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VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.07.2022 - A 4 S 3696/21 - asyl.net: M31148
https://www.asyl.net/rsdb/m31148
Leitsatz:

Besonderer Versorgungsbedarf einer Familien mit Kleinkindern ist hinsichtlich Italiens sicherzustellen:

"Bei der Überstellung von Familien mit (Klein-)Kindern nach Italien ist durch Kooperation mit den italienischen Behörden der besondere Versorgungsbedarf dieser Personen sicherzustellen.

1. Die Rechtsprechung des BVerwG zur realistischen Rückkehrperspektive [von Familien im Familienverbund] bei Prüfung der einem Ausländer bei Abschiebung in den Herkunftsstaat drohenden Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG (Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 -) ist auf sog. Drittstaatenfälle zu übertragen.

2. Der Senat hält auch im Lichte der EGMR-Rechtsprechung in den Rechtssachen "M.T." (Nr. 46595/19) und "A.B." (Nr. 41100/19) daran fest, dass bei Vulnerablen, selbst wenn ihnen in Italien internationaler Schutz zuerkannt worden ist, vor einer Rücküberstellung in behördlicher Kooperation sichergestellt sein muss, dass ihr besonderer Versorgungsbedarf dort gewährleistet ist."

(Amtliche Leitsätze; anderer Ansicht: OVG Sachsen, Urteil vom 14.03.2022 - 4 A 341/20.A - asyl.net: M31163; siehe auch: EGMR, Urteil vom 23.3.2021 - 46595/19: M.T. gegen die Niederlande - hudoc.echr)

Schlagwörter: Italien, Dublinverfahren, internationaler Schutz in EU-Staat, ausländische Anerkennung, Unzulässigkeit, Familie, minderjährig, Kindeswohl, Unterbringung, Aufnahmebedingungen, Familieneinheit, Abschiebungsverbot, Rückkehr im Familiebverbund, Rückkehrprognose
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

21 B. Die Anfechtungsklage ist auch begründet, denn der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 21.01.2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). [...]

28 2. Der Senat nimmt in ständiger Rechtsprechung an, dass bei Zugrundelegung der "harten" Maßstäbe des EuGH gesunde und arbeitsfähige Antragsteller in Italien derzeit weder im Zeitpunkt der Rücküberstellung noch während des Asylverfahrens und auch nicht nach - im Regelfall ohne weitere Prüfung zu unterstellender - Zuerkennung von internationalem Schutz unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen durch systemische Schwachstellen gemäß Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO oder sonstige Umstände dem "real risk" einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt werden, sondern - trotz eines angespannten Arbeitsmarktes - für ihren Lebensunterhalt sorgen können, so dass sie ihre vom EuGH allein in den Fokus genommenen elementarsten Bedürfnisse - "Bett, Brot, Seife" - befriedigen können (zuletzt Beschluss vom 08.11.2021 - A 4 S 2850/21 -, Juris Rn. 8, m.w.N.). [...]

30 3. Anders als das Verwaltungsgericht ist der Senat jedoch der Überzeugung, dass vorliegend nicht die Rückkehrsituation allein des Klägers in den Blick zu nehmen, sondern davon auszugehen ist, er zusammen mit seiner Familie, insbesondere mit den beiden 2013 und 2015 in Italien geborenen Kindern zurückkehren wird.

31 a. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist der Umstand, dass der Kläger in Deutschland mit seiner Kernfamilie zusammenlebt, in dieser Konstellation nicht allein bei der Frage eines einer Abschiebung möglicherweise entgegenstehenden innerstaatlichen Vollstreckungshindernisses von Relevanz, sondern bereits bei der Prüfung von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh sowie § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zu berücksichtigen. [...]

35 cc. Ausdrücklich entschieden hat das Bundesverwaltungsgericht die Regelvermutung einer gemeinsamen Rückkehr der Kernfamilie als Grundlage der Verfolgungs- und Gefahrenprognose zwar bislang nur für die Prüfung von § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG für den Fall einer in Rede stehenden Rückkehr ins Heimatland. Diese Rechtsprechung ist jedoch auf die vorliegende Konstellation der Rückführung eines in einem anderen EU-Mitgliedstaat als Flüchtling oder subsidiär schutzberechtigt Anerkannten in diesen Staat dem Grunde nach ohne weiteres übertragbar. [...]

39 4. Wie der Senat in seinem Urteil vom 29.07.2019 (- A 4 S 749/19 -, Juris Rn. 41) in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH (Urteile vom 19.03.2019 - C-163/17 [Jawo] -, Juris Rn. 95, und - C-297/17 u.a. [Ibrahim] -, Juris Rn. 93) entschieden hat, gilt bei der Frage, inwieweit eine Rückführung von Sekundärmigranten nach Italien rechtlich zulässig ist, bei vulnerablen Asylantragstellern mit Blick auf deren erhöhte Verletzlichkeit anderes als bei gesunden und arbeitsfähigen Antragstellern. [...]

41 Der Senat hält angesichts der Gesamtsituation von Asylbewerbern in Italien auch weiterhin an seiner auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil vom 04.11.2014 - "Tarakhel" v. Switzerland, Nr. 29217/12 -, HUDOC Rn. 122) und des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 31.07.2018 - 2 BvR 714/18 - und vom 10.10.2019 - 2 BvR 1380/19 -, beide Juris) gegründeten Auffassung fest, dass wegen dieser besonderen Bedürfnisse und Schutzbedürftigkeit von Kindern die EU-Mitgliedstaaten zur Vermeidung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh vor der Überstellung von Familien mit (Klein-)Kindern nach Italien durch Kooperation mit den italienischen Behörden sicherstellen müssen, dass bei einer Rücküberstellung dorthin ohne Zeitverzug eine kind- und familiengerechte Unterbringung erfolgen und möglichen besonderen (medizinischen) Erfordernissen Rechnung getragen wird, damit garantiert werden kann, dass der besonderer Versorgungsbedarf in Italien gewährleistet ist. Von einer Art. 3 EMRK / Art. 4 GRCh Rechnung tragenden Kooperation ist jedenfalls bei Vorliegen einer hinreichend belastbaren Versorgungszusicherung der italienischen Behörden regelmäßig auszugehen.

42 b. Soweit in der Rechtsprechung mitunter unter Berufung auf das Urteil "M.T." des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vom 18.03.2021 - M.T. v. Netherlands, Nr. 46595/19 -, HUDOC) vertreten wird, einer derartigen Kooperation bedürfe es mit Blick auf die erfolgten Rechtsänderungen nicht mehr (so etwa Sächs. OVG, Urteil vom 22.03.2022 - 4 A 389/20.A -, Juris), folgt dem der Senat nicht.

43 So spricht bereits der Umstand, dass das Urteil in der Sache "Tarakhel" von der Großen Kammer erlassen wurde, während es sich beim Urteil "M.T." um die Entscheidung einer 7er-Kammer (4. Sektion) handelt, dagegen, Letzterer ein zu großes Gewicht beizumessen. [...]

44 Aber auch inhaltlich vermag der Senat eine prinzipielle Abkehr des EGMR von "Tarakhel" durch die Entscheidung "M.T." nicht zu erkennen. [...]

47 Es ist daher momentan nicht hinreichend sichergestellt, dass bei einer Rückkehr des Klägers nach Italien zusammen mit seiner Kernfamilie deren besonderer, sich bereits aus dem Alter der 2013 und 2015 geborenen Kinder ergebender Versorgungsbedarf gedeckt ist. Insbesondere erscheint nicht mit der erforderlichen Sicherheit gewährleistet, dass bei einer Rückkehr verfügbarer und erreichbarer Wohnraum bestünde, der Obdachlosigkeit, die jedenfalls bei kleineren Kindern auch nicht vorübergehend hinnehmbar ist (vgl. Art. 24 Abs. 2 GRCh), verhindert und so beschaffen ist, dass er den besonderen Anforderungen von Kindern entspricht und im Sinne der "Tarakhel"-Rechtsprechung sicherstellt, dass sie nicht - etwa mangels jeglicher Privatsphäre - in Situationen von unzumutbarem Stress und Sorge mit der Gefahr traumatischer Folgen geraten. [...]