VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 02.03.2023 - 12 A 849/22 (Asylmagazin 4/2023, S. 99 f.) - asyl.net: M31356
https://www.asyl.net/rsdb/m31356
Leitsatz:

Aufhebung einer Unzulässigkeitsentscheidung für in Bulgarien anerkannten, alleinstehenden Mann:

1. Auch alleinstehenden, gesunden und arbeitsfähigen international Schutzberechtigten droht in Bulgarien Obdachlosigkeit und das Absinken unter die Armutsgrenze und damit die Gefahr der Verelendung.

2. Ein Anspruch auf Sozialhilfe ist ebenso wie das Anmieten einer Wohnung so gut wie nicht realisierbar. Die Beiträge für die Krankenversicherung haben international Schutzberechtigte selbst zu zahlen, sodass eine über reine Notfallversorgung hinausgehende Gesundheitsversorgung für Schutzberechtigte kaum zu erlangen ist.

3. Die Situation anerkannt Schutzberechtigter verschärft sich auch dadurch, dass Bulgarien eine Vielzahl ukrainischer Geflüchteter unterbringen und versorgen muss und diese auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt mit anerkannt Schutzberechtigten konkurrieren. 

(Leitsätze der Redaktion; entgegen: OVG Niedersachsen, Urteil vom 07.12.2021 - 10 LB 257/20 - asyl.net: M30247; anderer Ansicht: OVG Sachsen, Urteil vom 07.09.2022 - 5 A 153/17.A - asyl.net: M31250; unter Bezug auf: VG Köln, Urteil vom 20.12.2022 - 20 K 4420/22.A - asyl.net: M31218; VG Freiburg, Urteil vom 19.09.2022 - A 14 K 900/22 - asyl.net: M31139)

Schlagwörter: Bulgarien, internationaler Schutz in EU-Staat, ausländische Anerkennung, Obdachlosigkeit, Sozialleistungen, Arbeitslosigkeit, medizinische Versorgung,
Normen: EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, RL 2013/32 Art. 33 Abs. 2 Bst. a
Auszüge:

[...]

Das Nds. OVG hat seine Einschätzung bzgl. alleinstehender, junger, gesunder, arbeitsfähiger anerkannt Schutzberechtigter inzwischen geändert. In seinem Urteil vom 7. Dezember 2021 (- 10 LB 257/20 -, juris) hat es hierzu im Wesentlichen ausgeführt, zum Zeitpunkt der Entscheidung seien keine hinreichenden Gründe für die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigendem Behandlung für diese Personengruppe bei einer Rückführung nach Bulgarien feststellbar. [...]

Dem folgt das erkennende Gericht nicht. Es hält vielmehr an seiner bisherigen Einschätzung fest, da sich aus einer Gesamtwürdigung der Erkenntnisse auch aus neueren Erkenntnismitteln ergibt, dass sich die Lebensumstände für alle anerkannt Schutzberechtigten, mithin auch für alleinstehende, gesunde, arbeitsfähige Statusinhaber in Bulgarien nicht erkennbar verbessert haben.

Subsidiär Schutzberechtigten und anerkannten Flüchtlingen ist es in Bulgarien nach wie vor faktisch so gut wie unmöglich, staatliche Hilfsleistungen zu erlangen. [...]

Aufgrund der geschilderten Problematik ist die Chance, eine Unterkunft zu finden, denkbar gering, weil für Statusinhaber mit nahezu unüberwindbaren Schwierigkeiten verbunden (AIDA a.a.O., S. 97; BFA a.a.O., S. 14). Es stehen nur sehr wenige Sozialwohnungen zur Verfügung. Eine Berechtigung auf Erhalt einer Sozialwohnung besteht auch nur, wenn bei Familien ein Partner bulgarischer Staatsangehöriger ist (BFA a.a.O., S. 14). Der Anmietung einer Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt stehen die genannten formalen Aspekte (Registrierung, Erhalt von Papieren etc.), Ressentiments von Vermietern gegenüber Migranten sowie Fremdenfeindlichkeit bis hin zu rassistischen Ausschreitungen gegenüber (UNHCR: Municipal Housing Policies 2020: A key factor for sucsessful integration at the local level, S. 33 f.). Auch die Sprachbarriere der Schutzstatusinhaber erschwert die Wohnungssuche. Rücküberstellten Statusinhabern steht auch die Möglichkeit, in einer Aufnahmeeinrichtung unterzukommen, nicht mehr zur Verfügung (AIDA a.a.O. S. 97; BAF a.a.O., S 13 f.). Ihnen blieben allenfalls die 12 "Zentren für temporäre Unterbringung" mit ca. 600 Plätzen oder für den Winter die zwei Krisenzentren in Sofia mit ca. 100 Plätzen. Die Unterbringung in diesen Zentren ist jedoch zeitlich begrenzt, der Zugang zweifelhaft. Denn bei diesen Zentren handelt es sich um Obdachlosenunterkünfte, auf die auch notleidende bulgarische Staatsbürger angewiesen sind, und nicht um Flüchtlingsunterkünfte, die nur diesen zur Verfügung stünden. [...]

Die Kosten für eine angemessene Gesundheitsversorgung werden grundsätzlich von der Krankenversicherung übernommen. Die Beiträge hierfür hat ein Schutzberechtigter vom Tag der Zuerkennung des internationalen Schutzes an aber selbst zu zahlen. Kostenlos erfolgt lediglich eine Notfallversorgung (AIDA a.a.O., S. 98 f.). Für etliche Leistungen von Hausärzten, Spezialisten und teilweise für Medikamente sind allerdings sog. out-of-pocket-Zahlungen (Eigenleistungen) zu erbringen. (BAF a.a.O., S. 15). Eine über die reine Notfallversorgung hinausgehende Gesundheitsversorgung ist mithin ebenso ein für Schutzberechtigte kaum zu lösendes Finanzierungsproblem.

Ein Anspruch auf Sozialhilfe ist aus den gleichen formalen Gründen wie die Anmietung einer Wohnung so gut wie nicht realisierbar (AIDA a.a.O., S. 98, BAF a.a.O., S. 14). Darüber hinaus ist diese nicht ansatzweise ausreichend zur Sicherstellung eines Existenzminimums einschließlich der Kosten für eine Unterkunft [...].

Die Situation kann nach Auffassung des Gerichts auch durch die Angebote der Nichtregierungsorganisationen nicht aufgefangen werden. [...]

Die Erlangung einer Unterkunft und eines Existenzminimums ist mithin davon abhängig, ob es dem anerkannt Schutzberechtigten gelingt, eine Arbeitsstelle mit ausreichendem Einkommen zu finden. Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist zwar rechtlich nicht begrenzt, die Schutzberechtigten sehen sich aber nur sehr schwer oder nicht zu überwindenden Hindernissen gegenüber. Diese sind zum einen die Sprachbarriere, das Fehlen einer adäquaten Hilfe für ein Sprachtraining und die mangelnde Anerkennung von ausländischen Berufsqualifikationen (AIDA a.a.O., S. 97 f.) sowie die aus formalen Gründen (s.o.) kaum realisierbare Chance, sich bei der Arbeitsagentur arbeitslos melden zu können. Hinzu kommt, dass in der Bevölkerung - wie ausgeführt - nach wie vor starke und weit verbreitete Ressentiments gegenüber Ausländern bestehen. Statusinhaber finden daher - wenn überhaupt - meistens nur eine schlecht bezahlte Arbeitsstelle bei den wenigen eigenen Landsleuten, die sich ein eigenes Geschäft aufgebaut haben oder im Graubereich der Wirtschaft (Auswärtiges Amt an das VG Potsdam vom 11. März 2021 , S. 5). Es kann daher nicht angenommen werden, dass diese geringen Einkommen ausreichen, eine Wohnungsmiete, die Bedürfnisse des täglichen Lebens (einschließlich Krankenversicherung) und ggf. zusätzliche Leistungen der Gesundheitsversorgung abzudecken. [...]

Hinzu kommt, dass Bulgarien die Unterbringung und Versorgung einer Vielzahl ukrainischer Flüchtlinge verkraften musste und muss. Da die diesbezüglichen staatlichen Mittel zurückgefahren wurden (vgl. bordermonitoring.eu e.V.: Update Bulgarien vom 18. Juli 2022), werden ukrainische Flüchtlinge, die finanziell und ihre Ausbildung betreffend zumeist besser gestellt sind als die Mehrheit der übrigen Schutzsuchenden, auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt mit anerkannt Schutzberechtigten konkurrieren, was die Situation für letztere weiter verschärft.

Vor diesem Hintergrund geht das Gericht weiterhin davon aus, dass es anerkannt Schutzberechtigten nach wie vor grundsätzlich nicht möglich ist, ihr Existenzminimum selbst zu erwirtschaften. Mangels staatlicher Hilfe und auch anderer ausreichender Hilfsmöglichkeiten (durch Nichtregierungsorganisationen) besteht daher die ernsthafte Gefahr der Obdachlosigkeit und des Absinkens unter die Armutsgrenze und damit die Gefahr der Verelendung (vgl. auch VG Freiburg, Urteil vom 19. September 2022 - A 14 K 900/22 -; VG Köln, Gerichtsbescheid vom 15. November 2022 - 20 K 3733/22.A -, beide juris).

Der Einschätzung des Nds. OVG in seinem Urteil vom 7. Dezember 2021 (a.a.O.) (und der weiteren aktuellen entgegenstehenden Rechtsprechung [...], nicht vulnerablen Schutzberechtigten drohe in Bulgarien keine Obdachlosigkeit, weil keine konkreten Erkenntnisse über Obdachlosigkeit in nennenswertem Umfang vorlägen, es Unterstützung durch Nichtregierungsorganisationen gebe und arbeitsfähige anerkannte Schutzberechtigte mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in der Lage seien, eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt anzumieten, folgt das Gericht daher nicht. [...]