Elternnachzug möglich, wenn Kind vor Entscheidung über Antrag auf Familiennachzug volljährig wird:
1. Nach Art. 16 Abs. 1 Bst. a Familienzusammenführungsrichtlinie (FamZ-RL) darf der Familiennachzug von Eltern zu unbegleitet minderjährig eingereisten, als Flüchtling anerkannten Kindern nicht deshalb abgelehnt werden, weil das Kind vor der Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist. Außerdem widerspricht eine nationale Regelung, wonach in einem solchen Fall das Aufenthaltsrecht der Eltern mit Eintritt der Volljährigkeit des Kindes endet, europäischem Recht.
2. Für die Annahme, dass zwischen Eltern und einem als Flüchtling anerkannten, ehemals minderjährigen Kind tatsächliche familiäre Bindungen gemäß Art. 16 Abs. 1 Bst. b FamZ-RL bestehen, genügt die bloße Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie nicht. Es ist jedoch auch nicht erforderlich, dass das Kind und der betreffende Elternteil im selben Haushalt zusammenleben. Gelegentliche Besuche, sofern sie möglich sind, und regelmäßige Kontakte können für die Annahme ausreichen, dass die Familienangehörigen persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen und somit tatsächliche familiäre Bindungen bestehen. Es kann nicht verlangt werden, dass sich das Kind und die Eltern bzw. der Elternteil gegenseitig finanziell unterstützen.
(Leitsätze der Redaktion; Entscheidung erging auf Vorlage des BVerwG, Beschluss vom 23.04.2020 - 1 C 9.19, 1 C 10.19 - asyl.net: M28542; siehe auch EuGH zum Kindernachzug:
Urteil vom 01.08.2022 - C-279/20 (Deutschland gegen XC) - asyl.net: M30815)
Siehe auch:
[…]
42 In diesem Zusammenhang ist als Erstes festzustellen, dass nach ständiger Rechtsprechung ein Abstellen auf den Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats über den Antrag auf Einreise und auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Staates zum Zweck der Familienzusammenführung entscheidet, als Zeitpunkt, nach dem sich die Beurteilung des Alters des Antragstellers oder, je nach Fall, des Zusammenführenden für die Zwecke der Anwendung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 richtet, weder mit den Zielen dieser Richtlinie noch mit den Anforderungen in Einklang stünde, die sich aus Art. 7 der Charta, der die Achtung des Familienlebens bezweckt, und Art. 24 Abs. 2 der Charta ergeben, nach dem bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen, insbesondere bei den Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Richtlinie 2003/86 treffen, das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C-133/19, C-136/19 und C-137/19, EU:C:2020:577, Rn. 36).
43 Die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte hätten dann nämlich keine Veranlassung, die Anträge der Eltern Minderjähriger mit der Dringlichkeit, die geboten ist, um der Schutzbedürftigkeit der Minderjährigen Rechnung zu tragen, vorrangig zu bearbeiten, und könnten somit in einer Weise handeln, die das Recht auf Familienleben sowohl eines Elternteils mit seinem minderjährigen Kind als auch des Kindes mit einem Familienangehörigen gefährden würde (vgl. entsprechend Urteil vom 9. September 2021, Bundesrepublik Deutschland [Familienangehöriger], C-768/19, EU:C:2021:709, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). […]
51 Aus dieser Bestimmung ergibt sich, dass, auch dann, wenn die Familienzusammenführung von den Eltern eines minderjährigen Flüchtlings beantragt wurde, der inzwischen volljährig geworden ist, diesen Eltern, wenn ihrem Antrag stattgegeben wird, ein Aufenthaltstitel erteilt werden muss, der mindestens ein Jahr lang gültig ist, ohne dass der Eintritt der Volljährigkeit des als Flüchtling anerkannten Kindes dazu führen darf, dass die Dauer eines solchen Aufenthaltstitels verkürzt wird (vgl. entsprechend Urteil vom 9. September 2021, Bundesrepublik Deutschland [Familienangehöriger], C-768/19, EU:C:2021:709, Rn. 63). Somit verstößt es gegen diese Bestimmung, den Eltern unter solchen Umständen ein Aufenthaltsrecht nur so lange zu gewähren, wie das Kind tatsächlich minderjährig ist.
52 Nach alledem ist auf den ersten Teil der ersten Frage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass bei der Familienzusammenführung von Eltern und einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling gemäß Art. 10 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie die Minderjährigkeit dieses Flüchtlings auch noch zum Zeitpunkt der Entscheidung über den von den Eltern des Zusammenführenden gestellten Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung keine "Bedingung" im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. a darstellt, bei deren Nichterfüllung die Mitgliedstaaten einen solchen Antrag ablehnen können. Außerdem sind die genannten Bestimmungen im Licht von Art. 13 Abs. 2 dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der in einem solchen Fall das Aufenthaltsrecht der Eltern mit Eintritt der Volljährigkeit des Kindes endet. […]
68 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass für die Annahme, dass bei der Familienzusammenführung eines Elternteils und eines als Flüchtling anerkannten minderjährigen Kindes tatsächliche familiäre Bindungen im Sinne dieser Bestimmung bestehen, wenn das Kind vor Erlass der Entscheidung über den Antrag dieses Elternteils auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung volljährig geworden ist, die bloße Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie ersten Grades nicht genügt. Es ist jedoch nicht erforderlich, dass das zusammenführende Kind und der betreffende Elternteil im selben Haushalt zusammenleben oder unter einem Dach wohnen, damit dieser Elternteil Anspruch auf Familienzusammenführung haben kann. Gelegentliche Besuche, sofern sie möglich sind, und regelmäßige Kontakte jedweder Art können für die Annahme, dass diese Personen persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und als Beleg für das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindungen ausreichen. Darüber hinaus kann auch nicht verlangt werden, dass sich das zusammenführende Kind und der betreffende Elternteil gegenseitig finanziell unterstützen. [...]