Eilrechtsschutz wegen Anspruchs auf Chancen-Aufenthaltsrecht:
1. Macht eine Person glaubhaft, Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104c AufenthG ("Chancen-Aufenthaltsrecht") zu haben, kann der Aufenthalt im Bundesgebiet durch Erlass einer einstweiligen Anordnung gesichert werden und ist ausnahmsweise eine Verfahrensduldung zu erteilen.
2. Der Versagungsgrund des § 104c Abs. 1 S. 2 AufenthG wegen wiederholter vorsätzlich falscher Angaben oder Täuschung über Identität oder Staatsangehörigkeit findet nur bei aktivem eigenverantwortlichen Verhalten der betroffenen Person Anwendung und nur dann, wenn dieses Verhalten derzeit der Grund dafür ist, dass eine Abschiebung nicht vollzogen werden kann. Falsche Angaben oder Täuschungen, die den Vollzug einer Abschiebung nur in der Vergangenheit verzögert oder behindert haben, sind unbeachtlich.
3. § 104c Abs. 1 S. 1 AufenthG wurde als Soll-Regelung ausgestaltet, sodass die Aufenthaltserlaubnis bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen in der Regel zu erteilen ist und nur bei Vorliegen atypischer Umständen anders entschieden werden kann. In der Vergangenheit liegende Täuschungen oder Falschangaben oder Verletzungen von Mitwirkungspflicht sind in der Regel keine solchen atypischen Umstände.
4. Gemäß § 104c Abs. 3 S. 1 AufenthG kann die Aufenthaltserlaubnis abweichend von der Titelerteilungssperre wegen Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet, § 10 Abs. 3 S. 2. AufenhtG, erteilt werden. Das insofern bestehende Ermessen ("kann") wird regelmäßig zugunsten der potentiell begünstigten Person auszuüben sein. Auch insofern dürften negative Ermessensentscheidung wegen Täuschungen in der Vergangenheit nur in Betracht kommen, wenn sich diese Täuschung über einen längeren Zeitraum hingezogen hat und erst vor kurzem aufgedeckt bzw. aufgegeben wurde.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 26.10.2022 - 2 M 69/22 - asyl.net: M31294; siehe auch: VG Schwerin, Urteil vom 24.01.2023 - 1 A 1110/21 SN - asyl.net: M31576)
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Eine - lediglich ausnahmsweise mögliche - Verfahrensduldung ist zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG jedoch dann geboten, wenn eine Aussetzung der Abschiebung notwendig ist, um die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Verfahrens aufrechtzuerhalten und so sicherzustellen, dass eine aufenthaltsrechtliche Regelung - die einen Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetzt - einem möglicherweise Begünstigten zugutekommen kann (vgl. Beschluss des Senats vom 26. Oktober 2022 - 2 M 69/22 - juris Rn. 15 m.w.N.). Das gilt auch für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG, da die Erteilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis voraussetzt, dass sich der Antragsteller als "geduldeter Ausländer" im Bundesgebiet aufhält. [...] In diesen Fällen kann der weitere Aufenthalt im Bundesgebiet durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung gesichert werden, soweit der Ausländer glaubhaft macht, dass ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis besteht oder - wenn der Ausländerbehörde in Bezug auf die Titelerteilung Ermessen eröffnet ist - keine tragfähigen Ermessensgesichtspunkte ersichtlich sind, die eine Ablehnung rechtfertigen könnten [...].
a) Der Antragsteller zu 1 erfüllt die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG. Ein Versagungsgrund liegt nicht vor. Es sind auch keine tragfähigen Ermessensgesichtspunkte ersichtlich, die eine Ablehnung einer solchen Aufenthaltserlaubnis rechtfertigen könnten. [...]
bb) Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin greift der Versagungsgrund des§ 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG vorliegend nicht ein. Nach dieser Vorschrift soll die Aufenthaltserlaubnis nach Satz 1 versagt werden, wenn der Ausländer wiederholt vorsätzlich falsche Angaben gemacht oder über seine Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht hat und dadurch seine Abschiebung verhindert.
Voraussetzung für den Versagungsrund ist ein aktives eigenverantwortliches Verhalten des Ausländers i1 der Vergangenheit, das weiterhin ursächlich für das derzeitige Abschiebehindernis ist [...]. § 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG setzt voraus, dass die Abschiebung aus Gründen, die im Verantwortungsbereich des Ausländers liegen, nicht durchgeführt werden kann. Gründe, die den Vollzug ausschließlich in der Vergangenheit verzögert oder behindert haben, sind unbeachtlich. Die Falschangabe oder Täuschung muss auch noch heute kausal für die Unmöglichkeit der Aufenthaltsbeendigung sein. Das ist dann nicht der Fall, wenn der Ausländer eine in der Vergangenheit liegende Identitätstäuschung aufgegeben und seine Identität offenbart hat. [...]
cc) Es liegen auch keine atypischen Umstände vor, die es denkbar erscheinen lassen, die Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht zu erteilen.
Der Gesetzgeber hat die Erteilung als Soll-Regelung ausgestaltet, was bedeutet, dass die Aufenthaltserlaubnis bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen in der Regel zu erteilen ist. Anders darf nur bei Vorliegen atypischer Umstände entschieden werden [...]. Für die Annahme eines atypischen Ausnahmefalls ist ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. LSA-Hinweise, S. 3). Eine zurückliegende Täuschung über die Identität oder Falschangaben sowie eine Verletzung der Mitwirkungspflichten bei der Passbeschaffung in der Vergangenheit stellen in der Regel keinen atypischen Fall dar [...].
dd) Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG an den Antragsteller zu 1 steht auch die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht entgegen. Nach § 104c Abs. 3 Satz 1 AufenthG kann die Aufenthaltserlaubnis abweichend von § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erteilt werden. Die Vorschrift räumt der Ausländerbehörde zwar einen Ermessensspielraum ein. Es sind jedoch vorliegend keine tragfähigen Ermessensgesichtspunkte ersichtlich, die im Rahmen einer Ermessensentscheidung nach § 104c Abs. 3 Satz 1 AufenthG eine Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis gemäߧ 104c Abs. 1 AufenthG rechtfertigen könnten.
Bei der Ermessensausübung nach§ 104c Abs. 3 AufenthG sind die konkreten Umstände des Einzelfalls zu würdigen und angemessen zu berücksichtigen (vgl. BMI-Hinweise, S. 8). Das Ermessen bei § 104c Abs. 3 AufenthG wird dabei regelmäßig zugunsten des potentiell Begünstigten auszuüben sein [...]. In jedem Fall ist darauf zu achten, dass die vom Gesetzgeber getroffenen Wertungen nicht unterlaufen werden. Hierbei ist auch die Wertung des § 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG zu berücksichtigen, wonach - wie ausgeführt - nur ein aktives eigenverantwortliches Verhalten des Ausländers in der Vergangenheit, das weiterhin ursächlich für das derzeitige Abschiebehindernis ist, ein Grund für die Versagung der Aufenthaltserlaubnis ist. Soweit - wie hier - der Asylantrag gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG wegen Täuschung über die Identität und Staatsangehörigkeit als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, die Kausalität der Täuschung für das Abschiebungshindernis inzwischen jedoch nicht mehr gegeben ist, wird eine negative Ermessensentscheidung bei § 104c Abs. 3 AufenthG allenfalls bei einer sich über einen längeren Zeitraum hinziehenden Täuschung, die erst vor kurzem aufgegeben bzw. aufgedeckt wurde, in Betracht kommen. [...]