BlueSky

OVG Niedersachsen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 29.01.2019 - 9 LB 93/18 - asyl.net: M27153
https://www.asyl.net/rsdb/M27153
Leitsatz:

Kein Abschiebungsschutz für alleinstehenden, jungen, im Iran aufgewachsenen Hazara aus Afghanistan:

Für die Personengruppe der alleinstehenden, gesunden und arbeitsfähigen jungen Männer ist nicht allgemein aufgrund der humanitären Bedingungen in Afghanistan von einem Schadenseintritt bei Rückkehr auszugehen. Dies gilt auch dann, wenn sie der Volksgruppe der Hazara angehören, schiitischer Religionszugehörigkeit sind, im Iran aufgewachsen sind und weder über ein soziales Netzwerk in Afghanistan noch über eine Berufsausbildung oder nennenswertes Vermögen verfügen. Denn es ist auch dann zumindest noch immer ein Leben am Rande des Existenzminimums in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif möglich.

(Leitsätze der Redaktion, Zulassung der Berufung: Beschluss vom 25.06.2018 - 9 LA 43/18 - asyl.net: M26427)

Schlagwörter: Afghanistan, Schiiten, Iran, Hazara, Existenzgrundlage, Abschiebungsschutz, alleinstehend, erwachsen, Abschiebungsverbot, gesunder junger Mann, nationales Abschiebungsverbot, Berufung, Kabul, Mazar-e Sharif, Herat, Existenzminimum, Hazara, faktischer Iraner, humanitäre Bedingungen, Schiiten,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

Unter Zugrundelegung der dargestellten vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK entwickelten Kriterien sind trotz der widrigen Lebensbedingungen in Afghanistan die Voraussetzungen für eine Schutzgewährung nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK für einen alleinstehenden, gesunden und arbeitsfähigen jungen Mann wie den Kläger auch dann derzeit nicht generell gegeben, wenn er der Volksgruppe der Hazara angehört, im Iran aufgewachsen ist und weder über ein soziales Netzwerk in Afghanistan verfügt noch über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder nennenswertes Vermögen. Die im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung verfügbaren Erkenntnisse lassen nicht den Schluss darauf zu, dass jeder aus Europa abgeschobene männliche Afghane in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif ohne Hinzutreten besonderer Umstände so gefährdet wäre, dass ihm bei seiner Rückkehr eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK drohen würde (Fortentwicklung der Senatsrechtsprechung, vgl. nur Urteil vom 19.9.2016 - 9 LB 100/15 -juris; vgl. zu der entsprechenden Personengruppe auch VGH BW, Urteil vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris, BayVGH, Urteil vom 8.11.2018 - 13a B 17.31960 - juris; OVG NRW, Beschluss vom 17.9.2018 -- 13 A 2914/18.A - juris). [...]

1. Die Sicherheitslage in der Islamischen Republik Afghanistan ist für Zivilpersonen sowohl landesweit als auch in Kabul zweifellos besorgniserregend. Der Senat kann gleichwohl nicht die Überzeugung gewinnen, dass trotz der zahlreichen Anschläge in Afghanistan und in Kabul bereits eine Situation einer solch extremen allgemeinen Gewalt vorherrschen würde, dass im Abschiebungszielort Kabul eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür bestünde, eine Zivilperson werde infolge des bloßen Umstands der Anwesenheit einer realen Gefahr einer Fehlbehandlung ausgesetzt. Dies gilt auch unter besonderer Berücksichtigung der Situation der Hazara. [...]

b) Die allgemeine Gefahrenlage ist auch für Angehörige der Volksgruppe der Hazara nicht derart extrem, dass allein aufgrund ihrer Anwesenheit in Afghanistan und speziell in Kabul die beachtliche Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Fehlbehandlung besteht. Die aktuellen Erkenntnismittel lassen insbesondere nicht darauf schließen, dass Hazara derzeit landesweit aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit insbesondere im Hinblick auf die allgemeine Sicherheitslage einer Gruppenverfolgung ausgesetzt sind. Es fehlt an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte (so auch nach der jeweiligen Erkenntnismittellage: VGH BW, Urteile vom 17.1.2018 - A 11 S 241/17 - juris Rn. 76 ff.; vom 5.12.2017 - A 11 S 1144/17 - juris; BayVGH, Beschlüsse vom 14.9.2017 - 13a ZB 17.30854 - Rn. 6 f.; vom 14.8.2017 - 13a ZB 17.30807 - juris Rn. 17 ff.; VG Augsburg, Urteile vom 12.1.2018 - Au 5 K 17.31188 - juris Rn. 25 f.; VG Leipzig, Urteil vom 21.9.2017 - 8 K 1591/17.A - juris Rn. 24 ff.; VG Karlsruhe, Urteil vom 9.8.2017 - A 4 K 7750/16 - juris Rn. 23; VG Cottbus, Urteil vom 1.8.2017 - 5 K 1488/16.A - juris Rn. 22 ff.; VG Lüneburg, Urteil vom 13.6.2017 - 3 A 136/16 - juris Rn. 25 ff.). [...]

2. Die humanitären Verhältnisse in Afghanistan und in Kabul sind ebenfalls sehr schlecht. Einen ganz außergewöhnlichen Fall mit der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts wegen der humanitären Bedingungen vermag der Senat nach den vorliegenden Erkenntnissen für die Personengruppe der alleinstehenden, gesunden und arbeitsfähigen jungen Männer aber derzeit für Kabul nicht allgemein festzustellen. Dies gilt auch dann, wenn sie der Volksgruppe der Hazara angehören, schiitischer Religionszugehörigkeit, im Iran aufgewachsen sind und weder über ein soziales Netzwerk in Afghanistan noch über eine Berufsausbildung oder nennenswertes Vermögen verfügen. [...]

a) Der Senat geht davon aus, dass sich alleinstehende junge gesunde Männer auch ohne Netzwerk in Afghanistan, insbesondere in Kabul, in einem noch ausreichenden Maße versorgen können. [...]

Der Senat verkennt nicht, dass die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend ist, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation vom 29.6.2018, aktualisiert 22.1.2019, S. 354, 355). Der Senat ist nach den vorliegenden Erkenntnissen jedoch zu der Einschätzung gelangt, dass ein alleinstehender junger gesunder Rückkehrer auch ohne ein soziales Netzwerk in Kabul wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums bestreiten kann (so auch BayVGH, Urteil vom 8.11.2018 - 13 a B 17.31960 - Rn. 34; VGH BW, Urteil vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Leitsatz 3, Rn. 392; hierzu bereits Senatsurteil vom 19.9.2016 - 9 LB 100/15 - juris Rn. 77). [...]

b) Es ist auch nicht ersichtlich, dass aus dem Westen zurückkehrende junge Männer generell wegen einer etwaigen Stigmatisierung ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern könnten. [...]

c) Der Senat vermag derzeit auch nicht generell zwingende humanitäre Gründe festzustellen, die einer Abschiebung gesunder junger alleinstehender afghanischer Männer entgegenstehen könnten, die Jahre lang im Iran gelebt haben oder sogar dort geboren sind, dem Volk der Hazara angehören und über kein soziales Netzwerk in Afghanistan verfügen. [...]

Gleichwohl vermag der Senat den vorliegenden Erkenntnissen nicht zu entnehmen, dass die Schwierigkeiten der "faktischen Iraner" so außergewöhnlich wären, dass angenommen werden könnte, diese Rückkehrer hätten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Afghanistan eine Art, 3 EMRK widersprechende Behandlung zu erwarten. [...]

Der Umstand, dass es sich bei den "faktischen Iranern" zumeist um schiitische Hazara handelt, führt zu keiner anderen Einschätzung. [...]

3. Auch eine Gesamtbetrachtung der Sicherheitslage und der humanitären Situation in Afghanistan, insbesondere im Abschiebungsort Kabul führt nach Einschätzung des Senats unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisse derzeit noch nicht dazu, dass ein alleinstehender, gesunder, junger Mann, der Jahre lang im Iran gelebt hat oder sogar dort geboren ist und dem Volk der Hazara angehört, ohne Berufsausbildung, ohne Vermögen und ohne soziales Netzwerk mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein wird bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten muss, wenn er nach Kabul zurückkehrt. [...]

5. Selbst wenn Kabul insbesondere wegen des steigenden Sicherheitsrisikos für die Zivilbevölkerung als Abschiebungszielort ausscheiden würde, ist alleinstehenden, jungen, gesunden, erwachsenden Afghanen hazarischer Volkszugehörigkeit und schiitischer Religionszugehörigkeit, die im Iran aufgewachsen oder dort geboren sind, ohne eigenes Vermögen und ohne soziales Netzwerk auch ein Leben in den Städten Herat und Mazar-e Sharif als alternativen Abschiebungszielorten grundsätzlich derzeit noch möglich. Daher droht dem Kläger nicht im gesamten Abschiebungszielstaat eine Art. 3 EMRK entgegenstehende Behandlung. [...]

a) Die Sicherheitslage und die Situation der allgemeinen Gewalt in der Provinz und in der Stadt Herat erreichen noch nicht das eine Verletzung von Art. 3 EMRK begründende Maß eines außergewöhnlichen Schädigungsrisikos. [...]

b) Daneben kommt auch Mazar-e Sharif als alternativer Abschiebungszielort in Betracht. Die allgemeine Gefahrenlage für Zivilpersonen in der Stadt Mazar-e Sharif erreicht derzeit noch kein außergewöhnliches Niveau allgemeiner Gewalt. [...]

Dies gilt auch für den Kläger. Der Senat ist der Überzeugung, dass sich der Kläger in der Stadt Kabul, alternativ in Herat oder Mazar-e Sharif, ein Leben jedenfalls am Rande des Existenzminimums wird aufbauen können und keiner extremen Gefahrenlage ausgeliefert wäre. Auch insoweit wird auf die Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK verwiesen. [...]