Abschiebungsverbot für alleinstehenden, jungen und gesunden Mann aus Afghanistan:
"Angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie sind auch im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK derzeit regelmäßig erfüllt, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen (Modifizierung der Senatsrechtsprechung, [...]).
Besondere begünstigende Umstände können insbesondere dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt."
(Amtliche Leitsätze)
Anmerkung:
[...]
I.
20 Die zulässige Berufung hat Erfolg. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1, 1. HS AsylG) hat der Kläger einen Anspruch auf Feststellung, dass in Bezug auf ihn die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hinsichtlich der Islamischen Republik Afghanistan vorliegen (1.). [...]
21 1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Unter bestimmten Voraussetzungen können auch schlechte humanitäre Verhältnisse eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen (a). Nach der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung waren diese Voraussetzungen im Falle eines leistungsfähigen erwachsenen Rückkehrers nach Afghanistan regelmäßig nicht erfüllt, selbst wenn er dort nicht über ein aufnahmebereites und tragfähiges, familiäres oder soziales Netzwerk verfügt (b). Die humanitäre Lage in Afghanistan hat sich seit Ausbruch der COVID-19-Pandemie gravierend verschlechtert (c). Vor diesem Hintergrund sieht sich der erkennende Senat dazu veranlasst, seine bisherige Rechtsprechung zu modifizieren (d). Danach liegt im Falle des Klägers ein ganz außergewöhnlicher Fall vor, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung im Sinne von Art. 3 EMRK zwingend entgegenstehen (e). [...]
29 b) Nach der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Senats führte bislang die humanitäre Situation in Kabul nicht zu dem Schluss, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen, selbst wenn sie nicht über ein familiäres oder sonstiges soziales Netzwerk verfügen, bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllt sind, sofern nicht besondere, individuell erschwerende Umstände festgestellt werden können [...]. [...]
32 c) Die bereits vor Ausbruch der Pandemie äußerst problematischen humanitären Bedingungen in Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung aus Deutschland (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Urteile vom 29.10.2019 - A 11 S 1203/19 -, juris Rn. 101, und vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 -, juris Rn. 202) haben sich durch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie weiter verschärft (aa). Dies gilt auch für die anderen Landesteile Afghanistans, insbesondere für die Städte Herat und Mazar-e Sharif (bb). Dass sich die durch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie bedingte gravierende Zuspitzung der humanitären Situation kurzfristig erheblich verbessern wird, steht nicht zu erwarten (cc). [...]
36 Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer derzeit durch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie massiv verschlechterten wirtschaftlichen Situation (1), verschärft durch verstärkte Migrationsbewegungen (2), eine schlechte Versorgungslage (3) und eine volatile Sicherheitslage (4). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (5), wobei es zu berücksichtigen gilt, dass sie unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (6).
37 (1) Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Es rangiert weiterhin auf einem der untersten Plätz des UNDP Human Development Index (2019: 170 von 189; 2018: 168) (Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 16.07.2020, Stand: Juni 2020, S. 6; BAMF, Länderinformation COVID-19-Pandemie, Juni 2020, S. 20). Die Lebenserwartung bei Geburt beträgt nach Angaben des UNDP im Durchschnitt 64,5 Jahre (zitiert nach BAMF, Länderinformation COVID-19-Pandemie, Juni 2020, S. 20; vgl. auch BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 21.07.2020, S. 339, Stand: 22.04.2020). In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80 % ausgegangen (Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 16.07.2020, Stand: Juni 2020, S. 6, 22; EASO, Afghanistan Country of Origin Information Report - Key socio-economic indicators - Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020, S. 36). [...]
59 (2) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, aber auch (dazu weiter unten) hinsichtlich der Wohnsituation sowie hinsichtlich der Lebenshaltungskosten - nicht zuletzt aufgrund von Migrationsbewegungen (SFH, Afghanistan: Gefährdungsprofile, 30.09.2020, S. 15). Die Versorgung einer hohen Anzahl an Rückkehrern, vor allem aus den Nachbarländern Iran und Pakistan, sowie an Binnenvertriebenen stellt Afghanistan vor große Herausforderungen (grundlegend hierzu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 -, juris Rn. 287 ff.; vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 16.07.2020, Stand: Juni 2020, S. 1, 18; SFH, Afghanistan: Gefährdungsprofile, 30.09.2020, S. 22; EASO, Afghanistan Country of Origin Information Report - Key socio-economic indicators - Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020, S. 15). [...]
65 (3) Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer (grundlegend bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 -, juris Rn. 261 ff.; zur Lage in Kabul: Urteile vom 29.11.2019 - A 11 S 2376/19 -, juris Rn. 73 ff., und vom 29.10.2019 - A 11 S 1203/19 -, juris Rn. 42 ff.). Die bereits vor Ausbruch der Pandemie prekäre Lage hat sich seit März 2020 stetig weiter verschärft (Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 16.07.2020, Stand: Juni 2020, S. 22 f.). Nach Angaben des Welternährungsprogramms entwickelt sich die COVID-19-Pandemie in Afghanistan von einem Gesundheitsnotfall zu einer Nahrungsmittel- und Lebensunterhaltskrise (zitiert nach ACCORD, Afghanistan: Covid-19, 5. Juni 2020, S. 4; ebenso UNOCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report, 20.05.2020, S. 7).
66 Die SFH gibt an, inzwischen seien in allen Provinzen des Landes insgesamt geschätzte 9,4 Millionen Menschen von akuter humanitärer Not betroffen (SFH, Afghanistan: Gefährdungsprofile, 30.09.2020, S. 15; vgl. auch EASO, Afghanistan Country of Origin Information Report - Key socio-economic indicators - Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020, S. 39). UNOCHA erwartet, dass im Jahre 2020 landesweit bis zu 14 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe (u.a. Unterkunft, Nahrung, sauberes Trinkwasser und medizinische Versorgung) angewiesen sein werden, was einen dramatischen Anstieg im Vergleich zum Jahresbeginn bedeutet (Anfang 2020: 9,4 Millionen Menschen, vgl. UNOCHA, Afghanistan Humanitarian Needs Overview 2020, Dezember 2019, S. 4; vgl. i.Ü. UNOCHA, Humanitarian Response Plan, Afghanistan 2018-2021, Juni 2020, S. 5, 7 f.; vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 16.07.2020, Stand: Juni 2020, S. 23; EASO, Afghanistan Country of Origin Information Report - Key socio-economic indicators - Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020, S. 40: 11,3 Millionen Menschen im Winter 2020/2021). Von einer generellen Nahrungsmittelknappheit ist zumindest in Kabul nicht auszugehen. Bei Grundnahrungsmitteln (etwa Weizen, Gemüse, Öl, Fleisch) gibt es nach Angaben der Sachverständigen derzeit keine Engpässe (Schwörer, Anlage zum Protokoll S. 13). [...]
84 (4) Die Sicherheitslage in Afghanistan ist weiterhin volatil, wobei starke regionale Unterschiede bestehen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 21.07.2020, S. 33; Stand: 22.04.2020). Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die stärkste Kraft der regierungsfeindlichen Gruppen bilden weiterhin die Taliban (vgl. UNAMA, Afghanistan: Protection of Civilians in Armed Conflict, Third Quarterly Report, 01.01.-30.09.2020, S. 5; EASO, Anti-Government Elements (AGEs), Country of Origin Information Report, August 2020, S. 14). Diese werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29. Februar 2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung nicht einzuhalten und setzen ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 16.07.2020, Stand: Juni 2020, S. 4 f.; KAS, Die COVID-Krise in Afghanistan, Juli 2020, S. 6). [...]
90 (5) Die afghanische Gesellschaft begegnet Rückkehrern aus Europa und anderen Regionen der Welt häufig mit Misstrauen (Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 16.07.2020, Stand: Juni 2020, S. 25; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 21.07.2020, S. 350; Stand: 18.05.2020; SFH, Afghanistan: Gefährdungsprofile, 30.09.2020, S. 12; Finnish Immigration Service, Afghanistan: Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, S. 20). Dabei dürfte es auch eine Rolle spielen, dass die vorangegangene Auslandsreise eines Rückkehrers einschließlich der etwaigen Bezahlung eines Schleppers nicht selten aus Familienvermögen oder durch Aufnahme eines Darlehens bei Verwandten oder Freunden finanziert worden ist, die damit verbundenen Erwartungen aber enttäuscht wurden. Rückkehrern hängt insbesondere innerhalb ihrer Familien oftmals der Makel des Scheiterns an (EASO, Afghanistan Country of Origin Information Report - Key socio-economic indicators - Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020, S. 16; Finnish Immigration Service, Afghanistan: Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, S. 20). Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 21.07.2020, S. 351; Stand: 18.05.2020). Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder Afghanistan mit der gesamten Familie verlassen, ist es allerdings nicht unwahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist, was die Reintegration stark erschweren kann (Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 16.07.2020, Stand: Juni 2020, S. 25; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 21.07.2020, S. 351; Stand: 18.05.2020; Finnish Immigration Service, Afghanistan: Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, S. 21). Da sich in der Öffentlichkeit die Angst vor COVID-19 ausbreitet, besteht nach Auffassung von Menschenrechtsorganisationen darüber hinaus die Gefahr einer Stigmatisierung und Diskriminierung insbesondere von Personen, die kürzlich aus den Nachbarländern zurückgekehrt sind und denen unterstellt wird, sie seien mit SARS-CoV-2 infiziert (BAMF, Briefing Notes vom 27.04.2020, S. 2; Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2, 27. März 2020, S. 2; Samuel Hall, COVID-19 in Afghanistan, Juli 2020, S. 3; vgl. auch ACCORD, Afghanistan: Covid-19, 05.06.2020, S. 6; UNOCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report, 20.05.2020, S. 4). [...]
99 bb) Dem Senat liegen keine Erkenntnisse dazu vor, dass sich die Lebensverhältnisse in den anderen Teilen Afghanistans seit Ausbruch der Pandemie wesentlich besser darstellen als in Kabul. Hinsichtlich alternativ in Betracht kommender Orte auf dem Land erscheint bereits sehr fraglich, ob diese sicher erreichbar sind. Dass in ländlichen Regionen Personen, die dort über kein Netzwerk verfügen, in mehr als nur Einzel - fällen Arbeit finden könnten, geht aus den dem Senat bekannten Erkenntnismitteln nicht hervor. In Bezug auf die anderen größeren Städte Afghanistans, die mit Blick auf Sicherheitslage und ökonomische Grundbedingungen überhaupt für die Ansiedlung eines Rückkehrers in Betracht kommen, namentlich Herat und Mazar-e Sharif, ist es nach den vorliegenden Erkenntnisquellen infolge der COVID-19-Krise und der daraus folgenden sozio-ökonomischen Lage derzeit nicht wesentlich besser bestellt als in Kabul. Nachdem zu Beginn der Pandemie die Flugverbindungen dorthin von Kabul aus gekappt waren, sind die beiden Städte nach übereinstimmenden Auskünften inzwischen zwar wieder auf dem Luftweg erreichbar (vgl. EASO, Afghanistan Country of Origin Information Report - Key socio-economic indicators - Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020, S. 66 ff.; IOM, Information on the socio-economic situation in the light of COVID-19 in Afghanistan, 23.09.2020, S. 7). Der als Folge des Einbruchs der Wirtschaft zu verzeichnende Rückgang an Arbeitsmöglichkeiten und die deutlich gestiegenen Lebensmittelpreise in städtischen Gebieten machen sich aber sowohl in Herat als auch in Mazar-e Sharif genauso bemerkbar wie in Kabul mit der Folge, dass hier wie dort nur ein erheblich eingeschränkter Zugang zu Einkommen und Nahrungsmitteln besteht. Dies ist nicht zuletzt auf die Grenzschließungen und die Lockdown-Maßnahmen zu Beginn der Pandemie zurückzuführen, die sich landesweit und vor allen Dingen in den Städten Afghanistans ausgewirkt haben. Hiervon besonders betroffen sind neben Haushalten in Kabul auch solche in Herat und Mazar-e Sharif, die von Kleinunternehmen und Kleingewerbetreibenden, Geldüberweisungen aus dem Ausland, nichtlandwirtschaftlicher Lohnarbeit und Niedriglohnarbeit abhängig sind (vgl. ACCORD, ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif, 16.10.2020, S. 10; mit Fokus auf die Städte Mazar-e Sharif und Herat auch IOM, Information on the socio-economic situation in the light of COVID-19 in Afghanistan, 23.09.2020, S. 3 ff.; EASO, Afghanistan Country of Origin Information Report - Key socio-economic indicators - Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020, S. 40). [...]
102 cc) Die tatsächlichen Feststellungen des Senats geben den Stand zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung wieder (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Angesichts der Dynamik des Geschehens kann die humanitäre Lage in Afghanistan in Zukunft wieder anders zu beurteilen sein (vgl. zum Erfordernis einer Beurteilung auf der Grundlage tagesaktueller Erkenntnisse BVerfG, Beschluss vom 15.12.2020 - 2 BvR 2187/20 -, juris Rn. 2). Es kann offenbleiben, ob die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots ausscheidet, wenn sich die humanitäre Situation im Zielstaat nur sehr kurzfristig als mit Art. 3 EMRK unvereinbar erweist. Auch bedarf es keiner Entscheidung, wie kurz ein solcher Zeitraum bemessen sein müsste. Denn es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die derzeitigen, durch das Auftreten von COVID-19 verschärften wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, insbesondere für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, nur vorübergehender Natur sind und sich bereits alsbald wieder bessern werden (so auch die Einschätzung des OVG Bremen, Urteile vom 24.11.2020 - 1 LB 351/20 -, juris Rn. 51, und vom 22.09.2020 - 1 LB 258/20 -, juris Rn. 51; ebenso VG Hannover, Urteil vom 09.07.2020 - 19 A 11909/17 -, juris Rn. 43; VG Karlsruhe, Urteil vom 15.05.2020 - A 19 K 16467/17 -, juris Rn. 110). Vielmehr ist von einem derart gravierenden Einschnitt in die afghanische Wirtschaft auszugehen, dass zumindest mittelfristig keine Besserung in Sicht ist (vgl. World Bank Group - Afghanistan Development Update - Surviving the Storm, Juli 2020, S. 15 ff.). Wann und in welchem Umfang sich insbesondere die Arbeitsmarktsituation entspannen wird, ist momentan, auch angesichts der unklaren politischen Verhältnisse und der volatilen Sicherheitslage, nicht absehbar. [...]
104 d) Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung hält der Senat zumindest vorerst nicht mehr an seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 29.10.2019 - A 11 S 1203/19 -, juris Rn. 102, vom 26.06.2019 - A 11 S 2108/18 -, juris Rn. 106 ff., vom 12.12.2018 - A 11 S 1923/17 -, juris Rn. 191 ff., vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 -, juris Rn. 392, und vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris Rn. 244) fest, wonach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK der Abschiebung eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes nach Afghanistan - unabhängig davon, ob dieser vor Ort über ein aufnahmebereites und tragfähiges, familiäres oder soziales Netzwerk verfügt - nur dann entgegensteht, wenn besondere, individuell erschwerende Umstände festgestellt werden können.
105 Derzeit sind angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie auch im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK regelmäßig erfüllt, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. Derartige Umstände können insbesondere dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt (so auch VG Hannover, Urteil vom 09.07.2020 - 19 A 11909/17 -, juris Rn. 44; VG Cottbus, Urteil vom 29.05.2020 - 3 K 633/20.A -, juris Rn. 53; VG Karlsruhe, Urteil vom 15.05.2020 - A 19 K 16467/17 -, juris Rn. 107; (zumindest teilweise auch) auf eine besondere Belastbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit des Rückkehrers abstellend: OVG Rh.-Pf., Urteil vom 30.11.2020 - 13 A 11421/19 -, juris Rn. 136; OVG Bremen, Urteile vom 24.11.2020 - 1 LB 351/20 -, juris Rn. 52 ff., und vom 22.09.2020 - 1 LB 258/20 -, juris Rn. 52 ff.; VG Hamburg, Urteil vom 07.08.2020 - 1 A 3562/17 -, juris Rn. 57, 59 f.; an der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung festhaltend Bay. VGH, Urteile vom 26.10.2020 - 13a B 20.31087 -, juris Rn. 42 ff., und vom 01.10.2020 - 13a B 20.31004 -, juris Rn. 43 ff.; VG Freiburg, Urteile vom 08.09.2020 - A 8 K 10988/17 -, juris Rn. 37 m.w.N., und vom 21.07.2020 - A 15 K 2291/17 -, juris Rn. 62). Dagegen geht der Senat mit Blick auf die plausiblen Erläuterungen der Sachverständigen Schwörer nicht davon aus, dass eine besondere Belastbarkeit, Durchsetzungsfähigkeit oder fachliche Qualifikation des Betreffenden Umstände sind, die für sich allein bewirken, dass er im Falle einer Abschiebung nach Afghani - stan in der Lage wäre, dort aus eigener Kraft seinen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums nachhaltig zu sichern (a.A. OVG Rh.-Pf., Urteil vom 30.11.2020 - 13 A 11421/19 -, juris Rn. 136; OVG Bremen, Urteile vom 24.11.2020 - 1 LB 351/20 -, juris Rn. 52 ff., und vom 22.09.2020 - 1 LB 258/20 -, juris Rn. 52 ff.).
106 (aa) Der Senat ist zu der Überzeugung gelangt, dass es auch einem leistungsfähigen, alleinstehenden erwachsenen Rückkehrer aus dem westlichen Ausland nach Afghanistan regelmäßig nur bei Vorliegen besonderer begünstigender Umstände gelingen wird, dort auf legalem Wege seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene zu befriedigen. Die Sicherung der eigenen Existenz ist ohne versorgendes Netzwerk, nachhaltige Zuwendungen Dritter oder ausreichendes eigenes oder sonstiges Vermögen in Afghanistan grundsätzlich nur durch die Erzielung eines Erwerbseinkommens möglich. Ohne finanzielle Mittel oder Unterstützung aus einem tragfähigen Netzwerk ist die Deckung der einfachsten Grundbedürfnisse auf niedrigem Niveau ("Bett, Brot, Seife", vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.07.2019 - 4 A S 749/19, juris Rn. 40) nicht gewährleistet. Infolge der COVID-19-Krise hat ein Rückkehrer aus dem westlichen Ausland indes kaum Aussicht, auf dem Tagelöhnermarkt eine Arbeit zu finden, sofern er nicht über ein familiäres oder soziales Netzwerk verfügt, das ihm Zugang zum Arbeitsmarkt verschafft. Den zahlreichen ausgewerteten Erkenntnisquellen lässt sich entnehmen, dass die afghanische Wirtschaft von den Auswirkungen der Pandemie schwer und nachhaltig getroffen worden ist. Der massive wirtschaftliche Abschwung ist nicht zuletzt auf die zu Beginn der Pandemie verhängten Schließungen der Grenzen zu den Nachbarländern sowie auf die harten Lockdown-Maßnahmen zurückzuführen, die erst zum Sommer 2020 gelockert wurden. Die Grenzen sind zwar inzwischen wieder für das Im- und Export-Geschäft geöffnet und die Lockdown-Maßnahmen aufgehoben. Die afghanische Wirtschaft konnte sich bislang aber noch nicht nachhaltig von diesen Maßnahmen erholen, und eine Besserung ist vorerst nicht in Sicht. In diesem Zusammenhang gilt es zudem zu berücksichtigen, dass sich die unsichere politische Entwicklung und die volatile Sicherheitslage negativ auf notwendige Investitionen auswirken. Die weitere Entwicklung wird auch vom - derzeit nicht vorherzusehenden - Verlauf der Friedens - gespräche zwischen der Regierung und den Taliban abhängen sowie von der Bereitschaft der Beteiligten, getroffene Vereinbarungen einzuhalten. Dieser Umstand spiegelt sich wiederum in den vom afghanischen Staat dringend benötigten finanziellen Entwicklungshilfen der internationalen Geldgeber wider, die deutlich zurückgefahren und zudem von harten Bedingungen abhängig gemacht worden sind. [...]
108 Vor dem Hintergrund, dass immer mehr Menschen um immer weniger Arbeit ringen, spielt die Existenz eines familiären oder sozialen Netzwerks gerade für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland eine noch größere Rolle als schon vor Ausbruch der Pandemie. Die wenigen vorhandenen Arbeitsangebote werden in der Regel über Beziehungen vergeben. Zwar erscheint es nicht vollkommen ausgeschlossen, dass auch ein Rückkehrer, der mehrere Jahre im westlichen Ausland gelebt hat und über kein Netzwerk in Afghanistan verfügt, gelegentlich einen Tagelöhner-Job finden kann. Angesichts der immensen Bedeutung des Netzwerks als Schlüssel zum Arbeitsmarkt ist eine nachhaltige Sicherung des Lebensunterhalts zumindest am Rande des Existenzminimums aber nicht hinreichend wahrscheinlich. Vielmehr wird ihm regelmäßig derjenige vorgezogen werden, der dem Arbeitgeber über ein Netzwerk vermittelt worden ist. Ebenso unwahrscheinlich ist, dass sich ein Rückkehrer aus dem westlichen Ausland ohne Netzwerk eine selbständige Existenz oder aus eigener Kraft ein Netzwerk wird aufbauen können.
109 Sofern ein Job auf dem Tagelöhnermarkt gefunden wird, reicht das Einkommen derzeit kaum aus, um das Existenzminimum auf einfachstem Niveau zu sichern. Dies gilt jedenfalls dann, wenn ein aus dem westlichen Ausland Abgeschobener davon eine "Erstausstattung" finanzieren muss, wie es bei der erstmaligen Niederlassung an einem Ort erforderlich ist (etwa Kautionszahlungen von mehreren Monatsraten bei Mietunterkünften, Heizgeräte, Schlafmöglichkeiten, Kochutensilien, Bekleidung usw.). Die Löhne befinden sich auf einem sehr niedrigen Niveau. Zugleich sind die Preise für die wichtigsten Grundnahrungsmittel in nicht unbeträchtlichem Maße angestiegen. Hiermit geht seit Ausbruch der Pandemie wiederum eine deutliche Reduzierung der Kaufkraft eines Tagelöhners einher. Übereinstimmenden Prognosen zufolge werden Armut und damit auch Nahrungsmittelunsicherheit infolge der Pandemie deutlich ansteigen. In den größeren Städten ist indes kein genereller Mangel an Lebensmitteln zu verzeichnen. Auf die Miet- und Kaufpreise für Wohnraum wirkt sich die COVID-19-Pandemie kaum aus. Die Fähigkeit, Grundbedürfnisse zu befriedigen, ist vor diesem Hintergrund vielmehr eine Frage des Geldes.
110 Die finanziellen Hilfen, die ein freiwilliger Rückkehrer erhalten kann, werden seine Existenz im Falle eines fehlenden Netzwerks nicht nachhaltig sichern, sondern bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. eine nur vorübergehende Bedarfsdeckung schaffen können (vgl. bereits VGH Bad.-Württ., Urteile vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 -, juris Rn. 437, und vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 486). Zwar muss sich der Ausländer grundsätzlich auch im Rahmen der Prüfung, ob ein an eine staatliche Zwangsmaßnahme anknüpfendes Abschiebungsverbot vorliegt, auf die Inanspruchnahme finanzieller Hilfen im Falle der freiwilligen Rückkehr verweisen lassen. Denn grundsätzlich bedarf derjenige keines Schutzes in der Bundesrepublik Deutschland, der eine geltend gemachte Gefährdung in seinem Heimatland durch zumutbares eigenes Verhalten abwenden kann, wozu insbesondere die freiwillige Ausreise und Rückkehr in den Heimatstaat gehört (BVerwG, Urteil vom 15.04.1997 - 9 C 38.96 -, juris Rn. 27; vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris S. 40; vgl. zu den Rückkehrhilfen auch jüngst BVerfG, Beschluss vom 15.12.2020 - 2 BvR 2187/20 -, juris Rn. 3).
111 Die im Falle einer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan gewährten finanziellen Hilfen reichen indes nicht aus, um mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Verelendung selbst eines leistungsfähigen, erwachsenen, alleinstehenden Afghanen abzuwenden, in dessen Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. Dabei kann offenbleiben, ob die derzeit gewährten Corona-Sonderzahlungen bis Ende der ersten Jahreshälfte 2021 verlängert werden. Denn selbst wenn man den aktuell maximal zu erlangenden Geldbetrag in Höhe von insgesamt 3.700,- EUR zugrunde legt, auf dessen Leistung im Übrigen kein Rechtsanspruch besteht, wäre dieses Geld für eine nachhaltige Existenzsicherung nicht ausreichend. Die Rückkehrhilfen können zwar - und hierfür sind sie auch gedacht - zunächst dem unmittelbaren Eintritt einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK entgegenwirken. Die gewährten finanziellen Mittel bieten aber nur eine anfängliche Unterstützung und ermöglichen lediglich eine vorübergehende Bedarfsdeckung. Für die Frage der Existenzsicherung eines Rückkehrers, in dessen Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen, haben sie keine nachhaltige Bedeutung (vgl. bereits VGH Bad.-Württ., Urteile vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 -, juris Rn. 437, und vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 486). Insbesondere stellen sie kein hinreichend effektives Mittel dafür dar, dass sich ein Rückkehrer, sofern er vor Ort nicht über ein tragfähiges Netzwerk verfügt, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit innerhalb des mit den Finanzhilfen überbrückten Zeitraums eine eigene Existenz wird aufbauen können. Der Zugang zum Arbeitsmarkt lässt sich nicht "erkaufen". Zwar wäre mit den gewährten Mitteln eine Existenzgründung (beispielsweise in Form eines Handwerksbetriebs) in finanzieller Hinsicht möglich. Das Generieren auskömmlicher Umsätze kann nach plausibler Einschätzung der Sachverständigen Schwörer indes regelmäßig nur gelingen, wenn ein Netzwerk vorhanden ist, über welches die erforderlichen Aufträge im Wesentlichen vergeben oder eingeworben werden. Aus diesen Gründen erscheinen auch die in Form von Beratungsleistungen etc. angebotenen (Sach-)Hilfen über das ERRIN-Programm und die AP2016-Ergänzungsförderung nur dann erfolgversprechend, wenn der geförderte Rückkehrer bereits in ein Netzwerk eingebunden ist. Dies zeigt auch die praktische Handhabung der Förderung. So wurden etwa durch die IOM bislang ausschließlich Rückkehrer beraten, die vor Ort über ein Netzwerk verfügten. [...]
114 Nach aktueller Einschätzung des Senats kann die auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG gerichtete Klage eines leistungsfähigen, erwachsenen, afghanischen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen nur dann Erfolg haben, wenn zur Überzeugung des Gerichts feststeht, dass in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. Bei der Ermittlung der in Rede stehenden, regelmäßig nur dem Kläger bekannten Umstände bleibt es bei dem allgemein im Asylverfahren geltenden Grundsatz, dass es zunächst Sache des Schutzsuchenden ist, die Gründe für seine Furcht vor Verelendung schlüssig darzulegen (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.11.2019 - A 11 S 2376/19 -, juris Rn. 58; vgl. ferner - zum Vorliegen der (positiven) Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft - BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 26). Behauptet er etwa, in Afghanistan kein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk zu haben, keine nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte zu erfahren und auch nicht über ausreichendes Vermögen zu verfügen, muss er dies erläutern und plausibel machen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm nach den oben aufgezeigten Maßstäben in seinem Heimatstaat die Verelendung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden persönlichen Umständen eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 29.11.2019 - A 11 S 2376/19 -, juris Rn. 58, und vom 12.12.2018 - A 11 S 1923/17 -, juris Rn. 36). Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden (VGH Bad.-Württ., Urteile vom 29.11.2019 - A 11 S 2376/19 -, juris Rn. 59, und vom 12.12.2018 - A 11 S 1923/17 -, juris Rn. 38).
115 Ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass der Schutzsuchende - wie von ihm behauptet - keinen Zugang zu einem tragfähigen und erreichbaren familiären oder sozialen Netzwerk hat, keine nachhaltige Unterstützung durch Dritte erwarten kann und auch nicht über ausreichendes Vermögen verfügt, kann es gleichzeitig aber auch nicht die (positive) Überzeugung gewinnen, dass solche besonderen begünstigenden Umstände vorliegen, und sieht es keinen Ansatzpunkt für eine weitere Aufklärung, hat es die Nichterweislichkeit der behaupteten (negativen) Tatsachen ("non liquet") festzustellen und eine Beweislastentscheidung zu treffen. Bleibt es bei der Unaufklärbarkeit, trägt der Schutzsuchende die materielle Beweislast für die ihm günstige Behauptung, ihm drohe in Afghanistan die Verelendung. Wer die (materielle) Beweislast trägt, bestimmt sich nach materiellem Recht und ist in Auslegung der im Einzelfall einschlägigen Normen zu ermitteln; enthalten diese keine besonderen Regelungen, so greift der allgemeine Rechtsgrundsatz ein, dass die Nichterweislichkeit von Tatsachen, aus denen eine Partei ihr günstige Rechtsfolgen herleitet, zu ihren Lasten geht (BVerwG, Urteile vom 04.07.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 25, und vom 29.06.1999 - 9 C 36.98 -, juris Rn. 13). Das materielle Recht enthält nur für besondere Situationen - etwa bei Vorverfolgten (Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU) und in Widerrufsfällen (Art. 14 Abs. 2 Richtlinie 2011/95/EU) - hinsichtlich der Rückkehrprognose einen vom Günstigkeitsprinzip abweichenden beweisrechtlichen Ansatz. Dem ist im Umkehrschluss zu entnehmen, dass es ansonsten - soweit sich nicht aus der Natur der Sache etwas anderes ergibt - dabei verbleibt, dass die Nichterweislichkeit zu Lasten des Schutzsuchenden geht. Dies gilt insbesondere für - wie hier - in die Sphäre des Schutzsuchenden fallende Tatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 27).
116 e) Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Klägers ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass in seiner Person die nach den oben dargestellten Maßstäben engen Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllt sind. Aufgrund der konkreten Umstände des vorliegenden Einzelfalls ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es dem Kläger gelingen würde, in Afghanistan wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu führen.
117 Der Kläger gehört zur Gruppe der leistungsfähigen, erwachsenen Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen. [...]
118 Nach Überzeugung des Senats würden allein die körperliche Leistungsfähigkeit des Klägers und seine in Ausübung verschiedener Tätigkeiten erworbenen fachlichen Kompetenzen ihn derzeit nicht davor bewahren, im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Kürze zu verelenden. Der Senat ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ferner davon überzeugt, dass in der Person des Klägers keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Annahme entgegenstehen, er werde in Afghanistan verelenden. Ausreichende eigene finanzielle Mittel zur Sicherung des Existenzminimums sind nach den Feststellungen des Senats ebenso wenig vorhanden wie Unterstützung durch dritte Personen, insbesondere durch seine außerhalb Afghanistans lebenden Verwandten. Zudem ist der Senat davon überzeugt, dass der Kläger in Afghanistan nicht über ein familiäres oder soziales Netzwerk verfügt, das ihn im Falle seiner Rückkehr unterstützen würde. [...]