OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 07.12.2021 - 10 LB 257/20 - asyl.net: M30247
https://www.asyl.net/rsdb/m30247
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot für alleinstehende und arbeitsfähige Schutzberechtigte hinsichtlich Bulgariens:

"1. Anerkannt schutzberechtigten Personen, die gesund und arbeitsfähig sind, droht im Falle einer Rückführung nach Bulgarien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC.

2. Diese droht jedoch Alleinerziehenden oder Familien mit minderjährigen Kindern sowie nicht arbeitsfähigen anerkannt Schutzberechtigten grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

3. Es ist auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Corona-Pandemie davon auszugehen, dass es gesunden arbeitsfähigen anerkannt Schutzberechtigten gelingen wird, ihren eigenen notwendigen Lebensbedarf einschließlich der Kosten einer Unterkunft in Bulgarien selbst zu erwirtschaften.

4. Eine Art. 4 GRC widersprechende Praxis des bulgarischen Staates bei der Überprüfung des in Bulgarien gewährten Schutzstatus ist nicht festzustellen."

(Amtliche Leitsätze; unter Änderung der bisherigen Senatsrechtsprechung, siehe OVG Niedersachsen, Urteil vom 29.01.2018 - 10 LB 82/17 - asyl.net: M25927)

Schlagwörter: Bulgarien, familiäre Lebensgemeinschaft, Familieneinheit, internationaler Schutz in EU-Staat, Corona-Virus, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

17 Die Berufung der Beklagten hat Erfolg.

18 Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Unrecht unter Aufhebung der Ziffern 2 bis 5 (mit Ausnahme von Ziffer 3 Satz 4) des Bescheides des Bundesamtes vom 3. Juni 2019 verpflichtet, für den Kläger hinsichtlich Bulgarien ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen. Der angefochtene Bescheid verletzt den Kläger auch bezüglich der in den genannten Ziffern getroffenen weiteren Regelungen nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5, Abs. 1 Satz 1 VwGO). Insbesondere ist die Feststellung, dass im Fall des Klägers Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung rechtmäßig.

19 Denn es sind im Entscheidungszeitpunkt keine hinreichenden Gründe für die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des gesunden, arbeitsfähigen und alleinstehenden Klägers im Sinne von Art. 4 GRC bzw. dem übereinstimmenden Art. 3 EMRK bei einer Rücküberstellung nach Bulgarien feststellbar. [...]

22 Von diesen Maßstäben ausgehend, wird die erforderliche hohe Erheblichkeitsschwelle für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC nach Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel bei einem nicht vulnerablen, gesunden und arbeitsfähigen anerkannten Schutzberechtigten wie dem Kläger im Fall einer Rückkehr nach Bulgarien nicht erreicht (so auch: OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20.10.2020 - 7 A 1889/18 -, juris Rn. 28, 61; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.9.2020 - OVG 3 B 33.19 -, juris Rn. 37 und Beschluss vom 4.1.2021 – OVG 3 N 42/20 –, juris Rn. 10; Sächsisches OVG, Urteil vom 15.6.2020 - 5 A 382/18 -, juris Rn. 43; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.4.2020 - A 4 S 721/20 -, juris Rn. 14; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 25.7.2019 - 4 LB 12/17-, juris Rn. 68; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16.12.2019 - 11 A 228/15.A -, juris Rn. 51; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 18.6.2021 - 10 K 1228/20.A -, juris Rn. 19; VG Aachen, Beschluss vom 14.6.2021 - 8 L 307/21.A - juris Rn. 27; VG Bremen, Urteil vom 4.6.2021 - 2 K 262/19 -, juris Rn. 277; VG Aachen, Urteil vom 15.4.2021 - 8 K 2760/18.A - juris Rn. 44; VG Stuttgart, Urteil vom 25.2.2021 - A 4 K 213/20 -, juris Rn. 30; VG Braunschweig, Beschluss vom 16.2.2021 - 1 B 295/21 -, juris; VG Bayreuth, Urteil vom 10.2.2021 - B 7 K 20.31318 -, juris Rn. 36; VG Kassel, Beschluss vom 11.1.2021 - 2 L 2363/20.KS.A -, juris). Der Senat hält insoweit nicht mehr an seiner Rechtsprechung aus dem Jahr 2018 (vgl. Senatsurteile vom 29.1.2018 - 10 LB 82/17 - und vom 31.1.2018 - 10 LB 87/17 -, jeweils veröffentlicht bei juris) fest, die auf Grundlage der damaligen Rechts- und Erkenntnislage ergangen ist. Die Behandlung von nicht vulnerablen international Schutzberechtigten in Bulgarien entspricht derzeit den europarechtlichen Anforderungen, entscheidungserhebliche Mängel im Rechtssystem oder der Vollzugspraxis sind aktuell nicht ersichtlich.

23 Nach den dem Senat im Entscheidungszeitpunkt zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln droht nicht vulnerablen anerkannten Schutzberechtigten bei einer Rückkehr nach Bulgarien nicht die Obdachlosigkeit, weil keine konkreten Erkenntnisse über Obdachlosigkeit in nennenswertem Umfang vorliegen und arbeitsfähige anerkannte Schutzberechtigte mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in der Lage sind, eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt anzumieten.

24 Anerkannt Schutzberechtigte müssen sich im Falle ihrer Rückkehr grundsätzlich selbständig um eine Unterkunft bemühen, denn für diese Personengruppe besteht in aller Regel kein Anspruch (mehr) auf Aufnahme in einer Flüchtlingsunterkunft, da anerkannt Schutzberechtigte üblicherweise nur sechs Monate nach ihrer Anerkennung in diesen verbleiben dürfen (vgl. Asylum Information Database - aida - Country Report: Bulgarien, 2020 Update, S. 87, abrufbar unter: asylumineurope.org/wpcontent/uploads/2021/02/AIDA-BG_2020update.pdf). Für anerkannt Schutzberechtigte besteht ebenso wenig wie für bulgarische Staatsangehörige ein Anspruch auf eine Sozialwohnung oder staatliche Leistungen zur Wohnraumbeschaffung. Auf die wenigen existierenden Sozialwohnungen dürfen sich anerkannte Flüchtlinge ebenso wie bulgarische Staatsangehörige bewerben. Daneben stehen landesweit zwölf "Zentren für temporäre Unterbringung" mit einer Gesamtkapazität von 607 Plätzen zur Verfügung und das Bulgarische Rote Kreuz betreibt so genannte "Winterunterkünfte" (Gesamtkapazität: 170 Plätze), in denen auch Rückkehrerinnen und Rückkehrer für bis zu drei Monate aufgenommen werden können (BAMF, Länderinformation Bulgarien, Mai 2018, S. 9). Darüber hinaus ist für anerkannte Schutzberechtigte ebenso wie für bulgarische Bedürftige die Unterbringung in staatlichen Obdachlosenheimen grundsätzlich möglich. Praktisch scheitert eine solche Unterbringung jedoch häufig an der eingeschränkten Verfügbarkeit des entsprechenden Wohnraums sowie an der fehlenden Registrierung, für die u.a. die Vorlage eines gültigen, von bulgarischen Behörden ausgestellten Identitätsdokuments erforderlich ist, für dessen Ausstellung die Betroffenen wiederum eine Meldeanschrift benötigen (Auskunft des AA an das VG Potsdam vom 11.3.2021). Auch für den Abschluss eines Mietvertrages auf dem freien Wohnungsmarkt ist der Besitz von gültigen Ausweisdokumenten Voraussetzung, die wiederum nicht ohne eine Meldeadresse zu erhalten sind (aida - Country Report: Bulgarien, 2020 Update, S. 87; BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19.7.2021, S. 2, 3; vgl. zu diesem "Teufelskreis" in Bezug auf die Erlangung eines Arbeitsplatzes bereits Senatsurteil vom 29.1.2018 - 10 LB 82/17 -, juris Rn. 46). Darüber hinaus scheitert die private Anmietung von Wohnraum nach Einschätzung des UNHCR teilweise auch an der Zurückhaltung bulgarischer Vermieter, insbesondere an muslimische anerkannte Schutzberechtigte zu vermieten (vgl. Auskunft des AA an das VG Potsdam vom 11.3.2021). Die Möglichkeit, gemäß Art. 32 Abs. 3 des bulgarischen Asyl- und Flüchtlingsgesetzes finanzielle Unterstützung für die Anmietung privaten Wohnraums zumindest für einen Zeitraum von sechs Monaten nach der Bestandskraft der Zuerkennung nationalen Schutzes zu erhalten, bestand nur bis zu der Gesetzänderung Mitte Oktober 2020. Mit Änderungsgesetz vom 16. Oktober 2020 wurde die genannte Vorschrift aufgehoben. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 11. März 2021 an das Verwaltungsgericht Potsdam ist Hintergrund dieser Gesetzesänderung, dass Leistungen für anerkannte Schutzberechtigte nur noch in der am 25. Juli 2017 in Kraft getretenen Verordnung Nr. 144 über Bedingungen und das Verfahren zum Abschluss, zur Umsetzung und Aufhebung der Vereinbarungen zur Integration von Ausländern, denen Asyl oder internationaler Schutz gewährt worden ist (so genannte Integrationsverordnung), geregelt werden. In dieser Verordnung ist der Abschluss einer individuellen Integrationsvereinbarung zwischen den anerkannten Schutzberechtigten und dem Bürgermeister einer Gemeinde vorgesehen, die mit einer Laufzeit von einem Jahr und einer Verlängerungsoption für ein weiteres Jahr geschlossen wird. Bestandteil dieser Integrationsvereinbarung ist unter anderem die Unterstützung bei der Unterbringung und der Beantragung von bulgarischen Ausweispapieren. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Rückkehrer wie der Kläger von dieser Möglichkeit profitieren können, da der Abschluss einer solchen Integrationsvereinbarung während des Verfahrens über die Gewährung des Schutzstatus oder bis zu 14 Tage nach Zustellung des Bescheides über die Gewährung des Schutzstatus erfolgen soll (Auskunft des AA an das VG Potsdam vom 11.3.2021).

25 Dennoch gibt es nach derzeitigem Kenntnisstand weiterhin keine Hinweise darauf, dass in nennenswertem Umfang bei anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien - anders als beispielsweise in Griechenland (vgl. Senatsurteil vom 19.4.2021 - 10 LB 244/20 -, juris Rn. 48) - Obdachlosigkeit herrscht (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG Hamburg vom 7.4.2021, so bereits auch Auskunft an das BAMF vom 25.3.2019). Diese Tatsache wird darauf zurückgeführt, dass zum einen anerkannt Schutzberechtigte bei der Wohnungssuche - teilweise auch finanzielle - Unterstützung durch Nichtregierungsorganisationen wie das Bulgarische Rote Kreuz und die Caritas erhalten (vgl. Auskünfte des AA an das OVG Hamburg vom 7.4.2021 und an das VG Potsdam vom 11.3.2021; BMI, Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, Stand: Mai 2020, vom 12.6.2020; BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19.7.2021, S. 3, 6) und zum anderen nur ein kleiner Bruchteil der Personen, die in Bulgarien internationalen Schutz erhalten haben, tatsächlich in Bulgarien verblieben ist und die staatlichen Unterbringungsmöglichkeiten nicht vollständig ausgelastet sind (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das BAMF vom 25.3.2019). [...]

26 Maßgeblich für die - dauerhafte - Erlangung einer menschenwürdigen Unterkunft, die auch Nichtregierungsorganisationen nicht gewährleisten können (vgl. BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19.7.2021, S. 4), ist demnach die individuelle Fähigkeit des jeweiligen anerkannt Schutzberechtigten, seine Lebenshaltungskosten selbst zu bestreiten. Dementsprechend ist für nicht arbeitsfähige bzw. kranke Schutzberechtigte und Familien mit Kindern eine andere Bewertung geboten.

27 Dabei ist zu berücksichtigen, dass der durch Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK vermittelte Schutz bei Kindern - unabhängig davon, ob sie von ihren Eltern begleitet werden - noch wichtiger ist, weil sie besondere Bedürfnisse haben und extrem verwundbar sind (EGMR, Urteil vom 4.11.2014 – 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) –, NVwZ 2015, 127 ff. Rn. 119; Senatsbeschluss vom 19.12.2019 – 10 LA 64/19 –, juris Rn. 25). Diese bestehen aufgrund ihres Alters und ihrer Abhängigkeit, aber auch ihres Status als Schutzsuchende (EGMR, Urteil vom 4.11.2014 – 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) –, NVwZ 2015, 127 ff. Rn. 99). Kinder sind grundsätzlich verletzlicher und ihre Bewältigungsmechanismen sind noch unentwickelter (UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: Asylanträge von Kindern, v. 22.12.2009, S. 10). Sie neigen zudem mehr dazu, feindselige Situationen als verstörend zu empfinden, Drohungen Glauben zu schenken und von ungewohnten Umständen emotional beeinträchtigt zu werden (UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: Asylanträge von Kindern, v. 22.12.2009, S. 10). Sie reagieren auch stärker auf Handlungen, die gegen nahe Verwandte gerichtet sind (UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: Asylanträge von Kindern, v. 22.12.2009, S. 10). Was für einen Erwachsenen unbequem ist, kann für ein Kind eine ungebührende Härte darstellen (UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: Asylanträge von Kindern, v. 22.12.2009, S. 25; vgl. auch noch UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Flüchtlinge, v. 19.4.2016, S. 98). Die Aufnahmebedingungen für minderjährige Schutzsuchende müssen deshalb an ihr Alter angepasst sein, um sicherzustellen, dass keine Situation von Anspannung und Angst mit besonders traumatisierenden Wirkungen für die Psyche der Kinder entsteht. Anderenfalls wird die Schwere erreicht, die erforderlich ist, um unter das Verbot in Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC zu fallen (EGMR, Urteil vom 4.11.2014 – 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) –, NVwZ 2015, 127 ff. Rn. 119). Bei Minderjährigen wiegt ihre besonders verwundbare Lage schwerer als die Tatsache, dass sie Ausländer mit unrechtmäßigem Aufenthalt sind (EGMR, Urt. v. 4.11.2014 – 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) –, NVwZ 2015, 127 ff. Rn. 99).

28 Nach der Erkenntnislage ist – wie Im Folgenden noch ausgeführt wird – zwar davon auszugehen, dass alleinstehende, gesunde und arbeitsfähige anerkannt Schutzberechtigte bei einer Rückkehr nach Bulgarien in der Lage sein werden, durch eigene Erwerbstätigkeit ein Einkommen zu erwirtschaften, das zur Deckung ihrer eigenen Lebenshaltungskosten einschließlich der Kosten einer Unterkunft ausreicht, dies reicht jedoch angesichts der in Bulgarien herrschenden Lebensbedingungen nicht, wenn die Rückführung im Familienverbund erfolgt und weitere Familienmitglieder versorgt werden müssen (so auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4.1.2021 - OVG 3 N 42/20 -, juris Rn. 10 und Urteil vom 22.9.2020 - OVG 3 B 33.19 -, juris Rn. 42 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.12.2020 - 11 A 1602/17.A -, juris Rn. 28 ff.; VG Lüneburg, Gerichtsbescheid vom 31.8.2021 - 5 A 212/21 - n.v.; VG Aachen, Urteil vom 15.4.2021 - 8 K 2760/18.A - juris Rn. 335). Demzufolge sind Familien mit Kindern am ehesten von Obdachlosigkeit und Armut bedroht (vgl. AA, Auskunft an das OVG Hamburg vom 7.4.2021), denn auch bedarfssichernde Sozialleistungen des bulgarischen Staates existieren nach der Erkenntnislage nicht bzw. sind nicht mit der erforderlichen Sicherheit erreichbar (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18.12.2019 - OVG 3 B 8.17 -, juris Rn. 54 ff. m.w.N.). Auch ein nichtstaatliches Auffangsystem, das eine konstante und flächendeckende Versorgung mit Lebensmitteln und Kleidung durchgehend gewährleistet, besteht nicht (AA, Auskunft an das VG Potsdam vom 11.3.2021). [...]

30 Der Senat geht auf Grund der Erkenntnislage aber davon aus, dass es dem Kläger, der zur Gruppe der uneingeschränkt arbeitsfähigen, nicht vulnerablen, anerkannt Schutzberechtigten zählt, nach einer gewissen Übergangszeit und ggf. kurzzeitigen Unterbringung in einer Notunterkunft gelingen wird, seinen Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit auf einem Mindestniveau sicherzustellen, das eine existenzielle Notlage ausschließen wird. [...]

32 Die optimistischen Prognosen in der obergerichtlichen Rechtsprechung hinsichtlich der zunehmenden Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in Bulgarien auch für anerkannt Schutzberechtigte u.a. im Hinblick auf die gestiegene Nachfrage nach Arbeitskräften (vgl. beispielsweise OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.12.2019 - 11 A 228/15.A -, juris Rn. 74; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.10.2019 - A 4 S 2476/19 -, juris Rn. 16; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17.3.2020 - 7 A 10903/18 -, juris Rn 62 ff.), lassen sich zwar nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie, die auch die bulgarische Wirtschaft gravierend beeinflusst hat, nicht vollständig aufrechterhalten (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.12.2020 - 11 A 1602/17.A -, juris Rn. 31, das die Frage, ob an der Einschätzung, dass alleinstehende nicht vulnerable rückkehrende anerkannt Schutzberechtigte auf eine Erwerbstätigkeit verwiesen werden können, angesichts der Auswirkungen der Corona-Pandemie festgehalten werden könne, ausdrücklich offen lässt). Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich der Arbeitsmarkt in Bulgarien durch die Corona-Pandemie nicht in einer Weise verschlechtert hat, die es international Schutzberechtigten nunmehr unmöglich machen würde, in zumutbarer Zeit Arbeit zu finden, um ihren Lebensunterhalt auf dem vom Europäischen Gerichtshof benannten Niveau selbstständig zu bestreiten (so auch OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20.10.2020 - 7 A 10889/18 -, juris Rn. 66; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. September 2020 - OVG 3 B 33.19 -, juris Rn. 34; OVG Sachsen, Urteil vom 15.6.2020 - 5 A 383/18 -, juris Rn. 45). Diese Einschätzung lässt sich wiederum nicht auf besonders vulnerable anerkannte Schutzberechtigte wie Familien mit kleinen Kindern oder Alleinerziehende übertragen, denn diese haben nach Auskunft des Auswärtigen Amtes größere Schwierigkeiten, sich ein existenzsicherndes Einkommen in Bulgarien durch eigene Erwerbstätigkeit zu erwirtschaften, da es unter anderen an Betreuungsmöglichkeiten für noch nicht schulpflichtige Kinder fehlt (AA, Auskunft an das VG Potsdam vom 11.3.2021).

33 Zwar war Bulgarien - wie zahlreiche andere europäische Staaten - mehrfach von der Corona-Pande - mie stark betroffen (s. Europäische Kommission, European Economic Forecast, Winter 2021 (interim), Februar 2021, S. 36) und ist im Entscheidungszeitpunkt erneut als Hochrisikogebiet eingestuft (s. auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/bulgarien-node/bulgariensicherheit/211834 abgerufen am 1.12.2021), doch haben die pandemiebedingten Einschränkungen nicht zu einem dauerhaften Einbrechen der bulgarischen Wirtschaft geführt. So wird für 2022 ein Wiederanstieg des Bruttoinlandsprodukts auf den Wert vor Ausbruch der Pandemie prognostiziert (s. Europäische Kommission, European Economic Forecast, Winter 2021 (interim), Februar 2021, S. 36). [...]

34 Konkrete Erkenntnisse, wonach es nicht vulnerablen, gesunden und arbeitsfähigen anerkannten Schutzberechtigten unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Bulgarien nicht möglich wäre, ihren Lebensunterhalt perspektivisch selbst zu erwirtschaften, bestehen daher nicht. Auch sonst sind keine neueren Erkenntnismittel bekannt, aus denen sich ergibt, dass gesunde und arbeitsfähige anerkannte Schutzberechtigte in Bulgarien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu verelenden drohen. [...]

36 Für alle anerkannt Schutzberechtigten lässt sich nicht das ernsthafte Risiko feststellen, in Bulgarien keine ausreichende medizinische Versorgung erlangen zu können. [...]

38 Zusammenfassend ist nach dem Vorstehenden festzuhalten, dass sich die Situation für anerkannt Schutzberechtigte in Bulgarien insbesondere auf Grund der dortigen wirtschaftlichen Verhältnisse nach wie vor als schwierig darstellt und die notwendigen Mittel für den Lebensunterhalt einschließlich der Unterbringung allein durch eigene Erwerbstätigkeit erlangt werden können, jedoch ein von dem eigenen Willen eines arbeitsfähigen und gesunden anerkannt Schutzberechtigten unabhängiger "Automatismus der Verelendung" bei einer Rückkehr nach Bulgarien auch unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie nicht mit der erforderlichen Sicherheit zu erwarten ist.

39 Diese Wertung wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass der bulgarische Ausweis des Klägers nach seinem Vortrag im Entscheidungszeitpunkt nicht mehr gültig ist. Denn der Kläger hat im Falle einer Rückkehr nach Bulgarien das Recht, eine Verlängerung des bulgarischen Identitätsdokuments zu beantragen, wenn dieses abgelaufen, der anerkannte Schutzstatus jedoch nicht erloschen ist. Ein verspäteter Antrag (mehr als 30 Tage nach dem Ende der Gültigkeit des Dokuments) kann ein Bußgeld zur Folge haben (AA, Auskunft an das VG Stade vom 12.5.2021), die Ausstellung eines neuen Identitätsdokuments ist dadurch jedoch nicht ausgeschlossen, zumal jeder anerkannt Schutzberechtigte zwangsläufig über eine eindeutige Identifikationsnummer in der nationalen Datenbank (ECΓPAOH) registriert ist (aida, a.a.O., S. 79 f.).

40 Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger der internationale Schutz mittlerweile entzogen wurde bzw. dieser erloschen ist oder ihm dieser bei einer Rückkehr nach Bulgarien entzogen wird. Es kann deshalb offenbleiben, inwieweit dies überhaupt einer Rücküberstellung nach Bulgarien entgegenstehen könnte. [...]

55 Dem aida "Country Report: Bulgaria" - update 2020 ist zu entnehmen, dass aus den genannten Gründen im Jahr 2020 lediglich 8 Personen der Flüchtlingsstatus bzw. der subsidiäre Schutz entzogen wurde (aida, a.a.O., S. 84).

56 Es ist weder ersichtlich noch vorgetragen, dass im Falle des Klägers einer der aufgeführten Gründe für einen Wiederruf seines Schutzstatus erfüllt ist oder dies von Seiten der bulgarischen Behörden unterstellt wird.

57 Soweit im aida "Country Report: Bulgaria" - update 2020 auf die zum 20. Oktober 2020 eingeführte (weitere) Möglichkeit des Widerrufs des internationalen Schutzstatus bei fehlender bzw. verspäteter Verlängerung der Ausweispapiere gemäß Art. 42 Abs. 5 LAR hingewiesen wird, von der im Jahr 2020 insgesamt 886 anerkannt Schutzberechtigte betroffen gewesen sein sollen (aida, a.a.O., S. 82 f.), ist die Staatliche Flüchtlingsagentur Bulgariens auf Nachfrage des Auswärtigen Amtes der Darstellung im aida- Report entschieden entgegengetreten und hat diesem gegenüber (wiedergegeben in der Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 12.5.2021) ausgeführt, dass die genannte Darstellung ungenau sei und den Eindruck erwecke, es würden zusätzliche Gründe für die Beendigung des zuerkannten Schutzes über die Regelungen des europäischen Rechts und im Abkommen über die Rechtstellung der Flüchtlinge von 1951 hinaus eingeführt. [...]

70 Nach der Stellungnahme der Staatlichen Flüchtlingsagentur Bulgariens gegenüber dem Auswärtigen Amt seien sowohl bulgarische Staatsangehörige als auch Personen, denen der internationale Schutz zuerkannt worden sei, verpflichtet, einen Antrag auf Neuausstellung abgelaufener Dokumente jeweils unterschiedslos innerhalb von 30 Tagen nach Ablauf des jeweiligen Dokuments zu stellen. Die Nichterfüllung dieser gesetzlich vorgeschriebenen Pflicht zur Erneuerung von bereits abgelaufenen Ausweispapieren von Personen, denen die Flüchtlingseigenschaft oder der humanitäre Status zuerkannt worden sei, sei jetzt ein Grund dafür, ein Verfahren zur Überprüfung des Sachverhaltes in Bezug auf den Bedarf bzw. den Wunsch des Ausländers, den ihm zuerkannten Schutz weiter in Anspruch zu nehmen, einzuleiten. Der neue Wortlaut des Asyl- und Flüchtlingsgesetzes ermögliche es - in Übereinstimmung mit Art. 44 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Verfahrensrichtlinie) - eine Prüfung zur Aberkennung des internationalen Schutzes einer Person einzuleiten, wenn neue Elemente oder Erkenntnisse zutrage träten, die darauf hindeuteten, dass Gründe für eine Überprüfung der Berechtigung internationalen Schutzes bestünden. Der neue Wortlaut des Asyl- und Flüchtlingsgesetzes ermögliche es, im Falle eines eingeleiteten Verfahrens alle Tatsachen und Beweise angesichts der Überprüfung des bereits zuerkannten internationalen Schutzes zu analysieren und zu erörtern. Nach Darstellung der Staatlichen Flüchtlingsagentur Bulgariens sieht die Bestimmung des Art. 42 Abs. 5 LAR somit keine automatische Beendigung des internationalen Schutzes vor, sondern die Möglichkeit der Einleitung eines Verfahrens, in welchem das Vorliegen oder Fehlen der Voraussetzungen für die Beendigung des Schutzes gemäß Art. 17 Abs. 1 LAR detailliert zu überprüfen sind. Das entsprechende Verfahren ist nach Feststellung aller Tatsachen und Umstände mit der Ausstellung eines begründeten Verwaltungsaktes abzuschließen, der einer zweiinstanzlichen gerichtlichen Überprüfung unterliegt (AA, Auskunft an das VG Stade vom 12.5.2021). Ein Wiederaufleben des Schutzstatus nach rechtskräftiger Aberkennung ist gesetzlich nicht vorgesehen, jedoch ist ein ehemals anerkannt Schutzberechtigter im Fall seiner Rückkehr nach Bulgarien berechtigt, erneut die Feststellung seiner Schutzberechtigung zu beantragen (AA, Auskunft an das VG Stade vom 12.5.2021).

71 Vorliegend bestehen weder Anhaltspunkte dafür, dass ein solches Überprüfungsverfahren in Bezug auf den Schutzstatus des Klägers eingeleitet wurde, noch dafür, dass diesem der internationale Schutzstatus entzogen wurde oder ihm bei einer Rückkehr nach Bulgarien der Schutzstatus aufgrund eines solchen Verfahrens entzogen wird. [...]