VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 22.02.2023 - 21 K 5877/16 - asyl.net: M31711
https://www.asyl.net/rsdb/m31711
Leitsatz:

Abschiebung mangels ordnungsgemäßer Zielstaatsbestimmung rechtswidrig:

"1. Die nachträgliche Benennung oder Konkretisierung des Zielstaats einer Abschiebung i.S.v. § 59 Abs. 2 Satz 1 AufenthG muss in Form eines Verwaltungsakts ergehen [...].

2. Im Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG ist die Benennung eines Ziellandes bei Erlass einer Rückkehrentscheidung zwingende Voraussetzung und ist die Änderung des in einer vorausgegangenen Rückkehrentscheidung genannten Ziellandes als neue Rückkehrentscheidung anzusehen, welche die Einhaltung der für den Erlass einer Rückkehrentscheidung erforderlichen Verfahrens- und Formvorschriften erfordert [...]."

(Amtliche Leitsätze; unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 24.02.2021 - C-673/19 M, A gg. Niederlande - asyl.net: M29402; EuGH, Urteil vom 14.05.2020 - C-924/19 PPU, C-925/19 PPU FMS u.a. gg. Ungarn - asyl.net: M28528; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13.09.2007 - 11 S 1684/07 - asyl.net: M11542; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 30.05.2007 - 2 M 153/07 - asyl.net: M10838; anderer Ansicht: VG Hamburg, Beschluss vom 06.10.2009 - 4 E 2704/09 - asyl.net: M16150)

Schlagwörter: Rückkehrentscheidung, Zielstaatsbezeichnung, Abschiebungskosten, Rechtswidrigkeit, Staatenlosigkeit, Jugoslawien, Kosovo, Zurückweisung, Abschiebung, Verwaltungsakt, Änderung des Zielstaats, Rückführungsrichtlinie,
Normen: AufenthG § 59 Abs. 2 S. 1, VwVfG § 35 S. 1, RL 2008 /115/EG Art. 3 Nr. 43, RL 2008 /115/EG Art. 3 Nr. 4, RL 2008/115 EG Art. 6 Abs. 1, RL 2008/115 EG Art. 12 Abs. 1, AufenthG § 66 Abs. 1, AufenthG § 67 Abs. 1
Auszüge:

[...]

41 Die angefochtenen Bescheide finden ihre Rechtsgrundlage in § 66 Abs. 1 AufenthG und § 67 Abs. 1 und 3 AufenthG. [...]

42 Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haftet der Ausländer für die Kosten einer Abschiebung nur, wenn die zu ihrer Durchsetzung ergriffenen Amtshandlungen und Maßnahmen ihn nicht in seinen Rechten verletzen. [...]

43 Die Abschiebung des Klägers in den Kosovo war rechtswidrig. Denn es fehlte an einer ordnungsgemäßen Zielstaatsbestimmung im Sinne von § 59 Abs. 2 Satz 1 AufenthG für eine Abschiebung in den Kosovo. Sowohl aus den anwendbaren Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes (hierzu 1.) als auch aus der Richtlinie 2008/115/EG (hierzu 2.) ergibt sich, dass die Abschiebung in einen Staat, der nicht durch eine ordnungsgemäße Zielstaatsbestimmung bezeichnet worden ist, rechtswidrig ist.

44 1. Nach den anwendbaren Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes war die Abschiebung des Klägers in den Kosovo rechtswidrig. [...]

45 Selbst wenn mit der – vor Inkrafttreten der Rückführungsrichtlinie ergangenen – Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts davon ausgegangen wird, dass dem Kläger in der Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 15. Oktober 2014 noch die Abschiebung in sein nicht näher bezeichnetes Heimatland angedroht werden durfte [hierzu a)], ist es jedoch erforderlich gewesen, vor der Abschiebung den Zielstaat hinreichend durch Verwaltungsakt zu bestimmen [hierzu b)]. Eine solche verwaltungsaktförmige Zielstaatsbestimmung lag auch nach Auslegung der infrage kommenden Äußerungen der Beklagten nicht vor [hierzu c)].

46 a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist der Staat, in den der Ausländer (in erster Linie) abgeschoben werden soll, regelmäßig namentlich zu bezeichnen. [...]

47 b) Die nachträgliche Benennung oder Konkretisierung des Zielstaats muss allerdings in Form eines Verwaltungsakts ergehen [...].

Die Zielstaatsbestimmung in § 59 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vervollständigt die Abschiebungsandrohung, erst die Konkretisierung des Zielstaats führt die Vollstreckungsfähigkeit der Abschiebungsandrohung herbei. [...]

48 c) Gemessen an diesen Maßstäben ist vor der Abschiebung des Klägers die Republik Kosovo als Zielstaat nicht ordnungsgemäß bestimmt worden. [...]

50 aa) Aus dem Bescheid vom 15. Oktober 2014 ergibt sich jedenfalls nicht die Republik Kosovo als Zielstaat. Die Abschiebungsandrohung nennt lediglich das "Heimatland" des Klägers. [...]

51 bb) Auch aus dem Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 2014, mit dem die Beklagte den Widerspruch gegen die Versagung der begehrten Aufenthaltserlaubnis zurückgewiesen hat, ergibt sich nicht die Bestimmung des Zielstaats Kosovo. [...]

52 cc) Auch soweit die Beklagte im Rahmen des Antrags nach § 80 Abs. 7 VwGO (9 E 821/16) nach Darstellung des Übernahmeersuchens und Ausführungen zum Fehlen rechtlicher Ausreisehindernisse vorgetragen hat, dass sie "beabsichtigt (…), den Antragsteller mit seiner Familie in den Kosovo abzuschieben" (S. 413 der Ausländerakte), liegt darin keine verwaltungsaktförmige Zielstaatsbestimmung. [...]

53 dd) Schließlich nennt auch der Bescheid, mit dem die Beklagte das Einreise- und Aufenthaltsverbot befristet hat, keinen Zielstaat der Abschiebung. [...]

54 2. Unabhängig von den obenstehenden Ausführungen folgt die Rechtswidrigkeit der Abschiebung des Klägers auch aus einem Verstoß gegen die Richtlinie 2008/115/EG.

55 Die auf den vorliegenden Fall anwendbare Richtlinie 2008/115/EG [hierzu a)] setzt die Benennung eines Ziellandes bei Erlass einer Rückkehrentscheidung zwingend voraus und verlangt für die nachträgliche Änderung des Ziellandes die Einhaltung der für den Erlass einer Rückkehrentscheidung erforderlichen Verfahrens- und Formvorschriften [hierzu b)]. Daran fehlt es im Fall der Abschiebung des Klägers, so dass sich die Abschiebung als unionsrechtswidrig erweist [hierzu c)]. Dagegen kann offenbleiben, ob die ursprünglich fehlende Zielstaatsbestimmung auch zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung geführt hat und ob der Kosovo überhaupt geeignetes Zielland einer Rückkehrverpflichtung sein konnte [hierzu d)].

56 a) Die Abschiebung des Klägers unterfällt dem sachlichen und persönlichen Anwendungsbereich nach Art. 2 und 3 Richtlinie 2008/115/EG. [...]

57 b) Die Abschiebungsandrohung ist als Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4 Richtlinie 2008/115/EG anzusehen [...]. In jeder Rückkehrentscheidung muss unter den in Art. 3 Nr. 3 Richtlinie 2008/115/EG genannten Drittländern dasjenige angegeben werden, in das der Adressat der Rückkehrentscheidung abzuschieben ist. [...]

58 c) Gemessen an diesen Maßstäben erweist sich die Abschiebung des Klägers als rechtswidrig, da sie gegen die Vorgaben der Richtlinie 2008/115/EG verstößt.

59 aa) Die Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 15. Oktober 2014 enthält mit der Nennung des "Heimatlandes" keine Festlegung des Ziellandes im Rahmen einer Rückkehrentscheidung nach Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Nr. 4 Richtlinie 2008/115/EG, da der Bescheid offenlässt, welches Land als das Heimatland des Klägers anzusehen ist. [...]

60 bb) Das Zielland ist auch nicht nachträglich ordnungsgemäß bestimmt worden, da die dem Kläger bekannt gewordenen Mitteilungen der Beklagten zur Absicht einer Abschiebung in den Kosovo nicht in Übereinstimmung mit den zu beachtenden Verfahrensvorschriften von Art. 12 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG stehen. [...]

61 d) Es muss in diesem Zusammenhang nicht entschieden werden, ob nach Inkrafttreten der Richtlinie 2008/115/EG eine Abschiebungsandrohung ohne Zielstaatsbestimmung bereits aus diesem Grunde rechtswidrig ist [...] oder ob die Abschiebungsandrohung, ohne noch als Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie 2008/115/EG zu gelten, im Übrigen Bestand haben kann [...]. Denn allein aufgrund der fehlenden Nennung des Ziellandes im Bescheid vom 15. Oktober 2014 fehlt es an einer Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Nr. 4 Richtlinie 2008/115/EG als Grundlage für eine Rückführung des Klägers in den Kosovo und stellt die vollzogene Abschiebung des Klägers einen Verstoß gegen die Richtlinie 2008/115/EG dar. [...]