Projektion ist als Vorwegnahme zukünftiger Geschehnisse typischerweise mit Unsicherheiten belastet. Zu einem zukünftigen Geschehen ist nach der Natur der Sache immer nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage möglich, hier am Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Auch wenn die Prognose damit keines "vollen Beweises" bedarf, ändert dies nichts daran, dass sich der Tatrichter gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO bei verständiger Würdigung der (gesamten) Umstände des Einzelfalls auch von der Richtigkeit seiner - verfahrensfehlerfrei - gewonnenen Prognose einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung die volle Überzeugungsgewissheit zu verschaffen hat (vgl. BVerwG, Urteile vom 16. April 1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71, 180 <182> sowie vom 4. Juli 2019 - 1 C 31.18 - Buchholz 402.251 § 3 AsylG Nr. 3 Rn. 22 und - 1 C 33.18 - NVwZ 2020, 161 Rn. 21; Beschluss vom 8. Februar 2011 - 10 B 1.11 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 43 Rn. 7). Im Rahmen dieses für die Entscheidungsfindung vorgegebenen Beweismaßes sind dabei auch (widerlegliche oder unwiderlegliche) tatsächliche Vermutungen, Beweiserleichterungen oder Beweislastregelungen heranzuziehen. [...]

10 Angesichts der Bewertung des Erkenntnismaterials durch das Berufungsgericht dahin, dass es für eine Anknüpfung an eine dem Wehrdienstentzieher unterstellte regimefeindliche Haltung keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte gäbe (BA S. 12), wäre auch insoweit weder die Entscheidungserheblichkeit der benannten Rechtsfrage noch hinreichend dargelegt, welcher weitergehende Klärungsbedarf mit Blick auf das Urteil des Gerichtshofs vom 19. November 2020 - C-238/19 - noch bestehe. Eine durch eine "starke Vermutung" begründete Beweiserleichterung führte jedenfalls nicht zu einer von der tatsächlichen Verfolgungslage und den hierzu heranzuziehenden Erkenntnismitteln unabhängigen, unwiderleglichen Verknüpfung von zu unterstellender Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund (§ 3a Abs. 3 AsylG), auf deren Notwendigkeit auch der Gerichtshof nicht verzichtet (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - Rn. 44, 50). Vielmehr führt der Gerichtshof aus, dass "Art. 9 Abs. 2 Buchst. e in Verbindung mit Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen [ist], dass das Bestehen einer Verknüpfung zwischen den in Art. 2 Buchst. d und Art. 10 dieser Richtlinie genannten Gründen und der Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie nicht allein deshalb als gegeben angesehen werden kann, weil Strafverfolgung oder Bestrafung an diese Verweigerung anknüpfen"; es spreche aber "eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie aufgezählten Gründe in Zusammenhang steht", und es sei "Sache der zuständigen nationalen Behörden, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen" (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - Rn. 61). Der Gerichtshof stellt mithin die "starke Vermutung" einer Verknüpfung von (unterstellter) Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund unter den Vorbehalt der tatsächlichen Prüfung der auch solchermaßen stark vermuteten "Plausibilität dieser Verknüpfung"; dies enthält jedenfalls keine unwiderlegliche Vermutung oder eine starre Beweisregel, die eine richterliche Überzeugungsbildung nach den zu § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entwickelten Grundsätzen ausschließt. [...]