VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 20.12.2022 - 20 K 4420/22.A - asyl.net: M31218
https://www.asyl.net/rsdb/m31218
Leitsatz:

Weiterhin tatsächliches Risiko einer Verletzung von Art. 3 EMRK für Personen mit Schutzstatus in Bulgarien:

1. Die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Bulgarien betreffen alle Bereiche des bulgarischen Asylsystems und begründen für jeden einzelnen das tatsächliche Risiko einer Verletzung aus Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein.

2. Die Lage von Personen mit Schutzstatus in Bulgarien ist aussichtslos.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Bulgarien, internationaler Schutz in EU-Staat, systemische Mängel, Dublinverfahren, Anerkannte, ausländische Anerkennung, Aufnahmebedingungen, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Unzulässigkeit,
Normen: EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, Richtlinie 2013/32 Art. 33 Abs. 2 Buchst. a
Auszüge:

[...]

Hinsichtlich Bulgarien entspricht es der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Gerichts, dass dort systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen vorliegen, die alle Bereiche des bulgarischen Asylsystems erfassen und die für jeden einzelnen das tatsächliche Risiko begründen, einer Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu sein.

Die Lage von Personen mit Schutzstatus in Bulgarien ist aussichtslos. Seit dem Auslaufen des Nationalen Integrationsprogramms im Jahr 2013 gibt es bis heute kein operatives Integrationsprogramm mehr in Bulgarien und damit ist auch in absehbarer Zukunft nicht zu rechnen. [...] Personen mit Schutzstatus haben zwar formal bis zu einem Zeitraum von 6 Monaten nach der positiven Entscheidung einen Anspruch auf finanzielle Unterstützung in Höhe des Minimums der staatlichen Sozialhilfe in Bulgarien. Dieser Betrag reicht jedoch anerkanntermaßen nicht aus, um selbst grundlegende Bedürfnisse wie Nahrung und Unterkunft zu befriedigen oder Zugang zur Gesundheitsversorgung zu erlangen. [...] Ebenso aussichtslos sind die Möglichkeiten, sich durch Erwerbstätigkeit das Existenzminimum zu sichern, zumal unter den in Bulgarien herrschenden schlechten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit einer ohnehin hohen Arbeitslosenquote. Nur wenige Schutzberechtjgte haben bislang überhaupt eine Arbeit gefunden und wenn, dann entweder in schlecht bezahlten unqualifizierten Jobs oder bei Arbeitgebern gleicher Herkunft, die sich vornehmlich in Sofia ein Geschäft aufgebaut haben. Auch der Zugang zu Schule/Bildung ist für Flüchtlingskinder erschwert. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist für Personen mit Schutzstatus ebenfalls nicht gewährleistet. [...]

Zusätzlich muss in den Blick genommen werden, dass sich die Situation von Schutzberechtigten und Inländern auch bei formaler Gleichbehandlung strukturell und grundlegend unterscheidet. Bei Sozialleistungen, die - wie in Bulgarien unbestritten der Fall - so bemessen sind, dass sie objektiv nicht zum Überleben ausreichen und nicht die grundlegendsten Bedürfnisse an Unterkunft und medizinischer Versorgung decken, ist der Schutzberechtigte ohne Sprachkenntnisse, ohne jegliche sozialen Kontakte oder familiären Netzwerke und ohne eigene Mittel zu einem menschenunwürdigen Leben am Rande des Existenzminimums verdammt. [...]

Zu dem Fehlen nahezu jeglicher staatlicher Unterstützung bei der Sicherung des Existenzminimums und der Befriedigung elementarster Bedürfnisse kommen weit verbreiteter Rassismus und Intoleranz hinzu, dem staatliche Behörden und Politiker nur selten entgegentreten. Es gibt im Gegenteil seit Jahren und aktuell zahlreiche Berichte über massive Gewaltanwendung von staatlichen Sicherheitskräften gegenüber Flüchtlingen, auch gegenüber Kindern, und zwar an den Grenzen und im Landesinneren, illegale Push-backs und routinemäßige Inhaftierungen. Die Berichte über illegale Push-backs, Gewalt gegenüber Flüchtlingen und völlig überfüllten Flüchtlingslagern halten unvermindert an. [...]

Der Umgang staatlicher bulgarischer Behörden mit Flüchtlingen ebenso wie deren Versäumnis, möglichen rassistischen Motiven für Gewaltanwendungen gegenüber Flüchtlingen nachzugehen, hat in der Vergangenheit bereits zu Verurteilungen Bulgariens durch den EGMR wegen einer Verletzung von Art. 3 EMRK geführt. [...]

Das Gericht hat nach alledem keinen Zweifel, dass für Personen mit Schutzstatus in Bulgarien unverändert das tatsächliche Risiko einer Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GR-Charta besteht. Soweit dies für die Zeit vor Ausbruch der Corona-Pandemie jedenfalls für die Gruppe arbeitsfähiger junger Männer anders bewertet worden ist [...], scheinen die Arbeitsmöglichkeiten in Nischenbereichen (etwa Callcenter für die arabische Sprache) zur Sicherung des Lebensunterhalts stark überbewertet zu sein. [...]

Im Rahmen der vorzunehmenden individuellen Betrachtung ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass syrische Schutzsuchende infolge der lang andauernden bewaffneten Auseinandersetzungen in ihrem Heimatland regelmäßig in erheblichem Maße traumatische Erfahrungen gemacht haben und häufig bereits einmal ihre gesamte Existenzgrundlage verloren haben. Sie sind daher in besonders hohem Maße vulnerabel und schutzbedürftig. [...]