VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 19.09.2022 - A 14 K 900/22 - asyl.net: M31139
https://www.asyl.net/rsdb/m31139
Leitsatz:

Aufhebung eines Dublin-Bescheids hinsichtlich Bulgariens wegen systemischer Mängel:

"Schutzsuchende afghanischer Staatsangehörigkeit dürfen derzeit nicht nach Bulgarien zurückgeführt werden. Ihnen droht im Falle der Rückführung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unter Verstoß gegen das Refoulementverbot eine Abschiebung nach Afghanistan ohne inhaltliche Prüfung ihres Asylbegehrens. In Bulgarien werden die Anträge afghanischer Asylsuchender zu fast 100% als unbegründet abgelehnt.

Weiter würde ihnen selbst im seltenen Ausnahmefall einer Anerkennung in Bulgarien eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh in Form von Obdachlosigkeit und Verelendung drohen. Dies gilt insbesondere für Personen, die in Bulgarien bereits einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung dieser Art ausgesetzt gewesen sind, sowie für Menschen, die dadurch physische und/oder psychische Schäden davongetragen haben."

(Amtliche Leitsätze; siehe auch: VG Oldenburg, Urteil vom 02.03.2023 - 12 A 849/22 - asyl.net: M31356)

Schlagwörter: Bulgarien, Afghanistan, Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung, systemische Mängel, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Refoulement, ausländische Anerkennung, internationaler Schutz in EU-Staat,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

22 a) Bereits die Aufnahmebedingungen in Bulgarien während eines laufenden Asylverfahrens genügen nicht den Anforderungen des Art. 4 GrCh. Das Asylverfahren in Bulgarien weist in den Fällen, in denen ein Asylbewerber aus dem Herkunftsstaat Afghanistan in Bulgarien einen Asylantrag gestellt hat, systemische Schwachstellen auf.

23 Dabei bestehen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass Bulgarien weder während eines Asylverfahrens noch nach dem bestandskräftigen Abschluss eines Asylverfahrens die aus Art. 3 EMRK folgenden Rechte der (abgelehnten) Asylbewerber wahrt bzw. bei der Durchführung von Abschiebungen berücksichtigt. Insbesondere ist die Beachtung des sog. Refoulement-Verbots (Art. 33 Abs. 1 GFK), wonach keine Abschiebung in ein Land erfolgen darf, in dem das Leben oder die Freiheit des Betroffenen aufgrund von Rasse, Nationalität, Religion, Zugehörigkeit zu einer bestimmen Bevölkerungsgruppe oder politischen Ansichten in Gefahr wären, in Bulgarien nicht gewährleistet.

24 Der Kläger muss damit rechnen, dass sein Asylantrag in Bulgarien in Abwesenheit abgelehnt worden ist. Dies entspricht dem grundsätzlichen Verfahren der bulgarischen Behörden hinsichtlich von afghanischen Staatsangehörigen gestellten Asylanträgen. Bulgarien hat 2016 insgesamt 2,5% sowie 2017 nur 1,5 % der afghanischen Asylantragsteller die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzstatus zuerkannt, im Jahr 2019 ansteigend auf 4 %, allerdings größten Teils erst aufgrund gerichtlicher Entscheidungen (AIDA, Country Report Bulgaria 2021, 21.02.2020, S. 49), im Jahr 2020 dann erneut lediglich 1,15 % (AIDA, aaO). [...]

25 In Bezug auf afghanische Staatsangehörige leidet das bulgarische Asylverfahren somit an grundlegenden Mängeln, afghanische Schutzsuchende müssen zu fast 100 % davon ausgehen, dass ihr Asylgesuch faktisch ohne inhaltliche Prüfung abgelehnt wird. Hier liegt gerade nicht der Fall vor, dass dem Asylantragsteller unter Zuerkennung subsidiären Schutzes lediglich die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft systematisch und ohne echte Prüfung verweigert wird, der daraus folgende Verstoß gegen die Pflichten des Mitgliedsstaates nach Art. 18 der EU-GrCh jedoch nicht einer Beurteilung eines weiteren Asylantrags in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig entgegensteht (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 u. a., Rn. 85 über juris – Ibrahim, Rn. 99 f.). Vielmehr besteht in Fällen der systematischen Ablehnung des Asylgesuchs ohne echte inhaltliche Prüfung im zunächst aufnehmenden Mitgliedstaat die Gefahr eines Verstoßes gegen das Refoulementverbot durch Abschiebung in den Herkunftsstaat.

26 b) Sollte das Asylverfahren des Klägers in Bulgarien mittlerweile aufgrund seiner Ausreise aus Bulgarien abgelehnt worden sein, ist dem Kläger lediglich die Möglichkeit gegeben, einen Folgeantrag zu stellen. In Bulgarien ist jedoch kein Anspruch auf ein faires und substantielles Asylfolgeverfahren für Antragsteller aus dem Herkunftsland Afghanistan gegeben

27 Nach den vorliegenden Erkenntnissen drohen für im Dublin-Verfahren rücküberstellte Asylantragsteller, nach der Ankunft bis zum Erhalt einer Registrierungskarte als Asylsuchende in Vorabschiebehaft genommen zu werde; dabei werden sie jedoch nicht über ihre Rechte und Pflichten informiert [...].

28 c) Darüber hinaus ist bei der Beurteilung der Dublin-Rückführung auch bereits die Situation nach einem erfolgreichen Asylantrag mit in den Blick zu nehmen (vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 - juris, Rn. 87 ff.), so dass sich auch hieraus der Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers nach Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland ergibt.

29 Es gibt wesentliche Gründe für die Annahme, dass die Aufnahmebedingungen für anerkannte Antragsteller in Bulgarien die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. Dies hat zur Folge, dass keine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (vgl. EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 – C-540 und 541/17 – Adel Hamid und Amar Omar, NVwZ 2020, 137) und damit vorliegend auch keine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ergehen darf. [...]

34 bb) Dabei ist im Falle des Klägers zu berücksichtigen, dass er bereits eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung in Bulgarien erfahren hat, die gegen Art. 3 EMRK verstößt. Er wurde von der bulgarischen Grenzpolizei geschlagen und erlitt dadurch nachhaltige Schmerzen in der Schulter, zudem sei er jetzt psychisch angeschlagen und wolle sich deshalb behandeln lassen. Sein Vortrag hinsichtlich gewaltsamer Übergriffe durch Grenzbeamte findet seine Bestätigung in Berichten von Hilfsorganisationen über Erlebnisse anderer Flüchtlinge und aufgrund eigener Beobachtungen dieser Organisationen [...].

35 cc) Hinsichtlich Bulgarien ist festzustellen, dass dort Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen vorliegen, die alle Bereiche des bulgarischen Asylsystems erfassen und die für jeden Einzelnen, in Abhängigkeit von seiner konkreten, persönlichen Situation, insbesondere bei besonderer Vulnerabilität, das tatsächliche Risiko begründen, einer Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu sein. Diese Einschätzung wird in jüngster Zeit von einigen Verwaltungsgerichten geteilt (so etwa VG Karlsruhe, Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19 für eine Familie mit Kindern; VG Bremen, Urteil vom 25.03.2021, 2 K 3086/17 für Vulnerable; auch für arbeitsfähige junge Männer VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, VG Oldenburg, Urteil vom 29.04.2020, 12 A 6134/17, und VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19; anders z.B. VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2760/18.A; VG Stuttgart, Urteil vom 25.02.2021, A 4 K 213/20; VG Bayreuth, Beschluss vom 10.02.2021, B 7 K 20.31318 und VG Freiburg, Urteil vom 24.02.2020, A 7 K 5400/18). [...]