Für den Kindernachzug ist Minderjährigkeit zum Zeitpunkt der Asylantragstellung der Eltern maßgeblich:
1. Für die Beurteilung, ob das Kind einer als Flüchtling anerkannten Person minderjährig ist und damit Anspruch auf Familiennachzug hat, ist gemäß Art. 4 Abs. 1 Bst. c Familienzusammenführungsrichtlinie (FamZ-RL) der Zeitpunkt maßgeblich, zu dem der Elternteil seinen Asylantrag gestellt hat. Der Antrag auf Familienzusammenführung muss innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling gestellt werden.
2. Für die Annahme, dass zwischen als Flüchtling anerkannten Eltern(-teilen) und Kind tatsächliche familiäre Bindungen gemäß Art. 16 Abs. 1 Bst. b FamZ-RL bestehen, genügt die bloße Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie nicht. Es ist jedoch auch nicht erforderlich, dass das Kind und der betreffende Elternteil das Zusammenleben im selben Haushalt wieder aufnehmen. Gelegentliche Besuche, sofern sie möglich sind, und regelmäßige Kontakte können für die Annahme ausreichen, dass die Familienangehörigen persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen und somit tatsächliche familiäre Bindungen bestehen. Es kann nicht verlangt werden, dass sich das Kind und die Eltern bzw. der Elternteil gegenseitig finanziell unterstützen.
(Leitsätze der Redaktion; Entscheidung erging auf Vorlage des BVerwG, Beschluss vom 23.04.2020 - 1 C 9.19, 1 C 10.19 - asyl.net: M28542; siehe auch EuGH zum Elternnachzug: Urteil vom 01.08.2022 - C-273/20, C-355/20 Deutschland gegen SW, BL und BC - asyl.net: M30811)
Siehe auch:
[...]
24 Mit Entscheidung vom 3. August 2020 hat der Präsident des Gerichtshofs das vorlegende Gericht um Mitteilung gebeten, ob es in Anbetracht des Urteils vom 16. Juli 2020, État belge (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C-133/19, C-136/19 und C-137/19, EU:C:2020:577), sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten wolle.
25 Mit Beschluss vom 8. September 2020, der am 9. September 2020 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mitgeteilt, dass es das Ersuchen aufrechterhalte, weil die in der Rechtssache aufgeworfenen Fragen durch das angesprochene Urteil aus Sicht des Gerichts nicht hinreichend beantwortet würden.
26 Am 12. Mai 2021 hat der Gerichtshof der deutschen Regierung gemäß Art. 61 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung eine Frage gestellt, mit der er sie aufgefordert hat, zu der möglichen Bedeutung des Urteils vom 12. April 2018, A und S (C-550/16, EU:C:2018:248), im Hinblick auf die Beantwortung der ersten Vorlagefrage Stellung zu nehmen. Am 21. Juni 2021 hat die deutsche Regierung eine Antwort auf die Frage des Gerichtshofs eingereicht. [...]
27 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass der maßgebende Zeitpunkt für die Feststellung, ob das Kind eines als Flüchtling anerkannten Zusammenführenden ein minderjähriges Kind im Sinne dieser Bestimmung ist, wenn es vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, der Zeitpunkt ist, zu dem der zusammenführende Elternteil seinen Asylantrag im Hinblick auf die Anerkennung als Flüchtling gestellt hat. [...]
29 Das vorlegende Gericht ist, wie sich aus der oben in Rn. 25 erwähnten Antwort auf eine Frage des Gerichtshofs ergibt, der Ansicht, dass sich das Ausgangsverfahren von denjenigen unterscheide, in denen das Urteil vom 16. Juli 2020, État belge (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C-133/19, C-136/19 und C-137/19, EU:C:2020:577), ergangen sei. Es verweist hierfür namentlich auf die Unterschiede zwischen dem jeweiligen Sach- und Rechtszusammenhang der damaligen Rechtssachen einerseits und des Ausgangsverfahrens andererseits. Insbesondere weist es darauf hin, dass der Gerichtshof in jenem Urteil zwar klargestellt habe, dass Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen sei, dass der Zeitpunkt, auf den abzustellen sei, um zu bestimmen, ob ein unverheirateter Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser ein minderjähriges Kind sei, derjenige Zeitpunkt sei, zu dem der Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung für minderjährige Kinder gestellt werde, und nicht derjenige Zeitpunkt, zu dem durch die zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats, gegebenenfalls nachdem ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags eingelegt worden sei, über den Antrag entschieden werde. Gleichwohl sei nicht die Frage beantwortet worden, ob beim Kindernachzug zu einem als Flüchtling anerkannten Elternteil auf einen früheren Zeitpunkt als den des Antrags auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung, nämlich auf denjenigen des Asylantrags, der von diesem Elternteil gestellt worden sei, abgestellt werden könne, da diese Frage für die besagten Rechtssachen nicht entscheidungserheblich gewesen sei.
30 Fraglich ist also, ob unter Berücksichtigung dieser besonderen Umstände im vorliegenden Fall der Ansatz, den der Gerichtshof im Urteil vom 12. April 2018, A und S (C-550/16, EU:C:2018:248), gewählt hat, in Bezug auf den Zeitpunkt zur Anwendung kommen kann, der für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft des Kindes eines als Flüchtling anerkannten Asylbewerbers maßgebend ist.
31 Vor diesem Hintergrund ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass das Urteil vom 16. Juli 2020, État belge (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C-133/19, C-136/19 und C-137/19, EU:C:2020:577), nicht über die Frage befinde, ob der vom Gerichtshof im Urteil vom 12. April 2018, A und S (C-550/16, EU:C:2018:248), gewählte Ansatz, wie er oben in Rn. 20 geschildert worden ist, vorliegend zur Anwendung gelangen könne.
32 Die erste Frage ist im Licht dieser Vorbemerkungen zu beantworten.
33 Insoweit ist daran zu erinnern, dass das Ziel der Richtlinie 2003/86 darin besteht, die Familienzusammenführung zu begünstigen, und dass sie außerdem Drittstaatsangehörigen, insbesondere Minderjährigen, Schutz gewähren soll (Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C-133/19, C-136/19 und C-137/19, EU:C:2020:577, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung). [...]
37 Zwar ist es nach dieser Bestimmung dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen, das gesetzliche Volljährigkeitsalter festzulegen, doch kann ihnen hinsichtlich der Festlegung des Zeitpunkts, auf den für die Beurteilung des Alters des Antragstellers für die Zwecke von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 abzustellen ist, kein Spielraum eingeräumt werden. Aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes folgt nämlich, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss, die unter Berücksichtigung u. a. des Kontexts der Bestimmung und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C-133/19, C-136/19 und C-137/19, EU:C:2020:577, Rn. 29 und 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). [...]
43 Hier geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass es nach deutschem Recht zwar nicht erforderlich ist, dass das Kind zum Zeitpunkt der Entscheidung über seinen Antrag auf Familienzusammenführung minderjährig ist, dass es aber zu dem Zeitpunkt minderjährig sein muss, zu dem sein Visumantrag gestellt wird, und zu dem Zeitpunkt, zu dem dem Elternteil die zum Familiennachzug berechtigende Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. [...]
45 Insoweit ist von vornherein darauf hinzuweisen, dass das Kind eines Asylbewerbers einen Antrag auf Familienzusammenführung auf der Grundlage des Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 nur dann wirksam stellen kann, wenn über den Antrag des Asyl suchenden Elternteils auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bereits endgültig positiv entschieden wurde. Wie der Gerichtshof bereits erläutert hat, lässt sich diese Voraussetzung unschwer damit erklären, dass sich vor Erlass einer solchen Entscheidung nicht mit Sicherheit feststellen lässt, ob der Betroffene die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt, was wiederum Voraussetzung für das Recht auf Familienzusammenführung ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. April 2018, A und S, C-550/16, EU:C:2018:248, Rn. 51 und 63).
46 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein deklaratorischer Akt ist und ein Flüchtling somit ab dem Zeitpunkt seines entsprechenden Antrags ein Recht auf Zuerkennung dieser Eigenschaft hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. April 2018, A und S, C-550/16, EU:C:2018:248, Rn. 53 und 54).
47 Wie der Generalanwalt in Nr. 42 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich auch aus den Urteilen des Gerichtshofs vom 12. April 2018, A und S (C-550/16, EU:C:2018:248), und vom 16. Juli 2020, État belge (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C-133/19, C-136/19 und C-137/19, EU:C:2020:577), dass das Recht auf Familienzusammenführung, wenn es um minderjährige Kinder geht, nicht durch den Zeitaufwand für Entscheidungen über Anträge auf internationalen Schutz oder auf Familienzusammenführung ausgehöhlt werden darf.
48 Ein Abstellen auf den Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde des fraglichen Mitgliedstaats über den Asylantrag des betreffenden Elternteils entscheidet, oder auf den späteren Zeitpunkt, zu dem das betroffene Kind seinen Visumantrag zum Zweck der Familienzusammenführung stellt, als Zeitpunkt, nach dem sich die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft für die Zwecke der Anwendung von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 richtet, stünde aber nicht nur mit den Zielen dieser Richtlinie, die Familienzusammenführung zu begünstigen und Flüchtlingen besonderen Schutz zu gewähren, sondern auch mit den Anforderungen, die sich aus Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta ergeben, nicht in Einklang; die letztgenannte Bestimmung impliziert dabei, dass bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen, insbesondere bei den Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Richtlinie 2003/86 treffen, das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C-133/19, C-136/19 und C-137/19, EU:C:2020:577, Rn. 36).
49 Die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte hätten dann nämlich keine Veranlassung, die Anträge von Eltern Minderjähriger auf internationalen Schutz mit der Dringlichkeit, die geboten ist, um der besonderen Schutzbedürftigkeit der Minderjährigen Rechnung zu tragen, vorrangig zu bearbeiten und könnten somit in einer Weise handeln, die das Recht auf Familienleben sowohl eines Elternteils mit seinem minderjährigen Kind als auch des Kindes mit einem Familienangehörigen gefährden würde (vgl. entsprechend Urteile vom 12. April 2018, A und S, C-550/16, EU:C:2018:248, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 9. September 2021, Bundesrepublik Deutschland [Familienangehöriger], C-768/19, EU:C:2021:709, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
50 Außerdem liefe eine solche Auslegung den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit zuwider, indem sie es nicht ermöglichen würde, eine gleiche und vorhersehbare Behandlung aller Antragsteller, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden, zu gewährleisten, da sie dazu führen würde, dass der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung hauptsächlich von Umständen abhinge, die in der Sphäre der nationalen Behörden oder Gerichte liegen, insbesondere von der mehr oder weniger zügigen Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz oder von der mehr oder weniger zügigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags, und nicht von Umständen, die in der Sphäre des Antragstellers liegen (vgl. entsprechend Urteil vom 12. April 2018, A und S, C-550/16, EU:C:2018:248, Rn. 56 und 60 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). [...]
52 Aus Gründen, die im Wesentlichen denjenigen entsprechen, auf denen die Auslegung von Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 im Urteil vom 12. April 2018, A und S (C-550/16, EU:C:2018:248), beruht, ist folglich für die Feststellung, ob das Kind eines als Flüchtling anerkannten Zusammenführenden minderjährig im Sinne des Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 ist, wenn es vor der Anerkennung des Zusammenführenden als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, auf den Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags des Zusammenführenden abzustellen. Nur das Abstellen auf diesen Zeitpunkt steht mit den Zielsetzungen dieser Richtlinie und den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten in Einklang. Dabei ist es unerheblich, ob über diesen Antrag unmittelbar nach Antragstellung oder aber, wie im Ausgangsverfahren, nach Nichtigerklärung einer ihn ablehnenden Entscheidung befunden wird.
53 In diesem Zusammenhang ist jedoch klarzustellen, dass in einem solchen Fall der Antrag auf Familienzusammenführung auf der Grundlage des Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 innerhalb einer angemessenen Frist erfolgen muss, d. h. innerhalb einer Frist von drei Monaten ab Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling.
54 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass der maßgebende Zeitpunkt für die Feststellung, ob das Kind eines als Flüchtling anerkannten Zusammenführenden ein minderjähriges Kind im Sinne dieser Bestimmung ist, wenn es vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, der Zeitpunkt ist, zu dem der zusammenführende Elternteil seinen Asylantrag im Hinblick auf die Anerkennung als Flüchtling gestellt hat, sofern der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling gestellt wurde. [...]
55 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, unter welchen Voraussetzungen bei der Familienzusammenführung eines minderjährigen Kindes und eines als Flüchtling anerkannten Elternteils tatsächliche familiäre Bindungen im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 anzunehmen sind, wenn das Kind vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist.
56 Insbesondere ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Klärung, ob dafür das rechtliche Eltern-Kind-Verhältnis ausreichend ist oder ob es auch eines tatsächlichen Familienlebens bedarf und wie intensiv dieses bejahendenfalls sein muss. Ferner möchte es wissen, ob eine Familienzusammenführung erfordert, dass nach der Einreise des Kindes in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats das Familienleben dort wieder aufgenommen wird. [...]
63 Dabei genügt das bloße rechtliche Eltern-Kind-Verhältnis nicht, um eine tatsächliche familiäre Bindung zu begründen. Die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 und der Charta schützen nämlich das Recht auf ein Familienleben und fördern dessen Wahrung, wobei sie es allerdings, sofern die Betroffenen weiterhin ein tatsächliches Familienleben führen, den Inhabern dieses Rechts überlassen, darüber zu entscheiden, wie sie ihr Familienleben führen wollen, und insbesondere keine Anforderungen an die Intensität von deren familiärer Beziehung stellen (vgl. entsprechend Urteil vom 9. September 2021, Bundesrepublik Deutschland [Familienangehöriger], C-768/19, EU:C:2021:709, Rn. 58).
64 Vorliegend steht zum einen fest, dass XC noch minderjährig war, als sich ihr Vater gezwungen sah, sein Herkunftsland zu verlassen, und somit zu dessen Kernfamilie im Sinne des neunten Erwägungsgrundes der Richtlinie 2003/86 gehörte, für die nach demselben Erwägungsgrund die Familienzusammenführung "auf jeden Fall" gelten sollte. [...]
65 Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass XC und ihr Vater während der Zeit ihrer Trennung, die namentlich auf die Sondersituation des Vaters als Flüchtling zurückging, kein echtes Familienleben führen konnten, weshalb allein auf diesen Umstand an sich nicht die Feststellung gestützt werden kann, dass keine tatsächlichen familiären Bindungen im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 bestanden. Im Übrigen kann auch nicht angenommen werden, dass jegliche familiäre Bindung zwischen einem Elternteil und seinem Kind sofort wegfällt, sobald das minderjährige Kind volljährig wird.
66 Davon abgesehen setzen tatsächliche familiäre Bindungen die Feststellung voraus, dass die familiäre Bindung wirklich gegeben ist oder der Wille besteht, eine solche Bindung herzustellen oder aufrechtzuerhalten.
67 So kann der Umstand, dass die Betroffenen beabsichtigen, einander gelegentlich zu besuchen, sofern dies möglich ist, und in irgendeiner Weise regelmäßigen Kontakt zu pflegen, unter Berücksichtigung insbesondere der ihre Situation kennzeichnenden tatsächlichen Umstände, zu denen das Alter des Kindes gehört, für die Annahme, dass sie persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und als Beleg für das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindungen ausreichen.
68 Darüber hinaus kann auch nicht verlangt werden, dass sich der zusammenführende Elternteil und sein Kind gegenseitig finanziell unterstützen, da wahrscheinlich ist, dass sie nicht über die materiellen Mittel dafür verfügen.
69 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass für die Annahme, dass bei der Familienzusammenführung eines minderjährigen Kindes und eines als Flüchtling anerkannten Elternteils tatsächliche familiäre Bindungen im Sinne dieser Bestimmung bestehen, wenn das Kind vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, das bloße rechtliche Eltern-Kind-Verhältnis nicht genügt. Es ist jedoch nicht erforderlich, dass der zusammenführende Elternteil und das betreffende Kind im selben Haushalt zusammenleben oder unter einem Dach wohnen, damit dieses Kind Anspruch auf Familienzusammenführung haben kann. Gelegentliche Besuche, sofern sie möglich sind, und regelmäßige Kontakte jedweder Art können für die Annahme, dass diese Personen persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und als Beleg für das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindungen ausreichen. Darüber hinaus kann auch nicht verlangt werden, dass sich der zusammenführende Elternteil und sein Kind gegenseitig finanziell unterstützen. [...]