Mangelnde Mitwirkung schließt Chancen-Aufenthaltsrecht nicht aus:
1. Stellt eine Person einen Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, so ist der Antrag sachdienlich so auszulegen, dass die Person auch ein sog. Chancen-Aufenthaltsrecht gemäß § 104c AufenthG beantragt. Das Gleiche gilt, wenn vor Inkrafttreten des § 104c AufenthG explizit nur eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG beantragt wurde.
2. § 104c Abs. 1 S. 2 AufenthG, wonach die Aufenthaltserlaubnis versagt werden soll, wenn die betroffene Person wiederholt vorsätzlich falsche Angaben gemacht oder über ihre Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht hat, findet nur bei aktivem Handeln Anwendung. Kommt die betroffene Person nur Aufforderungen zur Vorlage eines Pass(ersatzes) oder zur Vorsprache bei den Behörden des Heimatlandes nicht nach, rechtfertigt dies als passives Verhalten in Form mangelnder Mitwirkung nicht den Ausschluss vom Chancen-Aufenthaltsrecht.
3. Die Regelung des § 104c Abs. 1 S. 1 AufenthG ist eine Soll-Vorschrift ("Einem geduldeten Ausländer soll [...] eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn [...]"), sodass die Aufenthaltserlaubnis bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen in der Regel zu erteilen ist und nur bei Vorliegen atypischer Umstände ein Ermessen der Behörde besteht. Die mangelnde Mitwirkung bei Identitätsklärung oder Beschaffung eines Pass(ersatzes) begründet grundsätzlich keinen atypischen Fall, sodass auch in diesen Fällen kein Ermessen der Behörde, sondern ein Anspruch auf Erteilung besteht.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: Bundesministerium des Innern, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 23.12.2022 - (Asylmagazin 1-2/2023, S. 33) - asyl.net: M31183)
[...]
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 5. Februar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Dieser hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG, vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Die erforderliche Antragstellung (vgl. § 81 Abs. 1 AufenthG) des Klägers liegt vor. Ausreichend für eine Antragstellung ist es im vorliegenden Fall, wenn der Betroffene (ggf. nach sachdienlicher Auslegung) einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gestellt hat, da sich ein solcher Antrag regelmäßig auf sämtliche im Abschnitt 5 des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes (Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen) aufgeführten Anspruchsgrundlagen bezieht [...] und der Aufenthaltstitel gemäß § 104c Abs. 1 AufenthG diesen gleichgestellt ist [...]. Im vorliegenden Fall hat der Kläger in seinem Antrag vom 17. September 2020 zwar nur die - damals allein in Betracht kommende - Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG genannt. Bei sachgerechter Auslegung seines Antrags ist dieser jedoch dahingehend zu verstehen, dass der Kläger die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen begehrte, unabhängig von der konkreten Anspruchsgrundlage. Für die während des gerichtlichen Verfahrens in Kraft getretene Regelung des § 104c Abs. 1 AufenthG bedurfte es daher keiner neuen Antragstellung [...].
Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104c Abs. 1 AufenthG sind gegeben. [...]
Entgegen der Auffassung des Beklagten steht § 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG dem Anspruch des Klägers nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift soll die Aufenthaltserlaubnis versagt werden, wenn der Ausländer wiederholt vorsätzlich falsche Angaben gemacht oder über seine Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht hat und dadurch seine Abschiebung verhindert. Dabei ist der Anwendungsbereich der Ausnahmeregelung in § 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG auf wiederholt vorsätzliche Falschangaben und Täuschungen über Identität oder Staatsangehörigkeit und damit auf bestimmte aktive Verhaltensweisen des Ausländers beschränkt (BTDrs. 20/3717, S. 45, 57). Dass eine solche aktive Täuschungshandlung gegeben sein könnte, ist weder ersichtlich noch wurde dies durch den Beklagten geltend gemacht.
Zwar hat der Kläger bislang lediglich die Kopie einer Geburtsurkunde vorgelegt. Der Aufforderung des Beklagten zur Vorlage eines Reisepasses bzw. Passersatzes und der Vorsprache bei den Behörden seines Heimatlandes zur Beantragung entsprechender Dokumente ist er nicht nachgekommen. Nicht zum Ausschluss des Anspruchs führt jedoch die hier allein in Rede stehende unzureichende Mitwirkung des Klägers bei der Identitätsklärung und Passbeschaffung trotz behördlicher Aufforderung, etwa bei einer verweigerten Vorsprache bei der Vertretung des Herkunftsstaats oder die dortige unterlassene Antragstellung [...].
Die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen führt im vorliegenden Fall zu einem gebundenen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG. Der Gesetzgeber hat die Regelung als Soll-Vorschrift ausgestaltet mit der Folge, dass die Aufenthaltserlaubnis in der Regel zu erteilen ist und nur beim Vorliegen atypischer Umstände nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden ist (sog. intendiertes Ermessen). [...]
Wann ein atypischer Fall anzunehmen ist, ist nach dem Zweck des § 104c Abs. 1 AufenthG - Gewährung einer Aufenthaltsperspektive in Form einer Aufenthaltserlaubnis "auf Probe" - zu bestimmen. Danach kann die Aufenthaltserlaubnis nur versagt werden, wenn atypische Umstände vorliegen, denen ein höheres Gewicht beizumessen ist, als dem privaten und öffentlichen Interesse daran, den Aufenthalt probeweise zu legalisieren, um positive Anreize für die Integration in den Arbeitsmarkt und die für eine geordnete Migration wesentliche Identitätsklärung zu setzen.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Gesetz bestimmte Integrationsdefizite für unbeachtlich erklärt. [...]
Diese Wertungen dürfen nicht unterlaufen werden bei Beantwortung der Frage, ob ein atypischer Fall gegeben ist, der die Versagung der Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG im Wege einer Ermessensentscheidung durch die Behörde rechtfertigt [...]. Somit kann der Umstand, dass der Ausländer unterhalb der Schwelle von § 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen ist, nicht die Annahme eines atypischen Falls rechtfertigen [...]. Etwas andere könnte möglicherweise nur in besonderen Fällen geltend, wenn eine bestimmte passive Verhaltensweise ihrem Unrechtsgehalt nach dem aktiven Verhindern der Passausstellung gleichzusetzen ist (vgl. Zühlcke, a.a.O., Rn. 148). [...]