VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Beschluss vom 20.10.2023 - A 8 K 2066/23 - asyl.net: M31932
https://www.asyl.net/rsdb/m31932
Leitsatz:

Eilrechtsschutz für Anerkannten wegen in Deutschland lebender Familienangehöriger:

1. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur realistischen Rückkehrprognose, wonach bei Familien grundsätzlich davon auszugehen ist, dass sie gemeinsam ausreisen, ist auf Anerkannte, denen bereits gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in einem anderen EU-Staat internationaler Schutz zuerkannt wurde, zu übertragen. Demnach ist bei der Prognose, ob der betroffenen Person im Staat ihrer Anerkennung [hier: Italien] eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 GR-Charta droht, davon auszugehen, dass sie im Familienverbund ausreisen wird. 

2. Bei der achtköpfigen Familie des Antragstellers handelt es sich um vulnerable Personen. Bei vulnerablen Personen muss im Hinblick auf Italien in behördlicher Kooperation sichergestellt werden, dass ihre besonderen Versorgungsbedarfe gewährleistet werden. Ist das - wie hier - nicht erfolgt, droht eine Verletzung der Rechte der betroffenen Personen aus Art. 4 GR-Charta, und eine Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist rechtswidrig.

3. Wurde bei in familiärer Lebensgemeinschaft lebenden Familienangehörige ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt und eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt, besteht hinsichtlich eines später einreisenden, in einem EU-Mitgliedstaat anerkannten Familienmitglieds ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis aus familiären Gründen. Der Erlass einer Abschiebungsandrohung gemäß § 35 AsylG verstößt in diesem Fall gegen die Rückführungsrichtlinie [RL 2008/115/EG].

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Beschluss vom 15.02.2023 - C-484/22 BR Deutschland gg. GS - asyl.net: M31329; BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 - Asylmagazin 8/2019, S. 311 f. - asyl.net: M27530; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.07.2022 - A 4 S 3696/21 - asyl.net: M31148)

Schlagwörter: internationaler Schutz in EU-Staat, Familienzusammenführung, Abschiebungsverbot, Aufenthaltserlaubnis, familiäre Lebensgemeinschaft, inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, Abschiebungsandrohung, Rückführungsrichtlinie, Familieneinheit,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, GG Art. 6 Abs. 1, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, RL 2008/115/EG Art. 5,
Auszüge:

[...]

Die Interessenabwägung fällt hier zu Gunsten des Antragstellers aus, denn die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Bundesamts vom 28. Juli 2023 begegnet ernstlichen Zweifeln:

1. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union bereits internationalen Schutz im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. [...]

2. Die Unzulässigkeitsentscheidung ist jedoch voraussichtlich nicht mit Unionsrecht vereinbar, d.h. rechtswidrig und dürfte den Antragsteller auch in seinen Rechten verletzen (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

a) Einem Mitgliedstaat ist es nämlich dann untersagt, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, weil dem Betroffenen zuvor in einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, wenn die Lebensverhältnisse, die ihn dort erwarten, ihn der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK aussetzen würden [...].

b) Derartige Umstände sind hier voraussichtlich ausnahmsweise anzunehmen. Denn es spricht alles dafür, dass es sich bei dem Antragsteller mit Blick auf seine achtköpfige, mehrere Klein- und Kleinstkinder umfassende Familie um eine vulnerable Personengruppe handelt, für die das italienische Aufnahmesystem systemische Mängel aufweist.

Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur realistischen Rückkehrperspektive bei Prüfung der einem Ausländer bei Abschiebung in den Herkunftsstaat drohenden Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG (Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 -, juris) ist auf sog. Drittstaatenfälle zu übertragen (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 07.07.2022 - A 4 S 3696/21 -, juris Rn . 36), d.h. auch im vorliegenden Fall anwendbar. Danach ist davon auszugehen, dass der Antragsteller, der mit seiner Ehefrau und den gemeinsamen Kindern im Bundesgebiet unzweifelhaft in familiärer Lebensgemeinschaft lebt, diese weiterhin aufrechterhalten würde. [...]

Ausgehend von der Prognose einer gemeinsamen Ausreise nach Italien, handelt es sich bei dem Antragsteller und seinen sieben Familienangehörigen um vulnerable Personen. Bei der Frage, inwieweit eine Rückführung von Sekundärmigranten nach Italien rechtlich zulässig ist, gilt indes bei vulnerablen Asylantragstellern mit Blick auf deren erhöhte Verletzlichkeit Anderes als bei gesunden und arbeitsfähigen Antragstellern (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 07.07.2022 - A 4 S 3696/21 -, juris Rn. 39 ff.). Insbesondere muss bei vulnerablen Personen, selbst wenn ihnen in Italien internationaler Schutz zuerkannt worden ist, vor einer Rücküberstellung in behördlicher Kooperation sichergestellt sein, dass ihr besonderer Versorgungsbedarf dort gewährleistet ist. Für eine solche behördliche Kooperation ist hier nichts ersichtlich, nachdem die Antragsgegnerin in ihrem Bescheid schon nicht von einer Vulnerabilität des Antragstellers ausgegangen ist. Damit droht diesem Familienverband selbst unter Anwendung der strengen Maßgaben im Fall der Überstellung nach Italien die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh.

3. Darüber hinaus dürfte sich auch die Abschiebungsandrohung, wie der Antragsteller zutreffend ausführt, als rechtswidrig erweisen und den Antragsteller in seinen Rechten verletzen, weil sich die Antragsgegnerin bei den Erwägungen zu ihrem Erlass nicht mit den inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen der familiären Lebensgemeinschaft und des Kindeswohls auseinandergesetzt hat. Damit verstößt die - in einem Fall wie dem vorliegenden nicht in den Anwendungsbereich der Dublin III-VO, sondern vielmehr der Rückführungsrichtlinie fallende (vgl. Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht (14. Auflage 2022), § 29 AsylG Rn. 10, 26) – Abschiebungsandrohung evident gegen die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union entwickelten Maßstäbe (vgl. Beschluss vom 15.02.2023, C-484/22 <GS>).

Es spricht viel dafür, dass hier inlandsbezogene Abschiebungsverbote der familiären Lebensgemeinschaft bzw. des Kindeswohls dem Erlass einer Abschiebungsandrohung entgegenstehen. [...]