Flüchtlingsanerkennung für Wehrdienstentzieher aus Syrien:
"Unter Berücksichtigung des Urteils des EuGH vom 19. November 2020 - C-238/19 - ist syrischen Männern, die den Wehrdienst verweigert haben, die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Ihnen droht politische Verfolgung wegen einer ihnen von dem syrischen Regime zugeschriebenen oppositionellen Haltung. Insoweit gibt der Senat seine bisherige Rechtsprechung auf, wonach in diesen Fällen allein die Zuerkennung subsidiären Schutzes gerechtfertigt war (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. Februar 2019 - OVG 3 B 27.17 – juris) (Rn.19) (Rn.66)."
(Amtlicher Leitsatz; unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 19.11.2020 - C-238/19 EZ gg. Deutschland (Asylmagazin 12/2020, S. 424 ff.) - asyl.net: M29016)
[...]
22 Der Kläger ist im Oktober 2015 vorverfolgt im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU aus Syrien ausgereist. [...]
24 Zu den flüchtlingsrelevanten Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG kann gemäß dem Regelbeispiel in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt zählen, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Mit dieser Vorschrift ist Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95/EU umgesetzt worden.
25 Der Kläger hat vor seiner Ausreise aus Syrien im Oktober 2015 den Militärdienst, zu dem auch der Wehrdienst zählt, im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG verweigert. Dieser Tatbestand verlangt nicht, dass der Wehrpflichtige vor der Ausreise seine ablehnende Haltung gegenüber der Militärverwaltung förmlich zum Ausdruck bringt und sich dadurch einer Bestrafung oder Strafverfolgung aussetzt, wenn das Recht des Herkunftsstaates kein Verfahren vorsieht, das eine Verweigerung des Militärdienstes ermöglicht (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 – juris Rn. 32). Dies bedeutet zugleich, dass eine ausdrückliche Ablehnung des Wehdienstes nicht erforderlich ist (anders noch OVG Münster, Urteil vom 4. Mai 2017 – 14 A 2023/16.A – juris Rn. 95, das den Begriff vom Wortlaut her auslegt). Es reicht vielmehr grundsätzlich aus, dass der Betroffene aus seinem Herkunftsland flieht, ohne sich der Militärverwaltung zur Verfügung zu stellen, weil er den Wehrdienst nicht leisten möchte (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 – juris Rn. 32). Gemessen daran kann einem Schutzsuchenden, der sich auf § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG beruft, grundsätzlich auch nicht allein entgegengehalten werden, er sei noch kein Militärangehöriger (noch offen gelassen BVerwG, Beschluss vom 7. November 2019 – 1 B 77/19 – juris Rn. 6; Urteil vom 22. Mai 2019 – 1 C 10/18 – juris Rn. 22; verneint OVG Hamburg, Urteil vom 1. Dezember 2020 - 4 Bf 205/18.A – juris Rn. 72) oder er habe noch keinen Einberufungsbefehl erhalten. Dies gilt in Bezug auf die Verhältnisse in Syrien vor der Ausreise des Klägers umso mehr, als die Modalitäten einer Einberufung variierten und es auch allgemeine öffentliche Aufrufe zur Meldung im Rekrutierungsbüro gab. [...]
33 Der Kläger hat seinen Wehrdienst verweigert, indem er Syrien im Oktober 2015 zumindest auch deshalb – und zudem ohne die erforderliche Ausreiseerlaubnis (vgl. dazu Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 4. Dezember 2020, S. 14; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Fact Finding Mission Report, Syrien, August 2017, S. 24) – verlassen hat, um seiner bevorstehenden Einberufung zu entgehen. Dementsprechend hat er gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge anlässlich seiner Anhörung angegeben, keinen Wehrdienst leisten zu wollen. Dies hat er damit begründet, dass "man entweder jemanden tötet oder stirbt" und ausgeführt, dass er gegen Waffen im Allgemeinen sei und für eine friedliche Revolution. Ferner hat er zu verstehen gegeben, dass er während des Wehrdienstes nicht für die syrische Regierung habe kämpfen wollen, gegen die er seinen Angaben zufolge mehrfach demonstriert hatte. Dies reicht als nachvollziehbare Begründung für die Annahme einer Wehrdienstverweigerung aus. [...]
37 Nach alledem steht es der Annahme einer Wehrdienstverweigerung im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG bei einer Würdigung der maßgeblichen Umstände des Einzelfalles nicht entgegen, dass der Kläger vor seiner Ausreise noch keinen Einberufungsbescheid erhalten hatte bzw. noch nicht konkret aufgefordert worden war, sich zum Antritt des Wehrdienstes zu melden.
38 Die Wehrdienstverweigerung stellte für den Kläger das einzige Mittel dar, das es ihm erlaubte, einer Beteiligung an – noch darzustellenden – Kriegsverbrechen zu entgehen (zu diesem Erfordernis EuGH, Urteil vom 26. Februar 2015 – C-472/13 - juris Rn. 44). Er konnte nicht auf die Wehrpflicht betreffende Ausnahmeregelungen verwiesen werden, soweit diese vor seiner Ausreise im Oktober 2015 in Betracht kamen. [...]
47 Das weitere Tatbestandsmerkmal des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG, wonach die Verweigerung des Militärdienstes eine Strafverfolgung oder Bestrafung zur Folge haben muss, war bei der Ausreise des Klägers im Oktober 2015 ebenfalls erfüllt.
48 Strafrechtliche Sanktionen für Wehrdienstverweigerer und Deserteure waren - und sind bis heute - gesetzlich geregelt. Gegenüber demjenigen, der sich trotz der Einberufung innerhalb einer bestimmten Zeit nicht zum Wehrdienst meldet, wird sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten je nach den tatsächlichen Umständen gemäß Art. 99 des Militärstrafgesetzbuches (Legislative Decree No. 61/1950 in der Übersetzung des UNHCR) eine Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren verhängt. Desertion ins Ausland wird mit noch höheren Freiheitsstrafen (je nach Tatbestand gemäß Art. 101 Militärstrafgesetzbuch bis zu 15 Jahren), Überlaufen zum Feind bzw. Desertion angesichts des Feindes wird mit Todesstrafe bzw. lebenslanger Freiheitsstrafe geahndet (Art. 102 Militärstrafgesetzbuch).
49 Die gesetzlich normierten (Freiheits-)Strafen wurden gegenüber Wehrdienstverweigerern und Deserteuren – zum Teil auch in deren Abwesenheit - tatsächlich verhängt (SFH, Syrien: Vorgehen der syrischen Armee bei der Rekrutierung, Auskunft vom 18. Januar 2018, S. 7). Dies verdeutlichen im Übrigen auch die zahlreichen Amnestien, die ohne eine tatsächlich erfolgte Bestrafung – selbst bei mangelhafter Umsetzung - von vornherein weitgehend sinnlos wären. Die gesetzlichen Sanktionen wurden jedoch nicht immer einheitlich und systematisch, sondern zum Teil willkürlich angewandt (SFH, Auskunft der Länderanalyse vom 11. Juni 2019, Syrien: Aufschub des Militärdienstes für Studenten, S. 6; SFH, Auskunft der Länderanalyse vom 23. März 2017, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion, S. 10). Angesichts dessen existierten neben den gesetzlich vorgesehenen strafrechtlichen Sanktionen weitere – extralegale - Formen einer Bestrafung, die die Qualität von Verfolgungshandlungen erreichten (vgl. auch OVG Münster, Urteil vom 4. Mai 2017 – 14 A 2023/16.A - juris Rn. 40 und 46). Hierzu kann auch eine Zwangsrekrutierung Wehrdienstpflichtiger gehören, die mit einem Einsatz an der Front ohne hinreichende militärische Ausbildung verbunden ist. [...]
54 Die weitere Voraussetzung des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG, wonach der in einem Konflikt verweigerte Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen muss, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG (Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU) fallen, ist hier ebenfalls erfüllt. Zu derartigen Taten zählen u.a. Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen (§ 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG). [...]
57 Gemessen daran war es hier beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger – wenn er sich nicht durch seine Ausreise im Oktober 2015 dem Wehrdienst entzogen hätte – mit hoher Wahrscheinlichkeit als Wehrdienstleistender an den von der syrischen Armee begangenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Buchst. a) der Richtlinie 2011/95/EU unmittelbar oder mittelbar hätte teilnehmen müssen. Er wäre in dem seit 2011 ununterbrochen herrschenden Bürgerkrieg eingesetzt worden, in dem die syrische Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen umfassend und systematisch immer wieder derartige Handlungen begangen hat, und zwar nicht nur punktuell, sondern in dem gesamten Bürgerkriegsgebiet. Wehrdienstleistende wurden nach ihrer Einberufung in die Armee integriert und aufgrund des hohen Bedarfs an Soldaten, der auch wegen der kriegsbedingten Verluste und der Flucht zahlreicher syrischer Männer entstanden war, im Kampfgeschehen eingesetzt, und zwar sehr deutlich über die Dauer des Wehrdienstes hinaus (vgl. SFH, Auskunft der Länderanalyse vom 23. März 2017, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion, S. 2 f., S. 6 f.; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28. März 2015, S. 1 ff.; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Fact Finding Mission Report, Syrien, August 2017, S. 22). [...]
63 Insoweit stellt der EuGH allerdings keine allgemeinen neuen Beweislastregeln zu Art. 2 Buchst. d, Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU auf, die dem von der deutschen Rechtsprechung angelegten Maßstab generell widersprechen. Danach muss das Gericht grundsätzlich davon überzeugt sein, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist. Hierbei trägt – nach Ausschöpfung der gebotenen Amtsermittlung - der Schutzsuchende die materielle Beweislast dafür, dass die (positiven) Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorliegen, sodass ein non liquet zu seinen Lasten geht (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 33/18 – juris Rn. 18, 26). Dies gilt jedenfalls bei einem nicht vorverfolgt ausgereisten Antragsteller hinsichtlich der Frage, ob ihm bei seiner Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht (so BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 33/18 – juris Rn. 26).
64 Ein Sonderfall besteht lediglich dann, wenn es um das Regelbeispiel des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95/EU geht. Nur für diese Konstellation nimmt der EuGH an, dass ein unmittelbarer Beweis für die Verknüpfung zwischen Strafverfolgung und Verfolgungsgrund "besonders schwer" zu erbringen sei, und gelangt deshalb zu einer schutzorientierten Auslegung, indem er - zudem in einem systematisch von Kriegsverbrechen geprägten Bürgerkrieg - eine "hohe Wahrscheinlichkeit" bejaht, dass die Verweigerung des Militärdienstes als Akt politischer Opposition verstanden wird. Eine Generalisierung für den gesamten Anwendungsbereich der Qualifikationsrichtlinie lässt sich daraus nicht ableiten.
65 Gemessen daran spricht hier alles dafür, dass die syrische Regierung dem Kläger im Oktober 2015 wegen seiner Wehrdienstverweigerung eine oppositionelle Haltung als Verfolgungsgrund zugeschrieben hätte, der kausal für die ihm drohende Verfolgungshandlung - Strafe oder Bestrafung - gewesen wäre, vgl. auch § 3b Abs. 2 AsylG.
66 Die von dem EuGH angesprochenen Schwierigkeiten bei der Erbringung von Beweisen für die Kausalität zwischen der Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung und einem Verfolgungsgrund im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 – juris Rn. 55) bestanden auch für den Kläger, der im Übrigen deutlich gemacht hat, dass seine Wehrdienstverweigerung nicht allein auf einer allgemeinen Furcht vor dem Krieg beruhte, sondern er sich letztlich als Gegner des Regimes ansieht. Der Kläger hat Syrien bereits vor einer erlittenen Sanktion verlassen und es fehlt an validen Referenzfällen von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland, die bei der erforderlichen empirischen Auswertung herangezogen könnten (vgl. UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien, Februar 2017 - deutsche Version April 2017 -, S. 5). Hinzu kommt, dass die Verfasser der einschlägigen Erkenntnisse (Auswärtiges Amt, Internationale Organisationen, NGOs) vielfach auf Dritte angewiesen waren und sind und die vor Ort tätigen Organisationen zum Schutz der von ihnen Befragten deren Namen oftmals nicht nennen können (vgl. dazu auch Lehmann, NVwZ 2018, 293, 295). Damit bewegt sich die Beurteilung der zur Verfügung stehenden Tatsachengrundlagen in einem weit gespannten Wertungsrahmen, der – wie die bisherige divergierende obergerichtliche Rechtsprechung anschaulich verdeutlicht – dazu geführt hat, dass die Oberverwaltungsgerichte trotz identischer Tatsachengrundlagen sowohl die eine wie auch die andere Ansicht vertreten haben (vgl. z.B. einerseits OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. Februar 2019 – OVG 3 B 27.17 – juris und OVG Hamburg, Urteil vom 11. Januar 2018 – 1 Bf 81/17.A – juris, sowie andererseits VGH Kassel, Urteil vom 26. Juli 2018 – 3 A 403/18.A – juris und OVG Weimar, Urteil vom 15. Juni 2018 – 3 KO 162/18 -). 67 Innerhalb dieses Wertungsrahmens lässt das Urteil des EuGH endgültig nicht mehr die Annahme zu, es müsse mangels tatsächlicher Umstände, die eine politische Verfolgung von Wehrdienstentziehern belegten, bewertet werden, ob ein asylrechtlich relevanter Verfolgungsgrund aus Sicht des syrischen Staates plausibel sei (so aber noch OVG Münster, Urteil vom 4. Mai 2017 – 14 A 2023/16.A – juris Rn. 60). Ebenso wenig kann auf eine lediglich allgemeine Furcht Wehrdienstpflichtiger vor einem Kriegseinsatz abgestellt werden (so OVG Münster, Urteil vom 4. Mai 2017 – 14 A 2023/16.A – juris Rn. 61 ff.), die das syrische Regime von einer oppositionellen Haltung zu unterscheiden wisse (OVG Münster, Urteil vom 4. Mai 2017 – 14 A 2023/16.A – juris Rn. 70). Ein Rückgriff auf "Lebenserfahrung" oder auf eine "vernünftige Betrachtung" mag zwar nicht per se unzulässig sein, bedarf aber gerade angesichts eines von Terror und Menschenrechtsverletzungen geprägten Regimes, das weder rechtsstaatlichen noch rationalen Mustern folgt, ebenfalls einer nachvollziehbaren Begründung (vgl. dazu auch Lehmann, NVwZ 2018, 293, 295). Vor diesem Hintergrund ist die von dem EuGH angenommene Vermutungsregelung grundsätzlich geeignet, zu einer erforderlichen Vereinheitlichung der nationalen Rechtsprechung und der Rechtsprechung der Mitgliedstaaten beizutragen.
68 Auch wenn eine Bewertung der vor der Ausreise des Klägers maßgeblichen Tatsachengrundlage in Bezug auf die geforderte Konnexität zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund jedenfalls in gewissem Maße diffus bleibt und für eine vollständige gerichtliche Überzeugungsbildung eher nicht genügen dürfte, besteht aber eine – ausreichende - Vermutung, dass die Bestrafung von Wehrdienstentziehern (auch) aus politischen Gründen erfolgte, weil sie als vermeintliche politische Gegner des Regimes diszipliniert werden sollten. Diese Vermutung kann hier nicht zu Lasten des Klägers entkräftet oder widerlegt werden, weil eine Gesamtbetrachtung und -würdigung der Erkenntnisse dies nicht hergibt.
69 Schon der Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes vom 17. Februar 2012 geht davon aus, dass der syrische Präsident seine Herrschaft unter anderem auf die Loyalität der Streitkräfte stützt (Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien, S. 6). Dies kann man dahingehend verstehen, dass diejenigen syrischen Männer, die den Wehrdienst verweigern, als illoyal angesehen werden. Einen derartigen Gedanken greift auch der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes auf, wonach Rückkehrende innerhalb der besonders regimenahen Sicherheitsbehörden als Feiglinge und Fahnenflüchtige, schlimmstenfalls sogar als Verräter bzw. Anhänger von Terroristen gelten (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 4. Dezember 2020, S. 26). [...]
77 Da mithin von einer Vorverfolgung des Klägers durch das syrische Regime auszugehen ist, kommt ihm hinsichtlich der Frage, ob ihm bei seiner unterstellten Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zugute. Danach besteht die (widerlegbare) Vermutung, dass sich eine frühere Verfolgung oder Schädigung bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen wird. Anders liegt es nur, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Kläger erneut von solcher Verfolgung bedroht wird (vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. September 2019 – 1 B 43/19 – juris Rn. 7 und Rn. 11; Urteil vom 19. April 2018 – 1 C 29/17 – juris Rn. 15; Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – juris Rn. 22). Derartige stichhaltige Gründe liegen hier nicht vor.
78 Unabhängig davon würde dem Kläger auch dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung drohen, wenn er nicht vorverfolgt ausgereist wäre.
79 Die bereits dargestellte Rechtslage zur Wehrpflicht hat sich nicht geändert. Danach unterliegt der 1991 geborene Kläger, der noch keinen Wehrdienst geleistet hat, weiterhin der Wehrpflicht. Gleiches gilt in Bezug auf einen möglichen tatsächlichen Einsatz des Klägers als Wehrdienstleistender im Rahmen der aktuellen militärischen Auseinandersetzungen. Er muss befürchten, dass er bei einer Rückkehr (zwangs-)rekrutiert wird. Dies lässt sich zur Überzeugung des Senats - trotz einiger Nuancen und abweichender Quellen - jüngeren Erkenntnissen entnehmen, die zum aktuellen Bedarf und zur Rekrutierungspraxis der Syrischen Armee sowie zum Einsatz von Wehrdienstleistenden und Reservisten an der Front folgendes festhalten:
80 Der Danish Immigration Service berichtet im Mai 2020, dass die Rekrutierung zur Syrischen Armee den meisten Quellen zufolge in den zurückliegenden ein bis zwei Jahren zugenommen habe. Dies sei u.a. auf die Rückeroberung von Gebieten durch die Syrische Armee und die dort lebenden Männer sowie auf den hohen Bedarf an der Front in Idlib zurückzuführen (Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 9). Auch das Auswärtige Amt geht in seinem Lagebericht vom 4. Dezember 2020 davon aus, dass der Personalbedarf des syrischen Militärs aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch bleibe. Seit Dezember 2018 hätten sich die Rekrutierungsbemühungen aufgrund dessen sogar noch verstärkt (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 4. Dezember 2020, S. 14). In den zurückeroberten Gebieten, in denen das syrische Regime bestrebt sei, schnellstmöglich seine Kontrolle und Autorität wiederherzustellen, komme es – ungeachtet von Versöhnungsabkommen, die zahlreichen Quellen zufolge ohnehin nicht eingehalten werden (vgl. z.B. EASO, Country Guidance: Syria, Common analysis and guidance note, September 2020, S. 60) - unter anderem zu Zwangsrekrutierungen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 4. Dezember 2020, S. 30; EASO, Country Guidance: Syria, Common analysis and guidance note, September 2020, S. 60; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Syrien, zuletzt aktualisiert am 17. Oktober 2019, S. 44).
EASO kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass der aktuelle Bedarf an Rekruten trotz der gewissen Stabilisierung der militärischen Lage relativ identisch geblieben sei (EASO, Country Guidance: Syria, Common analysis and guidance note, September 2020, S. 66). [...]
96 Bei einer Gesamtwürdigung ist der Senat aufgrund der ausgewerteten Erkenntnisse überzeugt, dass Wehrdienstverweigerern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als Bestrafung weiterhin eine Einziehung und ein Einsatz im Kampfgebiet – auch ohne hinreichende Ausbildung - droht oder dass strafrechtliche Sanktionen verhängt werden. Soweit berichtet wird, dass keine Freiheitsstrafen drohten, wird dies nicht auf eine grundsätzlich geänderte Haltung des syrischen Regimes, sondern (lediglich) auf einen hohen Bedarf an Soldaten und überfüllte Gefängnisse zurückgeführt (vgl. Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 31). Für eine noch immer drohende Bestrafung spricht im Übrigen auch der Erlass von Amnestien durch das syrische Regime, die bis in die jüngste Vergangenheit – unabhängig von ihrer tatsächlichen Umsetzung - auch Wehrdienstverweigerer erfassen. Zugleich wird hierdurch die – noch weiter darzulegende – mangelnde Wirksamkeit der Amnestien verdeutlicht, die ohnehin nur eine begrenzte Zeit gelten. Bei einer faktischen Aussetzung strafrechtlicher Sanktionen wären die Amnestien von vornherein sinnlos.
97 Für außerhalb Syriens lebende Männer, die ihren Wehrdienst nicht geleistet haben, oder für Reservisten soll eine Besuchsmöglichkeit in Syrien für 90 Tage im Jahr bestehen (Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 29). Der Besuch muss unter Vorlage bestimmter Papiere beantragt werden. Es wird von Männern berichtet, die einen solchen Antrag erfolgreich stellen und dann zu Besuchszwecken nach Syrien reisen konnten, ohne einberufen zu werden. Dies soll jedoch gerade nicht für Wehrdienstentzieher und Deserteure – und damit auch nicht für den Kläger – gelten (Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 30).
98 Soweit die obergerichtliche Rechtsprechung davon ausgeht, dass allein die Entziehung vom Militärdienst in der Regel nicht (mehr) zu einem Wehrstrafprozess führe und Wehrdienstentzieher nach weitgehend übereinstimmender Quellenlage im Allgemeinen unverzüglich eingezogen würden (so VGH München, Urteil vom 21. September 2020 – 21 B 19.32725 – juris Rn. 42; ähnlich OVG Lüneburg, Beschluss vom 16. Januar 2020 – 2 LB 731/19 – juris Rn. 57), folgt der Senat dieser Ansicht aus den dargelegten Gründen nicht. Diese Rechtsprechung bezieht im Übrigen noch nicht alle Erkenntnisse ein, die Gegenstand der vorliegenden Entscheidung sind. Dies gilt vor allem für den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 4. Dezember 2020. Unabhängig davon misst der Senat der von dem VGH München in seinem Urteil vom 21. September 2020 (– 21 B 19.32725 – juris Rn. 42) zur Begründung angeführten Referenz "UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR’s Country Guidance on Syria, 7. Mai 2020, S. 9" eine andere Bedeutung bei. Zwar heißt es dort, dass gegenüber Wehrdienstentziehern in der Praxis eher keine Kriminalstrafen nach dem Militärstrafgesetzbuch verhängt würden. Allerdings wird zugleich festgestellt, dass das syrische Regime sie nach ihrer Inhaftierung innerhalb von Tagen oder Wochen zur Bestrafung wegen illoyalen Verhaltens – oftmals nur mit minimaler Ausbildung - an die Front schicke. Auch damit wird deutlich, dass Wehrdienstentzieher weiterhin einer Bestrafung im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG unterliegen, [...]
100 Schließlich ist es bei einem Einsatz des Klägers in der syrischen Armee nach unterstellter Rückkehr auch aktuell beachtlich wahrscheinlich, dass sein Wehrdienst weiterhin Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen umfasst. Es spricht daher erst recht nichts dafür, dass die für den Kläger streitende Vermutung widerlegt wäre. Dies gilt umso mehr, als ihm – wie dargelegt - ein Einsatz an der Front bzw. eine Beteiligung an Kampfhandlungen droht.
101 Trotz weitreichender militärischer Erfolge des syrischen Regimes und seiner Unterstützer sind – wie bereits ausgeführt - noch immer Teile Syriens von erheblichen militärischen Einsätzen betroffen. So kam es z.B. von Ende September 2020 bis Anfang Oktober 2020 zu umfangreichen Kampfhandlungen zwischen bewaffneten Gruppen aus den Gouvernements Daraa und Suweida, zu denen auch Truppen und Milizen des Regimes zählten. Schon zuvor hatte es dort im März 2020 umfangreiche Kampfhandlungen gegeben (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 4. Dezember 2020, S. 7 f.). Auch im Nordwesten setzt sich die Militäroffensive fort. Ende 2019 wurde dort zivile Infrastruktur wie Schulen, Krankenhäuser, Märkte und Flüchtlingslager aus der Luft angegriffen. Das VN-Hochkommissariat für Menschenrechte zählte zwischen April 2019 und Februar 2020 mindestens 1.750 zivile Opfer, wofür ganz überwiegend das Regime und seine Verbündeten verantwortlich sein sollen. Im selben Zeitraum sind fast eine Million Menschen aus dem Raum Idlib vertrieben worden (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 4. Dezember 2020, S. 8). Von Januar 2020 bis September 2020 wurden zahlreiche – auch durch das Regime begangene – militärische Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen dokumentiert. Ziele der Angriffe durch das syrische Regime waren von Beginn an und sind weiterhin vor allem Kräfte der bewaffneten Opposition und weite Teile der Zivilbevölkerung. Hierzu gehören Angriffe auf die zivile Infrastruktur - auch Krankenhäuser und Schulen - sowie der Einsatz von Fassbomben, auch gegenüber der Zivilbevölkerung, bis Oktober 2020 (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 4. Dezember 2020, S. 7, S. 27). Am 22. September 2020 hat die internationale unabhängige VN-Untersuchungskommission zur Menschenrechtslage in Syrien erneut festgestellt, dass Kräfte des syrischen Regimes, zu denen auch das Militär zählt, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – vor allem gegenüber der Zivilbevölkerung - begangen haben (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 4. Dezember 2020, S. 16 f.).
102 Vor diesem Hintergrund ist es hier nicht entscheidungserheblich, ob die landesweit veränderte Lage dazu geführt hat, dass kriegerische Auseinandersetzungen mit besonderem Potenzial für die Begehung von Kriegsverbrechen in der Gesamtheit deutlich abgenommen haben (so OVG Lüneburg, Beschluss vom 16. Juli 2020 – 2 LB 39/20 – juris Rn. 56), denn es reicht - auch bei einer zusätzlich unterstellten fehlenden Vorverfolgung des Klägers - aus, dass weiterhin Kriegsverbrechen unter dem Einsatz von Wehrpflichtigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit begangen werden. Soweit die erstinstanzliche Rechtsprechung eine Mitwirkung Wehrdienstleistender an Kriegsverbrechen mit dem Hinweis auf die "Lebenserfahrung" und im Hinblick darauf, dass es für Offiziere und "normale Soldaten" "geradezu selbstmörderisch" wäre, Kriegsverbrechen unter systematischer Beteiligung von Wehrdienstleistenden zu begehen, verneint (so VG Berlin, Urteil vom 8. Dezember 2020 – VG 13 K 146.17 A - juris Rn. 42), handelt es sich um eine nicht überzeugende Hypothese, die dem syrischen Regime ein rationales Vorgehen unterstellt, und die zudem – wie dargelegt - in tatsächlicher Hinsicht keine ausreichende Stütze findet. Nicht nur bei einem Einsatz Wehrdienstleistender an der Front, sondern auch bei deren Beteiligung an sonstigen Kampfhandlungen ist es trotz der veränderten militärischen Lage angesichts der weiterhin festzustellenden umfassenden und wiederholten Begehung von Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit beachtlich wahrscheinlich, dass Wehrdienstleistende an solchen Handlungen mitwirken.
103 Ebenso wenig ist widerlegt, dass bei einer Rückkehr des Klägers die ihm drohende Strafverfolgung oder Bestrafung unter den in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG genannten Voraussetzungen weiterhin an einen in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund anknüpft. Der Senat hält es sogar unabhängig davon unter Berücksichtigung des von dem EuGH entwickelten und oben dargelegten Maßstabs für beachtlich wahrscheinlich, dass die syrische Regierung dem Kläger wegen seiner damaligen und einer weiterhin aufrecht erhaltenen Wehrdienstverweigerung eine oppositionelle Haltung als Verfolgungsgrund zuschreiben wird, der sich als kausal für die ihm drohende Verfolgungshandlung - Strafe oder Bestrafung – darstellt. Daher kommt es hier nicht entscheidungserheblich darauf an, dass sich der Kläger selbst als oppositionell betrachtet und sich auf eigene und familiäre politische Aktivitäten vor seiner Ausreise beruft. [...]
107 Vor diesem Hintergrund teilt der Senat nicht die in der obergerichtlichen Rechtsprechung vorgenommene Bewertung, dass eine veränderte tatsächliche Lage in Syrien die Annahme eines Verfolgungsgrundes nicht mehr rechtfertige (so aber VGH München, Urteil vom 21. September 2020 – 21 B 19.32725 – juris Rn. 46 ff., 61 ff.). Diese Auffassung wird – angesichts fehlender Referenzfälle von ückkehrern aus dem westlichen Ausland – vor allem mit Demobilisierungsmaßnahmen und den seit Oktober 2018 ergangenen Amnestien begründet. Das syrische Regime strebe eine Normalisierung der Verhältnisse an und werde Männern, die sich ihrer Verpflichtung zum Militärdienst durch Flucht in das Ausland entzogen hätten, nunmehr versöhnlich gegenübertreten. Der syrische Staat fördere die Rückkehr, um sich die Unterstützung durch die internationale Staatengemeinschaft zu sichern. Trotz der im Einzelnen verbreiteten Willkür verhalte sich der syrische Staat jedenfalls nicht in Bezug auf eine Bestrafung von Wehrdienstentziehern unberechenbar.
108 Der Senat ist, wie bereits unter Hinweis auf entsprechende Erkenntnisse dargelegt, davon überzeugt, dass die syrische Armee weiterhin Bedarf an Rekruten als Soldaten hat und diese im Rahmen von Kriegshandlungen einsetzt, sowie davon, dass Rückkehrer aus dem westlichen Ausland weiterhin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestraft werden, wenn sie den Wehrdienst verweigert haben oder weiterhin verweigern. [...]