EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 24.02.2021 - C-673/19 M, A gg. Niederlande - asyl.net: M29402
https://www.asyl.net/rsdb/m29402
Leitsatz:

Inhaftierung zum Zwecke der Überstellung "Anerkannter" ohne vorherige Rückkehrentscheidung:

Die Inhaftierung einer Person mit internationalem Schutzstatus in einem anderen EU-Mitgliedsstaat zum Zwecke der Überstellung ist rechtmäßig, wenn diese einer Aufforderung, sich in diesen Mitgliedsstaat zu begeben, nicht nachgekommen ist und ihr gegenüber keine Rückkehrentscheidung erlassen werden kann, weil eine Rückführung in einen der in Art. 3 Nr. 3 RL 2008/115/EG genannten Staaten rechtlich unmöglich ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: internationaler Schutz in EU-Staat, Rückkehrentscheidung, Abschiebungshaft, freiwillige Ausreise, rechtliche Unmöglichkeit,
Normen: RL 2008/115/EG Art. 3, RL 2008/115/EG Art. 4, RL 2008/115/EG Art. 6, RL 2008/115/EG Art. 15,
Auszüge:

[...]

27 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 3, 4, 6 und 15 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen sind, dass sie einen Mitgliedstaat daran hindern, einen illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ohne vorherigen Erlass einer Rückkehrentscheidung ihm gegenüber in Verwaltungshaft zu nehmen, um seine zwangsweise Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat vorzunehmen, in dem ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, wenn sich der Drittstaatsangehörige geweigert hat, der ihm erteilten Anordnung, sich in den anderen Mitgliedstaat zu begeben, Folge zu leisten. [...]

29 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2008/115 vorbehaltlich der in ihrem Art. 2 Abs. 2 vorgesehenen Ausnahmen auf alle illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen Anwendung findet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Juni 2016, Affum, C-47/15, EU:C:2016:408, Rn. 61, und vom 19. März 2019, Arib u. a., C-444/17, EU:C:2019:220, Rn. 39). Der Begriff "illegaler Aufenthalt" wird in Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie definiert als "die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die … Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats".

30 Aus dieser Definition geht hervor, dass jeder Drittstaatsangehörige, der sich, ohne die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindet, schon allein deswegen dort illegal aufhältig ist (Urteil vom 7. Juni 2016, Affum, C-47/15, EU:C:2016:408, Rn. 48). Dies kann selbst dann der Fall sein, wenn der Drittstaatsangehörige wie vorliegend über einen gültigen Aufenthaltstitel in einem anderen Mitgliedstaat verfügt, weil dieser Staat ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat.

31 Wenn ein Drittstaatsangehöriger in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 fällt, ist er grundsätzlich den darin vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren im Hinblick auf seine Rückführung zu unterwerfen, sofern sein Aufenthalt nicht gegebenenfalls legalisiert wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2016, Affum, C-47/15, EU:C:2016:408, Rn. 61 und 62).

32 In dieser Hinsicht geht zum einen aus Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 hervor, dass dann, wenn die Illegalität des Aufenthalts erwiesen ist, gegenüber jedem Drittstaatsangehörigen unbeschadet der Ausnahmen nach Art. 6 Abs. 2 bis 5 eine Rückkehrentscheidung erlassen werden muss, wobei die in Art. 5 der Richtlinie festgelegten Anforderungen strikt einzuhalten sind. Gemäß Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie erfolgt die entsprechende Rückkehr in das Herkunftsland des Drittstaatsangehörigen oder in ein Transitland oder in ein anderes Drittland, in das der Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird.

33 Abweichend von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 sieht zum anderen Art. 6 Abs. 2 vor, dass der illegal aufhältige Drittstaatsangehörige dann, wenn er über einen Aufenthaltstitel in einem anderen Mitgliedstaat verfügt, unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zurückkehren muss.

34 Wenn indessen der genannte Drittstaatsangehörige dieser Verpflichtung nicht nachkommt oder seine sofortige Ausreise aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten ist, dann erlässt der Mitgliedstaat, in dem er sich illegal aufhält, nach der genannten Bestimmung ihm gegenüber eine Rückkehrentscheidung.

35 Aus Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 geht somit hervor, dass einem Drittstaatsangehörigen, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, aber über ein Recht auf Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat verfügt, die Möglichkeit gegeben werden muss, sich in den zuletzt genannten Mitgliedstaat zu begeben, statt ihm gegenüber von vornherein eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, es sei denn, die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit erfordern dies (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Januar 2018, E, C-240/17, EU:C:2018:8, Rn. 46).

36 Allerdings kann die genannte Bestimmung nicht dahin ausgelegt werden, dass sie eine Ausnahme vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 enthält, die zu den in ihrem Art. 2 Abs. 2 genannten Ausnahmen hinzuträte und die es den Mitgliedstaaten erlaubte, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige von den gemeinsamen Normen und Verfahren für die Rückführung auszuschließen, wenn diese sich weigern, unverzüglich in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zurückzukehren, der ihnen ein Aufenthaltsrecht zuerkennt (vgl. entsprechend Urteil vom 7. Juni 2016, Affum, C-47/15, EU:C:2016:408, Rn. 82).

37 Wie in Rn. 34 des vorliegenden Urteils ausgeführt, sind die Mitgliedstaaten, in deren Hoheitsgebiet sich die genannten Drittstaatsangehörigen illegal aufhalten, in einem solchen Fall vielmehr gemäß Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit ihrem Art. 6 Abs. 1 grundsätzlich dazu verpflichtet, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, mit der diesen Drittstaatsangehörigen vorgeschrieben wird, das Unionsgebiet zu verlassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Januar 2018, E, C-240/17, EU:C:2018:8, Rn. 45).

38 Zweitens geht aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte hervor, dass es den niederländischen Behörden rechtlich unmöglich war, eine Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 gegenüber den Drittstaatsangehörigen, um die es in den Ausgangsverfahren geht, zu erlassen, nachdem diese sich geweigert haben, der ihnen erteilten Anordnung Folge zu leisten, in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zurückzukehren, in dem sie über einen Aufenthaltstitel verfügten.

39 In jeder Rückkehrentscheidung muss nämlich unter den in Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie 2008/115 genannten Drittländern dasjenige angegeben werden, in das der Drittstaatsangehörige abzuschieben ist, der Adressat der Rückkehrentscheidung ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C-924/19 PPU und C-925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 115).

40 Zum einen steht jedoch fest, dass den Drittstaatsangehörigen, um die es in den Ausgangsverfahren geht, in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich der Niederlande die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist. Es ist daher nicht möglich, sie in ihr Herkunftsland zurückzuführen, ohne gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung zu verstoßen, der in Art. 18 und in Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleistet ist und – worauf Art. 5 der Richtlinie 2008/115 hinweist – von den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie und demnach insbesondere dann, wenn sie den Erlass einer Rückkehrentscheidung in Betracht ziehen, zu beachten ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C-181/16, EU:C:2018:465, Rn. 53).

41 Zum anderen geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die genannten Drittstaatsangehörigen ebenso wenig gemäß Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie 2008/115 in ein Transitland oder in ein anderes Drittland, in das sie freiwillig hätten zurückkehren wollen und in dem sie aufgenommen würden, zurückgeführt werden können.

42 Folglich ist es dem betreffenden Mitgliedstaat unter den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Umständen, in denen keines der in Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie 2008/115 genannten Länder als Zielort für die Rückkehr in Frage kommt, rechtlich unmöglich, die ihm gemäß Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 obliegende Pflicht zu erfüllen, gegenüber einem illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der sich weigert, sich unverzüglich in den Mitgliedstaat zu begeben, in dem er über einen Aufenthaltstitel verfügt, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen. Des Weiteren ermöglicht keine Vorschrift der Richtlinie und kein in ihr vorgesehenes Verfahren die Vornahme der Abschiebung dieses Drittstaatsangehörigen, obgleich er sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält.

43 Drittens ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2008/115 nicht zum Ziel hat, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren (Urteil vom 6. Dezember 2011, Achughbabian, C-329/11, EU:C:2011:807, Rn. 28). Die mit der Richtlinie geschaffenen gemeinsamen Normen und Verfahren beziehen sich nämlich nur auf den Erlass von Rückkehrentscheidungen und deren Vollstreckung (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Dezember 2011, Achughbabian, C-329/11, EU:C:2011:807, Rn. 29, und vom 8. Mai 2018, K. A. u.a. [Familienzusammenführung in Belgien], C-82/16, EU:C:2018:308, Rn. 44).

44 Die Richtlinie 2008/115 soll insbesondere nicht die Folgen bestimmen, die sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aus dem illegalen Aufenthalt Drittstaatsangehöriger ergeben, gegenüber denen keine Entscheidung über die Rückführung in ein Drittland erlassen werden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Juni 2014, Mahdi, C-146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 87). Dies ist auch dann der Fall, wenn diese Unmöglichkeit wie hier insbesondere aus dem Grundsatz der Nichtzurückweisung folgt.

45 Folglich wird in einer Situation wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der keine Rückkehrentscheidung erlassen werden kann, die Entscheidung eines Mitgliedstaats, einen illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen zwangsweise in den Mitgliedstaat zu überstellen, der ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, nicht von den mit der Richtlinie 2008/115 aufgestellten gemeinsamen Normen und Verfahren geregelt. Demzufolge fällt sie nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie, sondern gehört zur Ausübung der alleinigen Zuständigkeit dieses Mitgliedstaats im Bereich der rechtswidrigen Einwanderung. Infolgedessen gilt dasselbe für die Verwaltungshaft eines solchen Drittstaatsangehörigen, die unter diesen Umständen angeordnet wird, um seine Überstellung in den Mitgliedstaat sicherzustellen, in dem ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist. [...]

48 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 3, 4, 6 und 15 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen sind, dass sie einen Mitgliedstaat nicht daran hindern, einen illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen in Verwaltungshaft zu nehmen, um seine zwangsweise Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat vorzunehmen, in dem ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, wenn sich der Drittstaatsangehörige geweigert hat, der ihm erteilten Anordnung, sich in den anderen Mitgliedstaat zu begeben, Folge zu leisten, und ihm gegenüber keine Rückkehrentscheidung erlassen werden kann. [...]