EuGH-Entscheidung zu syrischen Wehrdienstentziehern kein Grund für Asylfolgeantrag:
1. Die Entscheidung des EuGH vom 19. November 2020 (C-238/19, EZ, asyl.net: M29016) stellt keine Änderung der Sachlage im Sinne von § 71 AsylG iVm § 51 VwVfG dar, da der EuGH nur zur Auslegung unionsrechtlicher Normen Stellung nimmt und keine (neue) Feststellung zur Sachlage in Syrien getroffen hat.
2. Ebenso ist in der EuGH-Entscheidung keine Änderung der Rechtslage im Sinne von § 71 AsylG iVm § 51 VwVfG zu sehen, da der EuGH nur deklaratorisch die Vorschriften des Unionsrecht erläutert, nicht jedoch konstitutiv das geltende Recht ändert.
3. Ausnahmsweise kann aufgrund einer Entscheidung des EuGH die Stellung eines Asylfolgeantrags zulässig sein, wenn die Unionsrechtswidrigkeit der asylrechtlichen Erstentscheidung durch den EuGH oder von einem nationalen Gericht inzident festgestellt wurde und zudem folgende vier Voraussetzungen erfüllt sind: Die Behörde muss befugt sein, die Entscheidung zurückzunehmen (1); die Entscheidung muss infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden sein (2); das Urteil muss auf einer unrichtigen Auslegung des Unionsrechts beruhen und der Gerichtshof entgegen Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht um Vorabentscheidung ersucht worden sein (3) und die betroffene Person muss sich an die Verwaltungsbehörde gewandt haben (4).
(Leitsätze der Redaktion; ebenso VG Stuttgart, Urteil vom 04.03.2021 - A 7 K 244/19 (Asylmagazin 5/2021, S. 174 f.) - asyl.net: M29485)
Anmerkung:
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21 c) Auch das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (Europäischer Gerichtshof) vom 19. November 2020 – C-238/19 – juris stellt keine nachträgliche Änderung der Sachlage zugunsten des Klägers dar, denn es handelt sich nicht um eine entscheidungserhebliche Tatsache, die zu einer Änderung des Sachverhalts führen könnte. Der Europäische Gerichtshof hat zwar im Hinblick auf eine einen syrischen Asylbewerber betreffenden Vorlagefrage festgestellt, dass eine starke Vermutung dafür spricht, dass die Verfolgungshandlung der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Verweigerung des Militärdienstes in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95/ EU zu einem der fünf in Art. 10 der Richtlinie genannten Gründe in Zusammenhang steht (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 – juris Rn. 57). Der Gerichtshof hat damit aber keine (neue) Feststellung zur Sachlage in Syrien getroffen (so auch VG Wiesbaden, Urteil vom 30. April 2021 – 6 K470/19.WI. A – juris Rn. 28; VG Bremen, Urteil vom 27. Mai 2021 – 5 K 622/21 – juris Rn. 39). Diese Entscheidung betrifft lediglich die Auslegung unionsrechtlicher Normen (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 12. April 2021 – 14 A 818/19. A – juris Rn. 44 ff.). Gemäß Art. 267 AEUV entscheidet der Europäische Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung der Verträge sowie über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstiger Stellen der Union. Dabei entspricht es weder dem Sinn und Zweck des Verfahrens noch den Möglichkeiten des Gerichtshofs, im Rahmen der Vorabentscheidung eine Tatsachenbewertung vorzunehmen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Dezember 2020 – A 4 S 4001/20 – juris, Rn. 8; VG Stuttgart, Urteil vom 4. März 2021 – A 7 K 244/19 – juris Rn. 25).
22 2. Es liegt auch keine nachträgliche Änderung der Rechtslage zugunsten des Klägers vor. Eine solche Änderung im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG kann durch eine – hier nicht vorliegende – Gesetzesänderung eintreten. Eine Änderung der Rechtsprechung, auf die sich der Kläger beruft, steht im Allgemeinen jedoch – auch im Hinblick auf den Europäischen Gerichtshof – einer Rechtsänderung nicht gleich (Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AsylG § 71 Rn 25; Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 20. Aufl. 2019, § 51 Rn. 30). Denn die gerichtliche Entscheidungsfindung beschränkt sich grundsätzlich auf die rechtliche Würdigung des Sachverhalts am Maßstab der vorgegebenen Rechtsordnung und ist weder geeignet noch darauf angelegt, die Rechtslage konstitutiv zu verändern (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. November 2020 – 2 B 1.20 – juris Rn. 8). Ausnahmsweise kann eine Rechtsprechungsänderung eine relevante Änderung der Rechtslage darstellen, wenn eine mit Bindungswirkung des § 31 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes – BVerfGG – ausgestattete relevante Entscheidung ergeht (BeckOK AuslR/Dickten, 29. Ed. 1. April 2021, AsylG § 71 Rn. 19; vgl. VG Trier, Urteil vom 4. Mai 2021 – 1 K 1102/21.TR – juris Rn. 27).
23 a) Der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 – C-238/19 – kommt keine Bindungswirkung zu. Die nachträgliche Klärung einer gemeinschaftsrechtlichen Frage durch den Gerichtshof und eine hierauf beruhende Änderung der (höchstrichterlichen) nationalen Rechtsprechung führen nicht zu einer Änderung der Rechtslage (BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2009 – 1 C 26.08 – juris Rn.16). Auslegungsurteile des Europäischen Gerichtshofs entfalten für andere Gerichte und Behörden eine nur eingeschränkte (erga omnes) Bindungswirkung (Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein, 72. EL Februar 2021, AEUV Art. 267 Rn. 104). Sie erläutern lediglich, in welchem Sinn und mit welcher Tragweite eine Unionsvorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre (vgl. VG Trier, Urteil vom 4. Mai 2021 – 1 K 1102/21.TR – juris Rn. 31 m.w. Nachw.). Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Vorabentscheidungsverfahren ist demnach nicht konstitutiver, sondern rein deklaratorischer Natur (BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2009, a.a.O. Rn. 16).
24 b) Eine andere Einschätzung ergibt sich auch nicht aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 14. Mai 2020 – C-924/19, C 925/19 – juris, auf welches sich der Kläger beruft. In dieser Entscheidung hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Existenz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs, mit dem die Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht festgestellt wird, eine neue Erkenntnis im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32/EU darstellt mit der Folge, dass der Folgeantrag nicht auf der Grundlage dieser Bestimmung als unzulässig abgelehnt werden könne (Rn. 194 des Urteils). Erforderlich ist allerdings, dass die Unionsrechtswidrigkeit der asylrechtlichen Erstentscheidung sich aus einem Urteil des Gerichtshofs ergebe oder von einem nationalen Gericht inzident festgestellt worden sei (Rn. 198). Hier beruht jedoch die Entscheidung der Beklagten über die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Asylerstverfahren weder auf einer unionsrechtswidrigen Vorschrift noch hat der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 – die Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit vorrangigem Unionsrecht festgestellt (so auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 12. April 2021 – 14 A 818/19. A – juris Rn. 67; VG Wiesbaden, Urteil vom 30. April 2021 – 6 K 470/19.WI. A – juris Rn. 29; VG Trier, Urteil vom 4. Mai 2021 – 1 K 1102/21.TR – juris Rn. 35; VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 18. Mai 2021 – RN 11 K 21. 30505 – juris Rn. 38; VG Bremen, Urteil vom 27. Mai 2001 – 5 K 622/21 – juris 34). Der Europäische Gerichtshof legt lediglich die Vorschrift des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95 aus. Hierbei führt er aus, dass die Verweigerung des Militärdienstes auch festgestellt werden könne, wenn der Betroffene diese nicht in einem bestimmten Verfahren formalisiert hat (Rn. 29), dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch erscheint, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem Einsatzgebiet dazu veranlasst werde, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung von Kriegsverbrechen teilzunehmen (Rn. 37), dass zwischen den in Art. 10 der Richtlinie 2011/95 genannten Gründen und den in Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie als Verfolgung eingestuften Handlungen eine Verknüpfung bestehen müsse (Rn. 41, 44), wobei es nicht Sache des Asylbewerbers sei, den Beweis für die Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen und der Strafverfolgung und Bestrafung zu erbringen (Rn. 54), wobei hervorzuheben sei, dass eine starke Vermutung dafür spreche, dass die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes, der Kriegsverbrechen umfasse, mit einem der fünf in Art. 10 der Richtlinie genannten Gründe in Zusammenhang stehe (Rn. 57). Es sei Sache der zuständigen nationalen Behörden, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen (Rn. 61).
25 Aber auch bei der Annahme, der Gerichtshof habe in seinem Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 – festgestellt, dass eine bestimmte Auslegung und Anwendung von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG unionrechtswidrig sei, hätte die Klage gegen die Unzulässigkeitsentscheidung der Beklagten keinen Erfolg. Denn der Europäische Gerichtshof führt in seinem Urteil vom 14. Mai 2020 – C-924/19 u.a. – (juris Rn. 185) aus, dass dem Grundsatz der Rechtskraft große Bedeutung zukommt. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Behörde nur dann verpflichtet, ihre Entscheidung zu überprüfen und eventuell zurückzunehmen, wenn vier Voraussetzungen vorliegen: Die Behörde muss nach nationalem Recht befugt sein, die Entscheidung zurückzunehmen (1); die Entscheidung muss infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden sein (2); das Urteil muss, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des Gerichtshofs zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Unionsrechts beruhen, die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Art. 267 Abs. 3 AEUV erfüllt war (3); der Betroffene muss sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der Entscheidung des Gerichtshofs erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt haben (4) (EuGH, Urteil vom 14. März 2020 – C-924/19 u.a. – juris Rn. 187).
26 Es fehlt hier bereits an der zweiten Voraussetzung, denn der Kläger hat den Bescheid des Bundesamtes vom 8. August 2017, mit dem im Asylerstverfahren seine Anerkennung als Flüchtling abgelehnt worden ist, nicht mit einer Klage angegriffen, so dass der Bescheid nicht infolge eines Urteils eines (in letzter Instanz entscheidenden) nationalen Gerichts bestandskräftig geworden ist. Das Erheben einer Untätigkeitsklage stellt keine Klage gegen den ablehnenden Bescheid dar. Vielmehr hat der Kläger nach Erlass des Bescheides davon Abstand genommen, den Bescheid mittels Klage anzufechten. Darüber hinaus fehlt es an der dritten Voraussetzung, da kein Urteil vorliegt, welches auf einer unrichtigen Auslegung des Unionsrechts beruht und der Gerichtshof nicht um Vorabentscheidung ersucht worden ist. Es fehlt hier, wie soeben dargelegt, an einem Urteil eines nationalen Gerichts. Im Übrigen betrifft die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nur ein Gericht, dessen Entscheidungen nicht mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, somit der letzten Instanz des nationalen Verwaltungsrechtswegs. Diesen hat der Kläger nicht erreicht (vgl. VG Berlin, Urteil vom 10. Juni 2021 – 23 K 263/21 A –). [...]