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Rechtsprechungsübersicht: Pandemiebedingte Gefahrenlage bei Rückkehr nach Afghanistan

Die Corona-Pandemie hat weiterhin weltweit Auswirkungen auf die gesundheitliche Versorgung und wirtschaftliche Lage. In Asylverfahren müssen Veränderungen, die in den Herkunftsstaaten von Schutzsuchenden erfolgen, Beachtung finden. In Deutschland haben sich die pandemiebedingten Veränderungen in Afghanistan am deutlichsten auf die Rechtsprechung in Asylverfahren ausgewirkt. Hier soll ein kurzer Überblick über die uns bisher vorliegenden Gerichtsentscheidungen gegeben werden.

Bei der Prüfung möglicher Abschiebungsverbote ist zu berücksichtigen, ob die Rückkehr in das jeweilige Herkunftsland möglich und zumutbar ist. Afghanistan ist hier vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und ihrer Auswirkungen auf die Lebenssituation vor Ort in den letzten Monaten in besonderer Weise in den Fokus der Rechtsprechung gerückt (siehe auch die Rechtsprechungsübersicht vom August 2020).

Die Diskussion in der Rechtsprechung dreht sich um die Frage, inwieweit es alleinstehenden, erwerbsfähigen Männern möglich ist, in Afghanistan ihr Existenzminimum zu erwirtschaften. Diese Frage wird vor allem bei der Prüfung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG berücksichtigt, welches festgestellt werden muss, wenn bei einer Rückkehr ins Herkunftsland unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nach Art. 3 EMRK droht. Eine derartige Gefahr kann sich auch aus generell prekären humanitären Umständen im Herkunftsstaat ergeben. Das Bundesverwaltungsgericht hat hierfür hohe Hürden gesetzt, indem es eine solche Gefahr nur in besonderen Ausnahmefällen und bei einem sehr hohen Gefährdungsniveau annimmt (Rspr. seit 2013, asyl.net: M20529). Bei der hierfür vorzunehmenden Gefahrenprognose werden sowohl allgemeine Umstände im Herkunftsland – wie die Nahrungsmittel- und Gesundheitsversorgung oder die Arbeitsmarktsituation – als auch individuelle Umstände – etwa die physische und psychische Gesundheit, der Bildungsgrad und die Unterstützungsnetzwerke der Betroffenen – miteinbezogen. In dieser Gefahrenprognose müssen aktuell auch die wirtschaftlichen und gesundheitsbezogenen Auswirkungen der Corona-Pandemie Beachtung finden.

Uneinheitliche Rechtsprechung vor Pandemiebeginn

Schon vor Beginn der Corona-Pandemie gab es keine einheitliche Rechtsprechung zu der Frage, unter welchen Umständen Personen aus Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zuzusprechen war. Tendenziell wurde dies eher Familien, alleinstehenden Frauen oder Personen mit Erkrankungen, die eine Arbeitsmarktintegration erschweren, zugesprochen. Bei alleinstehenden Männern ohne gesundheitliche Einschränkungen wurde hingegen die Rückkehr eher für zumutbar erachtet, weil sie bei einer Rückkehr durch sogenannte Tageslohnarbeiten ein Leben "zumindest am Rande des Existenzminimums" führen könnten. Die Mehrheit der Obergerichte nahm in diesen Fällen an, dass das vom BVerwG geforderte Gefährdungsniveau bei einer Rückkehr nicht erfüllt sei, wenn nicht noch individuelle erschwerende Faktoren hinzukamen (siehe etwa OVG Niedersachsen, asyl.net: M27153 oder VGH Hessen, asyl.net: M27650). Diese Rechtsprechung war immer starker Kritik ausgesetzt, da es umstritten ist, ob »ein Leben am Rande des Existenzminimums« angesichts der volatilen Sicherheitslage und angespannten humanitären Situation in Afghanistan tatsächlich möglich ist.

Pandemiebedingte Rechtsprechungsänderung

Aufgrund der erheblichen Verschlechterung der humanitären Umstände durch die Corona-Pandemie (ACCORD, Fokusrecherche zu Afghanistan, ecoi.net: 2031621), wurde an dieser Rechtsprechung teilweise bereits seit dem Frühjahr 2020 nicht mehr festgehalten. Eine Reihe von Verwaltungsgerichten stellten Abschiebungsverbote auch für alleinstehende erwerbsfähige Männer fest (so etwa VG Karlsruhe, asyl.net: M28488; VG Kassel, asyl.net: M28531; VG Magdeburg, asyl.net: M28607; VG Potsdam, asyl.net: M28465). Andere blieben jedoch bei der Schutzverwehrung, wenn keine erschwerenden Umstände für die betroffenen Männer vorlagen (so etwa VG Freiburg, asyl.net: M28635; VG Saarland, asyl.net: M29230).

Uneinheitliche obergerichtliche Rechtsprechung zu Pandemieauswirkungen

Auch in der mittlerweile vorliegenden obergerichtlichen Rechtsprechung gehen die Auffassungen über die humanitäre Lage in Afghanistan weiterhin auseinander. Das OVG Bremen (asyl.net: M29206 und M29195) und der VGH Baden-Württemberg (asyl.net: M29309) gehen von einer nochmaligen Verschlechterung der humanitären Bedingungen in Afghanistan aus und haben deshalb ihre bisherige Rechtsprechung zu alleinstehenden erwerbsfähigen Männern aus Afghanistan, nach der nur in Ausnahmefällen ein Abschiebungsverbot festzustellen ist, aufgegeben. Die Corona-Pandemie habe derart weitreichende Auswirkungen auf die afghanische Wirtschaft, dass grundsätzlich nicht zu erwarten sei, dass sich Betroffene durch Gelegenheitsarbeiten ein Leben am Rande des Existenzminimums sichern könnten. Es sei auch nicht wahrscheinlich, dass sich die Situation in absehbarer Zukunft ändern werde.

In beiden Fällen vor dem OVG Bremen sah das Gericht die erhebliche Gefahr einer "Verelendung" insbesondere als gegeben an, weil die 22 bzw. 23 Jahre alten Kläger der benachteiligten Minderheit der Hazara angehören und nach Überzeugung des Gerichts nicht über familiäre Netzwerke in Afghanistan verfügen. Beide seien zudem mit dem Alltagsleben in Afghanistan nicht vertraut, weil sie im Iran geboren wurden und bis zu ihrer Ausreise nach Deutschland auch dort gelebt hatten.

Der VGH Baden-Württemberg hatte zu den in Kabul – unter besonderer Berücksichtigung der Pandemieauswirkungen – herrschenden Existenzbedingungen alleinstehender erwerbsfähiger Rückkehrer ohne Unterstützungsnetzwerk ein Gutachten eingeholt. Die Sachverständige kommt darin zu dem Schluss, dass es für aus Europa abgeschobene Personen mittlerweile »an Unmöglichkeit« grenze, ohne finanzielle Unterstützung ihren Lebensunterhalt zu bestreiten (ecoi.net: 2045649). In seiner Entscheidungsbegründung geht das Gericht unter Bezug hierauf davon aus, dass auch eine besondere Belastbarkeit, Durchsetzungsfähigkeit oder fachliche Qualifikation für sich allein nicht ermöglichten, das Existenzminimum nachhaltig zu sichern. Der Auffassung des VGH Baden-Württemberg haben sich mittlerweile das VG Stuttgart und das VG Sigmaringen, die beide in dessen Gerichtsbezirk liegen, angeschlossen.

Der VGH Bayern (asyl.net: M29212) und das OVG Rheinland-Pfalz (asyl.net: M29356) bleiben trotz Annahme einer pandemiebedingten Verschlechterung der humanitären Bedingungen in Afghanistan bei ihrer Einschätzung, dass es alleinstehenden erwerbsfähigen Männern, die eine der Landessprachen beherrschen, nach wie vor grundsätzlich möglich ist, nach Afghanistan zurückzukehren und dort ein Leben am Rande des Existenzminimums zu führen. Dies gelte jedenfalls für belastbare und durchsetzungsfähige junge Männer und/oder für Personen, die über familiäre bzw. soziale Beziehungen verfügen.

Aufgrund der Dynamik des Pandemiegeschehens sei es laut VGH Bayern nicht möglich, eine verlässliche Einschätzung hinsichtlich mittelfristiger Auswirkungen auf die Lebensbedingungen in einzelnen Ländern abzugeben. Aktuelle Entwicklungen, die einer Abschiebung entgegenstehen, seien aber im Rahmen der Abschiebung von der Ausländerbehörde zu berücksichtigen bzw. wäre ihnen mit einem Folgeantrag zu begegnen. Hier vertritt der VGH Bayern explizit eine andere Auffassung als das OVG Bremen und der VGH Baden‑Württemberg. Diese gehen zwar auch von einer unvorhersehbaren Dynamik des Infektionsgeschehens aus, schätzen den gravierenden Einschnitt in die afghanische Wirtschaft durch die Pandemie aber als länger anhaltend ein.

Das OVG Niedersachsen (asyl.net: M29355) positionierte sich in einem Beschluss, in dem es die Berufung des BAMF zurückwies, zwar nicht neu zu der vorliegenden Konstellation, stellte allerdings fest, dass auch aus einer Pandemie folgende schlechte humanitäre Bedingungen in »ganz besonderen Ausnahmefällen« zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führen können.

Beschluss des BVerfG

Auch das Bundesverfassungsgericht (asyl.net: M29340) hat sich in einem Eilbeschluss mit der Lage in Afghanistan befasst. Das BVerfG hat dabei in einer Entscheidung des VG Schleswig-Holstein eine Verletzung des Gebots effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG festgestellt, da das VG keine ausreichende Sachverhaltsaufklärung hinsichtlich der coronabedingten Veränderungen der Lebensbedingungen in Afghanistan vorgenommen habe. Das VG habe sich „nicht ansatzweise“ mit dem „möglicherweise bereits erfolgten Zusammenbruch der wirtschaftlichen Grundlage für arbeitsfähige Rückkehrer“ aufgrund der Pandemie auseinandergesetzt. Das BVerfG betont zudem, dass das zuständige Gericht die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Gesundheitssystem beachten müsse, wenn es eine betroffene Person auf in Afghanistan vorhandene Behandlungsmöglichkeiten verweist. Für Personen, die eine medizinische Behandlung benötigen, könne sich auch ein gesundheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG ergeben. Erneut verwies das BVerfG auf den verfassungsrechtlichen Rang der Überprüfung der Rückkehrsituation in dem Staat, in den eine Person abgeschoben werden soll, da das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verletzt sein könne (unter Bezug auf einen früheren Beschluss: asyl.net: M25301).

Fazit

Die Rechtsprechung hinsichtlich der humanitären Lage in Afghanistan ist weiterhin nicht einheitlich und auf obergerichtlicher Ebene zeichnet sich bei der Einschätzung der Auswirkungen der Corona-Pandemie ein deutlicher Dissens ab. Zwar gehen die Obergerichte übereinstimmend davon aus, dass sich die humanitäre Lage in Afghanistan deutlich verschlechtert hat. Einige Gerichte folgen allerdings daraus weiterhin grundsätzlich keine Gefährdung alleinstehender, erwerbsfähiger Rückkehrer. Nur im Ausnahmefall, könne hier eine Einzelfallprüfung ergeben, dass die Gefahr wegen individueller erschwerender Umstände dennoch besteht. Das OVG Bremen und der VGH Baden-Württemberg drehen hingegen in den jüngsten Entscheidungen das Regel-Ausnahme-Verhältnis um und gehen davon aus, dass eine Gefahr einer Art. 3 EMRK-Verletzung für Rückkehrer grundsätzlich besteht. Nur ausnahmsweise könnten begünstigende Umstände vorliegen und daher von der Überlebensfähigkeit in Afghanistan auszugehen sein.

Die Gerichte sehen also in jedem Fall weiterhin eine Einzelfallprüfung als notwendig an. Die Schwelle für die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots wird aber mittlerweile gänzlich unterschiedlich angesetzt. Somit bleibt es zu einem erheblichen Teil dem Wohnort und der Ortszuständigkeit der Gerichte überlassen, ob für schutzsuchende alleinstehende Männer aus Afghanistan ein Abschiebungsverbot festgestellt wird oder nicht.

 

  • Diese Meldung ist eine gekürzte Version des Beitrags von Lea Hupke im Asylmagazin 3/2021.

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