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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 07.04.2009 - 1 C 17.08 [= ASYLMAGAZIN 7-8/2009, S. 36 ff.] - asyl.net: M15723
https://www.asyl.net/rsdb/M15723
Leitsatz:

1. Ein Elternteil ist nicht allein personensorgeberechtigt i.S.d. § 32 Abs. 3 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG (sog. Familienzusammenführungsrichtlinie), wenn dem anderen Elternteil bei der Ausübung der Personensorge substantielle Mitentscheidungsrechte und -pflichten zustehen, etwa in Bezug auf Aufenthalt, Schule und Ausbildung oder Heilbehandlung des Kindes.

2. § 32 Abs. 3 AufenthG ist auf Fälle, in denen das ausländische Recht eine vollständige Übertragung der Personensorge auf einen Elternteil nicht kennt, nicht analog anzuwenden.

3. Bei Klagen auf Verlängerung oder Erteilung eines Aufenthaltstitels ist auch für die gerichtliche Kontrolle des behördlichen Ermessens auf die Sach- und Rechtslage in dem Zeitpunkt abzustellen, der für die Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen maßgeblich ist (Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung).

4. Bei der Prognose, ob der Lebensunterhalt eines Kindes im Bundesgebiet durch Einkünfte seiner Eltern voraussichtlich ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel gesichert wäre, sind gesetzliche Unterhaltsverpflichtungen der Eltern gegenüber weiteren Kindern zu berücksichtigen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Visum, Familienzusammenführung, Kindernachzug, Beurteilungszeitpunkt, Verpflichtungsklage, Personensorge, alleinige Personensorge, Familienzusammenführungsrichtlinie, Kindeswohl, Sorgerecht, Kosovo, Kosovaren, Analogie, Regelungslücke, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, allgemeine Erteilungsvorausssetzungen, Lebensunterhalt, Familienangehörige, Unterhalt, Unterhaltspflicht, Geschwister, Zukunftsprognose, Bedarfsgemeinschaft, Eltern, Nachschieben von Gründen, Aktualisierung der Ermessenserwägungen
Normen: AufenthG § 32 Abs. 3; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1; RL 2003/86/EG Art. 4 Abs. 1; VO EG Nr. 2201/2003 Art. 2 Nr. 9; AuslG § 20; AufenthG § 104 Abs. 3; AufenthG § 2 Abs. 3; SGB II § 11 Abs. 2 Nr. 7
Auszüge:

[...]

Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. [...]

1. Der Kläger hat weder in unmittelbarer noch - wie vom Berufungsgericht angenommen - in entsprechender Anwendung des § 32 Abs. 3 AufenthG einen Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Familiennachzug. [...]

c) Die Voraussetzungen für einen Nachzugsanspruch nach § 32 Abs. 3 AufenthG liegen aber entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht vor. Die gesetzliche Altersgrenze von 16 Jahren ist zwar eingehalten. Zum Zeitpunkt der Antragstellung im November 2005 hatte der Kläger das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet. Der Vater des - inzwischen volljährigen - Klägers verfügt seit 2005 auch über eine Niederlassungserlaubnis, er war aber nie allein personensorgeberechtigt.

aa) Bei der Prüfung, ob ein Elternteil allein personensorgeberechtigt ist, kann allerdings nicht - wie vom Berufungsgericht angenommen - auf das deutsche Familienrecht zurückgegriffen werden. Der Begriff ist vielmehr mit Blick auf Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251/12 vom 3. Oktober 2003) - sog. Familienzusammenführungsrichtlinie - gemeinschaftsrechtlich auszulegen (vgl. Beschluss vom 28. August 2008 - BVerwG 1 C 31.07 - Buchholz 402.242 § 32 AufenthG Nr. 2). Diese Richtlinie regelt den Familiennachzug zu sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen. Sie ist am 3. Oktober 2003 in Kraft getreten (vgl. Art. 21 der RL) und war von den Mitgliedstaaten bis 3. Oktober 2005 umzusetzen (vgl. Art. 20 der RL). Dem ist der deutsche Gesetzgeber mit dem Zuwanderungsgesetz und mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz nachgekommen. Da der Kläger seinen Visumsantrag im November 2005 und damit nach Ablauf der Umsetzungsfrist gestellt hat, ist die Richtlinie zwingend zu beachten.

Entscheidendes Anliegen der Kindernachzugsregelung in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG ist das Kindeswohl (vgl. EuGH Urteil vom 27. Juni 2006 - Rs. C-540/03, Europ. Parlament ./. Rat der Europ. Union - Slg. 2006, I-5769 Rn. 73). Nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie gestatten die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Art. 16 genannten Bedingungen den minderjährigen Kindern des Zusammenführenden die Einreise und den Aufenthalt, wenn der Zusammenführende das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt aufkommt; die Mitgliedstaaten können die Zusammenführung in Bezug auf Kinder gestatten, für die ein geteiltes Sorgerecht besteht, sofern der andere Elternteil seine Zustimmung erteilt. Die Richtlinie differenziert mithin beim Nachzug zu einem Elternteil anknüpfend an das elterliche Sorgerecht zwischen einem strikten Nachzugsanspruch und einer im Ermessen der Mitgliedstaaten stehenden Regelungsoption. Im Wege typisierender Bewertung geht der Richtliniengeber davon aus, dass in den Fällen des Art. 4 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c der Richtlinie ein Nachzug des Kindes zu dem sorgeberechtigten Elternteil ohne weitere Prüfung regelmäßig dem Kindeswohl entspricht. Dabei bedarf es keiner Entscheidung, wie die weitere in der Richtlinie angeführte Voraussetzung, dass der Zusammenführende für den Unterhalt des Kindes aufkommt, auszulegen ist. Denn der deutsche Gesetzgeber hat diese Voraussetzung, sofern sie über die in der Regel notwendige künftige Sicherung des Lebensunterhalts des nachziehenden Kindes nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG hinausgehen sollte, nicht in das nationale Recht aufgenommen; hierzu war er auch nicht verpflichtet (vgl. Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86/EG). Übernommen wurde in Art. 32 Abs. 3 AufenthG aber die Voraussetzung, dass ein Rechtsanspruch auf Nachzug zu einem in Deutschland lebenden Elternteil nur besteht, wenn er "allein" sorgeberechtigt ist.

Die Richtlinie 2003/86/EG enthält keine Definition des Begriffs "Sorgerecht" (zum unterschiedlichen Verständnis des Begriffs innerhalb der Mitgliedstaaten vgl. Übersicht über die Sorgerechtsregelungen in den EU-Staaten der Europäischen Kommission / Europäisches Justizielles Netz für Zivil- und Handelssachen, ec.europa.eu/civiljustice/parental_resp/parental_resp_net_de.htm). Anders als etwa bei der Bestimmung der Minderjährigkeit (vgl. Art. 4 Abs. 1 Unterabsatz 2 der Richtlinie) verweist die Richtlinie auch nicht auf die Rechtsvorschriften des jeweiligen Mitgliedstaates. Der Begriff ist daher einheitlich auszulegen. Ein Anhaltspunkt, wie der Begriff auf Gemeinschaftsebene zu verstehen ist, findet sich in Art. 2 Nr. 9 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2116/2004 des Rates vom 2. Dezember 2004 (ABl. L 367, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: VO 2201/2003). Danach bezeichnet der Ausdruck "Sorgerecht" die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsorts des Kindes, während der Ausdruck "elterliche Verantwortung" nach Art. 2 Nr. 7 der VO 2201/2003 die gesamten Rechte und Pflichten bezeichnet, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden, und außer dem Sorgerecht insbesondere auch das Umgangsrecht umfasst.

Aus Art. 4 Abs. 1 Buchst. c Satz 2 der Richtlinie 2003/86/EG ergibt sich im Umkehrschluss, dass es für einen gemeinschaftsrechtlichen Nachzugsanspruch zu einem Elternteil nicht genügt, wenn für das Kind ein "geteiltes" Sorgerecht besteht. Steht das Sorgerecht nicht einem Elternteil allein zu, sondern teilen es sich die Eltern, räumt die Richtlinie den Mitgliedstaaten einen Spielraum ein, der zudem unter der Prämisse steht, dass der andere Elternteil seine Zustimmung erteilt. Durch das Zustimmungserfordernis soll verhindert werden, dass das Sorgerecht des anderen Elternteils durch die Familienzusammenführung faktisch außer Kraft gesetzt wird (vgl. Begründung des ursprünglichen Vorschlags der Kommission der Europäischen Gemeinschaften für eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht der Familienzusammenführung vom 1. Dezember 1999 - Kom (1999) 638 endgültig - S. 16). Soweit nach dem Richtlinienentwurf der Kommission zunächst auch bei geteiltem Sorgerecht ein Nachzugsanspruch bestehen sollte, sofern der andere Elternteil zustimmt (vgl. Art. 5 Abs. 1 Buchst. c des ursprünglichen Kommissionsvorschlags vom 1. Dezember 1999 - a.a.O. - ), fand dieser Vorschlag in den Verhandlungen keine Zustimmung und wurde von der Kommission in dem von ihr am 2. Mai 2002 vorgelegten geänderten Richtlinienvorschlag nicht aufrechterhalten (vgl. Art. 4 Abs. 1 Buchst. c des Geänderten Vorschlags für eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung - Kom (2002) 225 endgültig -).

Im Sinne des Art. 4 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG besitzt ein Elternteil das Sorgerecht daher nur, wenn er "allein" sorgeberechtigt ist, dem anderen Elternteil also bei der Ausübung des Sorgerechts keine substantiellen Mitentscheidungsrechte und -pflichten zustehen, etwa in Bezug auf Aufenthalt, Schule und Ausbildung oder Heilbehandlung des Kindes. In diesem Fall ist der Richtliniengeber davon ausgegangen, dass der Nachzug typischerweise dem Kindeswohl entspricht. Teilen sich die Eltern in für das Kind und seine weitere Entwicklung wesentlichen Angelegenheiten das Sorgerecht, gewährt die Richtlinie keinen Anspruch, sondern belässt den Mitgliedstaaten einen Spielraum. Der Richtliniengeber ist folglich bei seiner typisierenden Betrachtung davon ausgegangen, dass bei geteiltem Sorgerecht der Nachzug zu einem Elternteil auch bei Zustimmung des anderen Elternteils nicht zwangsläufig dem Kindeswohl entspricht. Diese Auslegung ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut der Richtlinie und ihrem Sinn und Zweck. Nach Auffassung des Senats handelt es sich hierbei um einen "acte claire", so dass es insoweit keiner Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften bedarf.

bb) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts kann nicht davon ausgegangen werden, dass dem Vater des Klägers in diesem Sinn das alleinige Sorgerecht übertragen worden ist. Wem das Sorgerecht für ein Kind zusteht, beurteilt sich nach dem Recht des Staates, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art. 21 EGBGB). Zum danach maßgeblichen kosovarischen Recht hat das Berufungsgericht festgestellt, dass ein Kind zwar - wie hier geschehen - einem Elternteil zur Beaufsichtigung, Sorge und Erziehung anvertraut werden kann. Auch in diesem Fall entscheiden jedoch weiterhin beide Eltern einverständlich über Angelegenheiten, die von wesentlicher Bedeutung für die Entwicklung des Kindes sind. Eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung durch ein Vormundschaftsorgan ergeht erst, wenn die Eltern sich über die ihnen gemeinsam anvertrauten Fragen nicht einigen. Die (vollständige) Entziehung der elterlichen Sorge setzt darüber hinaus voraus, dass ein Elternteil die Ausübung des Elternrechts missbraucht oder grob vernachlässigt (UA S. 6 f.). [...]

Aus den Feststellungen ergibt sich, dass der im Kosovo lebenden Mutter des Klägers in Bezug auf die Personensorge ungeachtet der ergangenen Sorgerechtsentscheidung weiterhin substantielle Mitentscheidungsrechte und -pflichten verblieben. [...]

d) Dem Kläger steht entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ein Nachzugsanspruch auch nicht in entsprechender Anwendung des § 32 Abs. 3 AufenthG zu. Insoweit fehlt es an einer planwidrigen Regelungslücke, die der Gesetzgeber, wenn er daran gedacht hätte, entsprechend ausgefüllt hätte (vgl. Urteil vom 14. März 1974 - BVerwG 2 C 33.72 - BVerwGE 45, 85 90>).

aa) Das Berufungsgericht geht davon aus, der Gesetzgeber habe mit seiner an das deutsche Sorgerecht anknüpfenden Formulierung nicht ganze Nationen, die eine vergleichbare Sorgerechtsregelung nicht kennen, von einem Anspruch auf Kindernachzug ausschließen wollen (vgl. UA S. 8). Dem liegt offensichtlich die Vorstellung zugrunde, jedes Kind müsse die Möglichkeit haben, einen Rechtsanspruch auf Nachzug zu einem Elternteil zu erlangen. Dies gebieten weder die Familienzusammenführungsrichtlinie und die ihr zugrundeliegende typisierende Bewertung des Kindeswohls noch findet sich hierfür ein Ansatz in den nationalen Gesetzesmaterialien.

bb) [...] Die Problematik, dass zahlreiche ausländische Rechtsordnungen eine derartige Übertragung der Personensorge auf einen Elternteil nicht kennen und in einer Reihe weiterer Staaten nur eine auf bestimmte Belange beschränkte Übertragung der Personensorge rechtlich möglich ist, wurde jedenfalls im Bericht des Bundesministeriums des Innern (BMI) zur Evaluierung des Gesetzes zur Steuerung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern vom Juli 2006 - Evaluierungsbericht - thematisiert. Eine Gesetzesänderung wurde gleichwohl nicht für erforderlich gehalten, da dem Umstand, dass eine ausländische Rechtsordnung eine Übertragung des Sorgerechts ausschließt, im Rahmen einer Ermessensentscheidung nach § 32 Abs. 4 AufenthG Rechnung getragen werden könne (vgl. Evaluierungsbericht S. 105). Da in der Gesetzesbegründung zum Richtlinienumsetzungsgesetz auf den Evaluierungsbericht des BMI ausdrücklich Bezug genommen wurde (BTDrucks 16/5065, S. 151), ist davon auszugehen, dass die Problematik dem Gesetzgeber spätestens bei der Novellierung des Aufenthaltsgesetzes durch das Richtlinienumsetzungsgesetz bekannt gewesen ist, er jedoch wegen der bestehenden Möglichkeit, in Härtefällen nach § 32 Abs. 4 AufenthG einen Nachzug im Ermessenswege zu gestatten, keinen Handlungsbedarf gesehen hat.

cc) Selbst wenn man eine planwidrige Regelungslücke annähme, könnte im Übrigen nicht davon ausgegangen werden, dass - wie vom Berufungsgericht angenommen - eine Anwendung des § 32 Abs. 3 AufenthG auch auf Fälle, in denen dem im Bundesgebiet lebenden ausländischen Elternteil nach dem Heimatrecht des Kindes das Sorgerecht im größtmöglichen Umfang übertragen worden ist, dem hypothetischen Willen des Gesetzgebers entspräche. Nach der Gesetzesbegründung zum Zuwanderungsgesetz wollte der Gesetzgeber den Kindernachzug zu nur einem im Bundesgebiet lebenden Elternteil wegen der in vielen Fällen nachteiligen Auswirkungen auch auf die Kindesentwicklung grundsätzlich ausschließen. Ein Anspruch sollte nur bestehen, wenn der hier lebende Ausländer die Personensorge allein ausübt. In allen anderen Fällen sollte über den Nachzug nach § 32 Abs. 4 AufenthG im Ermessenswege entschieden werden, wobei davon ausgegangen wurde, dass hierdurch sichergestellt ist, dass den sich aus Art. 6 GG ergebenden Schutzwirkungen in jedem Einzelfall hinreichend Rechnung getragen werden kann (vgl. BTDrucks 15/420 S. 83).

2. Das Berufungsurteil erweist sich insoweit auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO).

a) Der Kläger erfüllt zwar die Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung nach § 20 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AuslG. [...]

bb) Ob die deutsche Auslandsvertretung von ihrem Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht hat, kann hier ohne weitere tatrichterliche Aufklärung nicht entschieden werden. [...]

b) Gleiches gilt hinsichtlich eines Anspruchs nach § 20 Abs. 4 AuslG. [...]

3. Das Berufungsurteil beruht im Übrigen aus einem weiteren Grund auf einer Verletzung von Bundesrecht. Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Lebensunterhalt des Klägers im Bundesgebiet gesichert wäre und damit die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vorliegt. Dabei hat es nicht berücksichtigt, dass die minderjährigen Geschwister des Klägers inzwischen ebenfalls ein Visum zum Zwecke der Familienzusammenführung beantragt haben und der Vater des Klägers auch ihnen zum Unterhalt verpflichtet sein dürfte.

a) Ein Kindernachzug ist nur zulässig, wenn neben den Voraussetzungen für einen Aufenthalt aus familiären Gründen nach §§ 27 ff. AufenthG auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen erfüllt sind. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Dies ist nach § 2 Abs. 3 AufenthG der Fall, wenn der Ausländer ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Dabei bleiben die in § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG aufgeführten öffentlichen Mittel außer Betracht. Es bedarf mithin der positiven Prognose, dass der Lebensunterhalt des Ausländers in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme anderer öffentlicher Mittel gesichert ist. Dies erfordert einen Vergleich des voraussichtlichen Unterhaltsbedarfs mit den voraussichtlich zur Verfügung stehenden Mitteln. Dabei richtet sich die Ermittlung des Unterhaltsbedarfs seit dem 1. Januar 2005 bei erwerbsfähigen Ausländern nach den entsprechenden Bestimmungen des 2. Sozialgesetzbuchs - SGB II -. Dies gilt grundsätzlich auch für die Ermittlung des zur Verfügung stehenden Einkommens (vgl. Urteil vom 26. August 2008 - BVerwG 1 C 32.07 Rn. 19 - NVwZ 2009, 248). Das Berufungsgericht ist, wie bereits dargelegt, zutreffend davon ausgegangen, dass diese Regelerteilungsvoraussetzung nicht nur im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz vorliegen muss, sondern auch schon vor Eintritt einer etwaigen Altersgrenze.

b) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts war sowohl bei Vollendung des 16. Lebensjahrs als auch im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung davon auszugehen, dass der Lebensunterhalt des Klägers im Bundesgebiet nur durch die Einkünfte seines Vaters gesichert werden könnte. Das Berufungsgericht hat in seine Berechnungen aber zu Unrecht die Geschwister des Klägers nicht miteinbezogen.

aa) Da der Vater alle Kinder nachholen möchte und inzwischen auch für die Geschwister des Klägers entsprechende Visumsanträge gestellt worden sind, hätte bei der Prognose zunächst geprüft werden müssen, ob der Lebensunterhalt gesichert wäre, wenn alle Kinder nach Deutschland kommen. Dies kann ohne weitere Aufklärung jedenfalls für den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht nicht festgestellt werden, da sich in diesem Fall das verfügbare Einkommen der - aus dem Kläger, seinem Vater und dessen Ehefrau sowie den drei Geschwistern bestehenden - Bedarfsgemeinschaft zwar um das Kindergeld für die Geschwister erhöhen würde, dem aber nach dem eigenen Vorbringen des Klägers entsprechend höhere Unterkunftskosten gegenüber stünden. Allein die Einkünfte des Vaters des Klägers aus seiner Hauptbeschäftigung dürften demzufolge nicht ausreichen. Der Vater des Klägers und seine Ehefrau verfügen nach den Feststellungen des Berufungsgerichts zwar über weitere Einkünfte (der Vater aus einer Nebentätigkeit und seine Ehefrau aus einem befristeten Arbeitsverhältnis). Das Berufungsgericht hat aber nicht festgestellt, ob auch diese ausreichend nachhaltig sind, um im Rahmen der Prognose der Lebensunterhaltssicherung berücksichtigt werden zu können.

bb) Sollte das verfügbare Einkommen der Bedarfsgemeinschaft nicht für einen Nachzug aller Kinder reichen, stellt sich die Frage, ob die Visumsanträge in einem bestimmten Rangverhältnis stehen und vorrangig dem Kläger der Nachzug ermöglicht werden soll. Für die Annahme eines derartigen Rangverhältnisses genügt nicht, dass der Kläger seinen Visumsantrag zeitlich vor seinen Geschwistern gestellt hat. Es steht dem Vater des Klägers jedoch frei, für den Fall, dass das verfügbare Einkommen nicht für den Nachzug aller Kinder reicht, eine bestimmte Rangfolge vorzugeben. Auch hierzu fehlen entsprechende Feststellungen des Berufungsgerichts.

cc) Selbst wenn die weiteren Feststellungen ergeben sollten, dass vorrangig der Kläger nach Deutschland nachkommen soll, müssten dann aber auf der Einkommensseite der - in diesem Fall nur aus dem Kläger, seinem Vater und dessen Ehefrau bestehenden - Bedarfsgemeinschaft die gesetzlichen Unterhaltspflichten des Vaters gegenüber den anderen drei - minderjährigen - Kindern berücksichtigt werden. Nach § 11 Abs. 2 Nr. 7 SGB II mindern bei der Berechnung der Grundsicherung Unterhaltsverpflichtungen das verfügbare Einkommen zwar nur, wenn tatsächlich Zahlungen erbracht werden, diese der Erfüllung einer gesetzlichen Unterhaltspflicht dienen und der Anspruch tituliert ist. Im Rahmen der ausländerrechtlichen Prognose kommt es allerdings darauf an, ob der Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel auf Dauer gesichert wäre. Von einer Sicherung des Lebensunterhalts i.S.d. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG kann daher nur ausgegangen werden, wenn die zur Verfügung stehenden Mittel eine gewisse Nachhaltigkeit aufweisen. Dies ist nicht der Fall, wenn und soweit der Vater des Klägers nicht nur für dessen Lebensunterhalt aufkommt, sondern auch seinen anderen Kindern zum Unterhalt verpflichtet ist. Auch wenn deren gesetzliche Unterhaltsansprüche möglicherweise bislang nicht tituliert sind, könnte dies jederzeit nachgeholt werden und dann zu einer Minderung des verfügbaren Einkommens führen.

4. Für das neue Berufungsverfahren weist der Senat auf folgendes hin:

Das Berufungsgericht wird bei seiner erneuten Entscheidung prüfen müssen, ob der Kläger nach § 20 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 oder § 20 Abs. 4 AuslG einen Anspruch auf Erteilung eines Visums oder zumindest auf erneute ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Visumsantrag hat. [...]

a) Die tatbestandlichen Voraussetzungen müssen - abgesehen von den altersmäßigen Voraussetzungen - sowohl im Zeitpunkt der erneuten Verhandlung oder Entscheidung des Berufungsgerichts als auch im Zeitpunkt des Erreichens der jeweiligen Altersgruppe erfüllt sein. [...] Bei der Prüfung der Sicherung des Lebensunterhalts wird das Berufungsgericht zunächst festzustellen haben, ob der Lebensunterhalt des Klägers auch bei einem Nachzug seiner Geschwister gesichert wäre. Ist dies nicht der Fall, ist aufzuklären, ob die Nachzugsbegehren in einem gewissen Rangverhältnis stehen. Auch wenn vorrangig dem Kläger der Nachzug ermöglicht werden soll, müssten bei den Einkünften seines Vaters die gesetzlichen Unterhaltsansprüche seiner Geschwister in Abzug gebracht werden. Welches Recht hierbei anzuwenden ist, richtet sich nach Art. 18 EGBGB. In diesem Zusammenhang dürfte bei im Ausland lebenden Kindern allerdings der Höhe des ihnen tatsächlich gezahlten Unterhalts regelmäßig eine nicht unerhebliche Indizwirkung zukommen. Gegebenenfalls wird bei mangelnder Sicherung des Lebensunterhalts auch zu prüfen sein, ob ein Ausnahmefall vorliegt, der das Absehen von der (Regel-)Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gebietet. Hinsichtlich des Erfordernisses ausreichenden Wohnraums wird ebenfalls ein voraussichtlicher Nachzug der Geschwister des Klägers zu berücksichtigen sein.

b) Bei der gerichtlichen Überprüfung des - zu Lasten des Klägers ausgeübten - Ermessens hat das Berufungsgericht die Sach- und Rechtslage in dem Zeitpunkt, der für die gerichtliche Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen maßgeblich ist, zugrunde zu legen. Dies ist - da der Kläger inzwischen volljährig ist - bei § 20 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AuslG der Zeitpunkt der Vollendung des 16. Lebensjahres und bei § 20 Abs. 4 AuslG der Zeitpunkt des Vollendung des 18. Lebensjahres. Nach diesem Zeitpunkt eintretende Sachverhaltsänderungen zu Gunsten des Betroffenen können bei der gerichtlichen Überprüfung des Ermessens grundsätzlich nicht berücksichtigt werden. Der Senat hält insoweit an seiner Rechtsprechung, wonach bei Klagen auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels für die Überprüfung der Ermessensentscheidung regelmäßig der Zeitpunkt des Erlasses der letzten behördlichen Entscheidung maßgeblich war (vgl. Urteil vom 24. Januar 1995 - BVerwG 1 C 2.94 - BVerwGE 97, 301 310> m.w.N.), nicht weiter fest. In Anlehnung an seine Rechtsprechung zum maßgeblichen Zeitpunkt bei der Überprüfung einer Ermessensentscheidung im Falle der gerichtlichen Anfechtung einer Ausweisung (vgl. Urteil vom 15. November 2007 - BVerwG 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20 22 ff. >) geht er davon aus, dass nunmehr auch bei Klagen auf Erteilung bzw. Verlängerung eines Aufenthaltstitels für die Überprüfung der behördlichen Ermessensentscheidung auf den Zeitpunkt abzustellen ist, der für die gerichtliche Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen maßgeblich ist.

aa) Maßgebend für die Verlagerung des Zeitpunkts ist für den Senat vor allem die Erwägung, dass die Ablehnung eines Aufenthaltstitels wie die Ausweisung zu einer Aufenthaltsbeendigung führen kann. Vor allem in diesen Fällen kommt dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK und dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG auf freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie bei familiären Bindungen dem Grundrecht aus Art. 6 GG eine besondere Bedeutung zu. Diese Rechte gewähren nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts materiell zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt, die zuständigen Behörden und Gerichte haben bei ausländerrechtlichen Entscheidungen aber deren Auswirkungen auf das Privatleben des Betroffenen und seine familiären Bindungen an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu beachten (EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2006 - 46410/99, Üner - NVwZ 2007, 1279; BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2007 - 2 BvR 2341/06 - InfAuslR 2008, 239 m.w.N.). Diese materiellen Vorgaben waren für den Senat - neben weiteren gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben - mit ausschlaggebend für die Zeitpunktverlagerung bei der Anfechtung einer Ausweisung (vgl. Urteil vom 15. November 2007 - a.a.O. - Rn. 15 ff.). Für den betroffenen Ausländer macht es im Ergebnis häufig keinen Unterschied, ob die Aufenthaltsbeendigung durch Ausweisung oder Ablehnung der Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis erfolgt. Dies rechtfertigt es, die Zeitpunktverlagerung auch auf derartige Fälle der Aufenthaltsbeendigung zu erstrecken, zumal hier für die gerichtliche Beurteilung der Anspruchsgrundlagen im Grundsatz schon immer der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz maßgeblich war. Das bedeutet aber nicht, dass damit auch andere Besonderheiten aus dem Ausweisungsrecht zwangsläufig auf die Überprüfung einer Aufenthaltsversagung zu übertragen sind.

Aus Gründen der Praktikabilität geht der Senat allerdings davon aus, dass die Zeitpunktverlagerung bei der Überprüfung der Ermessensentscheidung nicht nur Fälle erfasst, in denen die Ablehnung der Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu einer Aufenthaltsbeendigung führt, sondern sich einheitlich auf alle Verpflichtungsklagen auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels erstreckt. Damit ist auch bei der Versagung eines Visums bei der Überprüfung der behördlichen Ermessensentscheidung auf den Zeitpunkt abzustellen, der im gerichtlichen Verfahren für die Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen maßgeblich ist, auch wenn es in diesem Fall nicht um eine Aufenthaltsbeendigung, sondern um die erstmalige Ermöglichung eines Aufenthalts im Bundesgebiet geht und damit vor allem dem Recht auf Achtung des Privatlebens typischerweise kein besonderes Gewicht zukommt.

Gilt bei der Verpflichtungsklage auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels - wie oben dargelegt - für die Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz (vgl. Urteil vom 16. Juni 2004 - BVerwG 1 C 20.03 - BVerwGE 121, 86 88>), gilt dieser Zeitpunkt nunmehr auch für die Überprüfung der behördlichen Ermessensentscheidung. Hängt die Erteilung des Aufenthaltstitels allerdings - wie im Fall des Kindernachzugs - von der Einhaltung einer Altersgrenze ab und kommt es deshalb materiell ausnahmsweise nicht allein auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung der Tatsachengerichte an, sondern müssen die Anspruchsvoraussetzungen bereits vor Überschreiten der Altersgrenze vorliegen, wirkt sich dies auch auf die gerichtliche Überprüfung der Ermessensentscheidung aus. Dies hat zur Folge, dass eine Ermessensentscheidung, die bezogen auf den Zeitpunkt des Erreichens der jeweiligen Altersgrenze keine Ermessensfehler aufweist, durch eine nachträgliche Änderung der Sachlage zu Gunsten des Betroffenen nicht fehlerhaft wird. Umgekehrt genügt aber auch, wenn sie jedenfalls bezogen auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung nicht zu beanstanden ist.

bb) Zur verfahrensbegleitenden Kontrolle der Ermessensentscheidung bemerkt der Senat:

Allein der Umstand, dass zwischen der ablehnenden Behördenentscheidung und dem maßgeblichen Zeitpunkt für ihre Überprüfung ein gewisser Zeitraum verstrichen ist, zwingt die Behörde regelmäßig noch nicht zu einer Aktualisierung der Ermessenserwägungen. Sollte sich im neuen Berufungsverfahren indes herausstellen, dass sich die Sachlage nach dem Erlass der ablehnenden Entscheidung in entscheidungserheblicher Weise zugunsten des Klägers geändert hat, müsste der Beklagten Gelegenheit gegeben werden, ihre Ermessenserwägungen entsprechend zu aktualisieren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich aus der Zeitpunktverlagerung sowohl für den Kläger als auch für die Behörde entsprechende Mitwirkungspflichten ergeben. Sind im Rahmen des Klagebegehrens während des gerichtlichen Verfahrens neu eingetretene Tatsachen zu berücksichtigen, ist es primär Aufgabe des Klägers, auf etwaige zu seinen Gunsten eingetretene Tatsachenänderungen hinzuweisen. Hierzu wird der Kläger im neuen Berufungsverfahren Gelegenheit haben. Sollten vom Kläger neue zu seinen Gunsten sprechende Tatsachen vorgetragen werden, hat die Beklagte ihre ablehnende Entscheidung zu überprüfen und gegebenenfalls der neuen Sachlage anzupassen. In diesem Zusammenhang hat sie auch die Möglichkeit, in Erfüllung ihrer Obliegenheit zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle die Ermessenserwägungen in Anwendung der prozessualen Möglichkeit des § 114 Satz 2 VwGO im laufenden Verfahren zu aktualisieren (vgl. Urteil vom 13. Januar 2009 - BVerwG 1 C 2.08 - juris Rn. 27 m.w.N. zur Aktualisierung der Ermessensentscheidung bei der Anfechtung einer Ausweisung). [...]