EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Beschluss vom 15.02.2023 - C-484/22 BR Deutschland gg. GS - asyl.net: M31329
https://www.asyl.net/rsdb/m31329
Leitsatz:

Das Kindeswohl und familiäre Bindungen müssen bereits bei Erlass einer Abschiebungsandrohung berücksichtigt werden:

1. Aufgrund Art. 5 der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG) darf ein Mitgliedstaat keine Rückkehrentscheidung erlassen, ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens der betroffenen Person zu berücksichtigen.

2. Das Kindeswohl muss schon bei der Rückkehrentscheidung berücksichtigt werden. Die Praxis des BAMF und der Rechtsprechung, familiäre Beziehungen Minderjähriger bei Erlass einer Abschiebungsandrohung nicht zu berücksichtigen und die Betroffenen diesbezüglich auf Verfahren vor den Ausländerbehörden zu verweisen, ist europarechtswidrig.

(Leitsätze der Redaktion; Entscheidung erging auf Vorlage des BVerwG, Beschluss vom 08.06.2022 - 1 C 24.21 - asyl.net: M30884)

Schlagwörter: Kindeswohl, Rückkehrentscheidung, Abschiebungsandrohung, minderjährig, inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, Schutz von Ehe und Familie, Achtung des Familienlebens, familiäre Lebensgemeinschaft, Eltern-Kind-Verhältnis, Kind, minderjährig,
Normen: RL 2008/115/EG Art. 5 Bst. a, RL 2008/115/EG Art. 5 Bst. b, AsylG § 34 Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 1, GR-Charta Art. 24,
Auszüge:

[...]

12 Der im Dezember 2018 in Deutschland geborene Kläger des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Kläger) ist wie seine Eltern und Geschwister Staatsangehöriger der Bundesrepublik Nigeria.

13 Mit Entscheidungen von März 2017 und März 2018 stellte das Bundesamt zugunsten des Vaters und einer 2014 geborenen Schwester des Klägers ein Verbot der Abschiebung nach Nigeria fest. [...]

15 Mit Bescheid vom 13. Juni 2019 lehnte das Bundesamt zum einen den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Anerkennung als Asylberechtigter bzw. auf Zuerkennung subsidiären Schutzes ab und drohte ihm zum anderen die Abschiebung nach Nigeria an, wobei ihm für die freiwillige Ausreise eine Frist von 30 Tagen gesetzt wurde (im Folgenden: Abschiebungsandrohung).

16 Das mit einer Klage gegen diesen Bescheid befasste Verwaltungsgericht wies mit einem Urteil vom 7. Juni 2021 die meisten Klageanträge zurück. Die Abschiebungsandrohung gegen den Kläger hob es dagegen mit der Begründung auf, dass seine Ausweisung wegen des zugunsten des Vaters und eine der Schwestern des Klägers bestehenden Abschiebungsverbots nicht mit dem sowohl im Grundgesetz als auch in Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verankerten Recht auf Familienleben vereinbar sei, da dem Kläger eine Trennung von seinem Vater nicht zuzumuten sei.

17 Die Bundesrepublik Deutschland legte gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts, soweit damit die Abschiebungsandrohung aufgehoben wird, beim Bundesverwaltungsgericht, dem vorlegenden Gericht, eine auf Rechtsfragen beschränkte Sprungrevision ein.

18 Zur Begründung ihrer Sprungrevision führt die Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen aus, dass die der Abschiebung einer Person entgegenstehenden Gründe in Bezug auf das Wohl des Kindes und die Achtung der familiären Bindungen im Sinne von Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115 grundsätzlich nicht in dem Verfahren betreffend die Abschiebungsandrohung, für das das Bundesamt zuständig sei, zu berücksichtigen seien. Solche Gründe dürften nur im Rahmen eines gesonderten, nachfolgenden, den Vollzug der Abschiebung betreffenden Verfahrens berücksichtigt werden, für das andere Stellen, nämlich die regionalen Ausländerbehörden, zuständig seien. [...]

22 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, oder dahin, dass es genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken. [...]

25 Art. 5 der Richtlinie 2008/115 verwehrt es somit einem Mitgliedstaat, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, die er geltend macht, um den Erlass einer solchen Entscheidung zu verhindern (Urteil vom 8. Mai 2018, K. A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C-82/16, EU:C:2018:308, Rn. 104).

26 Konkret muss der betreffende Mitgliedstaat vor dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen eine umfassende und eingehende Beurteilung der Situation des Minderjährigen vornehmen und dabei das Wohl des Kindes gebührend berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Januar 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Rückkehr eines unbegleiteten Minderjährigen], C-441/19, EU:C:2021:9, Rn. 60).

27 Folglich steht Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115 einer nationalen Rechtsprechung entgegen, nach der die Verpflichtung, beim Erlass einer Abschiebungsandrohung das Wohl des Kindes und dessen familiären Bindungen zu berücksichtigen, als erfüllt gilt, solange die Abschiebung nicht vollzogen wird.

28 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken. [...]