BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 08.12.2022 - 1 C 8.21 - asyl.net: M31119
https://www.asyl.net/rsdb/m31119
Leitsatz:

Zum Kindernachzug zu subsidiär Schutzberechtigten bei zwischenzeitlich eingetretener Volljährigkeit:

"1. Die zum Kindernachzug nach § 32 AufenthG entwickelten Grundsätze zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt bei einer gesetzlichen Altersgrenze [...] gelten auch für den Nachzug zum subsidiär schutzberechtigten Elternteil nach § 36a AufenthG. [Anmerkung der Redaktion: Das BVerwG führt hierzu weiter aus, dass die Minderjährigkeit zum Zeitpunkt des Antrags auf Familienzusammenführung vorliegen muss und die übrigen Voraussetzungen für den Kindernachzug auch im Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze und zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz vorliegen müssen.]

2. Der Ausschluss des Familiennachzuges zu subsidiär Schutzberechtigten nach § 104 Abs. 13 AufenthG [a.F. Fassung ab 17.03.2016] ist nicht verfassungswidrig, weil Härtefällen durch die Erteilung von humanitären Aufenthaltserlaubnissen nach § 22 Satz 1 AufenthG Rechnung getragen werden kann [...].

3. Die Ungleichbehandlung des Familiennachzuges zum anerkannten Flüchtling nach § 32 und § 36 Abs. 1 AufenthG einerseits und zum subsidiär Schutzberechtigten nach § 36a AufenthG andererseits verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Sie ist insbesondere mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar."

(Amtliche Leitsätze; unter Bezug auf: BVerfG, Beschluss vom 11.10.2017 - 2 BvR 1758/17 (Asylmagazin 12/2017, S. 459 ff.) - asyl.net: M25554; BVerwG, Urteil vom 07.04.2009 - 1 C 17.08 [= ASYLMAGAZIN 7-8/2009, S. 36 ff.] - asyl.net: M15723; Anmerkung: Damit stellt das BVerwG klar, dass es die vom EuGH im Hinblick auf als Flüchtling anerkannte Stammberechtigte entwickelte Rechtsprechung für nicht auf subsidiär Schutzberechtigte anwendbar hält: EuGH, Urteil vom 01.08.2022 - C-279/20 Deutschland gg. XC (Asylmagazin 9/2022, S. 323 ff.) - asyl.net: M30815)

Siehe auch:

  • Stellungnahme und Bericht des Jumen e.V. vom 16.12.2022 zur Verhandlung vor dem BVerwG am 8.12.2022, jumen.org
Schlagwörter: Familienzusammenführung, Elternnachzug, Kindernachzug, Volljährigkeit, subsidiärer Schutz, Beurteilungszeitpunkt,
Normen: AufenthG § 36a Abs. 1 S. 1, AufenthG § 104 Abs. 13, AufenthG § 22 S. 1, AufenthG § 36 Abs. 1, GG Art. 3 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

9 Aus Gründen des materiellen Rechts gilt für den Fall, dass ein Anspruch an eine gesetzliche Altersgrenze knüpft, eine Ausnahme von den allgemeinen Grundsätzen. Setzt der Anspruch die Minderjährigkeit des Antragstellers voraus, so muss diese zum Zeitpunkt der Antragstellung vorliegen. Die übrigen Voraussetzungen für den Kindernachzug müssen spätestens auch im Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze und zudem der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz gegeben sein, sodass alle Voraussetzungen wenigstens einmal zeitgleich erfüllt sein müssen. Nach diesem Zeitpunkt eingetretene Sachverhaltsänderungen zugunsten des Betroffenen können nicht berücksichtigt werden. Bei Anspruchsgrundlagen, die eine Altersgrenze enthalten, die der Betroffene im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Verhandlung oder Entscheidung überschritten hat, ist mithin eine auf zwei unterschiedliche Zeitpunkte bezogene Doppelprüfung erforderlich [...]. Diese zum Kindernachzug nach § 32 AufenthG entwickelten Grundsätze gelten auch für den Kindernachzug zum subsidiär schutzberechtigten Elternteil nach § 36a AufenthG.

10 2. Der Kläger hat weder während der zum Zeitpunkt der Visumantragstellung und des Erreichens der Volljährigkeit geltenden Nichtgewährung des Familiennachzuges zum subsidiär Schutzberechtigten nach § 104 Abs. 13 AufenthG a. F. einen Anspruch nach § 32 Abs. 1 AufenthG (a), noch einen Anspruch nach dem zum 1. August 2018 in Kraft getretenen § 36a AufenthG (b).

11 a) Durch § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. c AufenthG i. V. m. mit § 25 Abs. 2 AufenthG in der Fassung von Art. 2 Nr. 2 Buchst. b des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3474) wurde erstmals ein Anspruch auf Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten eingeführt. [...] Gemäß dem am 17. März 2016 in Kraft getretenen § 104 Abs. 13 Satz 1 AufenthG a. F. wurde dann ein Familiennachzug zu Personen, denen nach dem 17. März 2016 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG (als subsidiär Schutzberechtigten) erteilt worden ist, bis zum 16. März 2018 nicht gewährt. [...]

12 § 104 Abs. 13 AufenthG a. F. verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Die Norm ist nicht verfassungswidrig, weil Härtefällen durch die Erteilung von humanitären Aufenthaltserlaubnissen nach dem (gemäß § 104 Abs. 13 Satz 3 AufenthG a. F. unberührt bleibenden) § 22 AufenthG Rechnung getragen werden kann [...]. Dies gilt insbesondere dann, wenn die besondere Härte durch Umstände in der Person des subsidiär Schutzberechtigten begründet wird [...]. Ein temporärer Ausschluss des Familiennachzuges zu subsidiär Schutzberechtigten nach nationalem Recht verstößt auch weder unmittelbar, noch in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK gegen den nach Art. 8 EMRK gebotenen Schutz der Familie. [...]

13 Unionsrecht steht der Anwendung von § 104 Abs. 13 AufenthG a. F. nicht entgegen. Die Richtlinie 2003/86/EG regelt den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nicht. [...]

14 Art. 23 RL 2011/95/EU trifft ebenfalls keine Regelung des Familiennachzuges aus dem Ausland zu subsidiär Schutzberechtigten, die sich in Deutschland befinden. Der persönliche Anwendungsbereich der Vorschrift ist in diesen Fällen nicht eröffnet. Sie ist nur auf Familienangehörige anzuwenden, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat (Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU). Entgegen der Auffassung der Revision lässt sich der Richtlinie 2011/95/EU auch kein Gebot der Gleichbehandlung der Angehörigen von anerkannten Flüchtlingen einerseits und von subsidiär Schutzberechtigten andererseits im Hinblick auf den Nachzug aus dem Ausland entnehmen.

15 Ein Anspruch des Klägers auf Erteilung eines Visums nach § 32 Abs. 1 AufenthG bestand daher weder bei der Antragstellung im August 2016 noch beim Erreichen der Altersgrenze am 9. Juni 2017, weil der begehrte Familiennachzug nach § 104 Abs. 13 AufenthG a. F. zu beiden genannten Zeitpunkten nicht gewährt
wurde.

16 b) Im Einklang mit Bundesrecht hat das Oberverwaltungsgericht auch einen Anspruch des Klägers auf Familiennachzug nach § 36a AufenthG verneint, weil er zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Vorschrift am 1. August 2018 bereits volljährig war.

17 aa) Nach § 6 Abs. 3 i. V. m. § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AufenthG kann dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, der als subsidiär Schutzberechtigter eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG besitzt, aus humanitären Gründen ein nationales Visum für die Einreise und den Aufenthalt zum Familiennachzug erteilt werden. Die beispielhafte Aufzählung ("insbesondere") der zwingenden humanitären Gründe für die Zusammenführung in § 36a Abs. 2 Satz 1 AufenthG nennt unter Nr. 1 die Unmöglichkeit der Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft seit langer Zeit und in Nr. 2 die Betroffenheit eines minderjährigen Kindes.

18 bb) Die sich daraus ergebende Ungleichbehandlung des Familiennachzuges zum anerkannten Flüchtling nach § 32 und § 36 Abs. 1 AufenthG einerseits und zum subsidiär Schutzberechtigten nach § 36a AufenthG andererseits verstößt nicht gegen höherrangiges Recht.

19 Sie ist insbesondere mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Soweit dieser dem Normgeber gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, und dies sowohl für ungleiche Belastungen als auch ungleiche Begünstigungen gilt (BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 1988 - 1 BvR 777/85 u. a. - BVerfGE 79, 1 <17>), kann offenbleiben, ob anerkannte Flüchtlinge einerseits und subsidiär Schutzberechtigte andererseits im Hinblick auf die nach dem sekundären Unionsrecht bestehenden Unterschiede im Schutzstatus überhaupt vergleichbar sind. Denn eine Ungleichbehandlung wäre jedenfalls sachlich gerechtfertigt. [...]

20 Weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK vermitteln einen unmittelbaren Anspruch auf Familienzusammenführung [...].

21 Die in § 36a AufenthG vorgesehene Beschränkung des Familiennachzuges auf einen Ermessensanspruch im Rahmen einer Kontingentierung (§ 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG) genügt den dargestellten verfassungs-, konventions- und völkerrechtlichen Anforderungen. Den aufgeführten, in die Einzelfallbetrachtung einzustellenden familiären Belangen kann im Rahmen der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 22 Satz 1 AufenthG, der gemäß § 36a Abs. 1 Satz 4 AufenthG unberührt bleibt, ausreichend Rechnung getragen werden. [...]

24 4. Der Kläger hat auch keinen Aufnahmeanspruch nach § 22 Satz 1 AufenthG. [...]

27 b) Hiervon ausgehend hat das Berufungsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise das Vorliegen eines dringenden humanitären Grundes im Falle des Klägers verneint, weil eine von den Verhältnissen anderer afghanischer Staatsangehöriger, deren Eltern und Geschwister das Herkunftsland verlassen haben, abweichende Notlage durch eine ernsthafte Gefahr der politischen Verfolgung nicht ersichtlich sei. Dabei hat es auch die Situation des Vaters des Klägers berücksichtigt, der sich durch die Trennung von seinen volljährigen Söhnen nicht in einer Sondersituation befinde, die sich von der Lage vergleichbarer Ausländer unterscheide. [...]