Geringere Leistungen wegen "Schicksalsgemeinschaft" bei Alleinstehenden in Sammelunterkünften verfassungswidrig:
1. Die Regelung des § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG, wonach für alleinstehende Erwachsene bei Gemeinschaftsunterbringung die für Bedarfsgemeinschaften vorgesehene Regelbedarfsstufe 2 gilt, erscheint verfassungswidrig (unter Verweis auf die Stellungnahme des Deutschen Caritasverbands vom 29.03.2019).
2. Die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze zum menschenwürdigen Existenzminimums dürften hier daher durch die Festlegung der Regelbedarfsstufe verletzt sein (unter Verweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 - 1 BvL 2/11)
(Leitsätze der Redaktion, siehe auch SG Landshut, Beschluss vom 24.10.2019 - S 11 AY 64/19 ER - Asylmagazin 12/2019, S. 432 f. - asyl.net: M27766; SG Freiburg, Beschluss vom 03.12.2019 - S 9 AY 4605/19 ER - asyl.net: M27903)
Anmerkung:
[...]
Das Gericht hat erhebliche Zweifel daran, ob sich die streitentscheidende Norm des § 3a Asylbewerberleistungsgesetz als verfassungskonform erweisen wird. Zu den Beweggründen, welche diese Zweifel auslösen, verweist die Kammer auf die Stellungnahme des Deutschen Caritasverbandes vom 29.3.2019 zum Referentenentwurf des Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes (Stand: 25.03.2019), III Nummer 3, Seite 5 ff.. Dort wird folgendes ausgeführt:
"Gesonderte Bedarfsstufe für Erwachsene in Flüchtlingsunterkünften (§ 3a Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG-E)
Mit der Nummer 2b wird eine besondere Bedarfsstufe für erwachsene Leistungsberechtigte eingeführt, die in Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünften oder vergleichbarem Unterkünften untergebracht sind. Die Bedarfsstufe beträgt 90 Prozent des Satzes der Bedarfsstufe 1. Die Veränderung erfolgt in der Annahme, dass sich bei einer Gemeinschaftsunterbringung für die Bewohner(innen) Einspareffekte ergeben, die mit denen in Paarhaushalten im Ergebnis vergleichbar sind (Gesetzesbegründung, S. 26f.).
Bewertung und Handlungsbedarf
Der Deutsche Caritasverband bezweifelt auf Grundlage seiner langjährigen Erfahrung in der Flüchtlingsarbeit, dass sich bei dieser Unterbringungsform für die Bewohner(innen) Einspareffekte ergeben und hält die Schaffung der gesonderten Bedarfsstufe, die für die Betroffenen eine weitere Leistungsabsenkung bedeutet, für ungerechtfertigt. Von Familienangehörigen, die in familiärer Gemeinschaft zusammen leben, kann zumutbar erwartet werden, dass sie "aus einem Topf" wirtschaften. Empirische Grundlagen können eine damit einhergehende Einsparung belegen (BVerfG, 1 BvR 371/11). Hingegen ist ein mit der Unterbringung in Flüchtlingsunterkünften einhergehendes Einsparpotential empirisch nicht (hinreichend) belegt und auch nicht plausibel. Die Annahme, dass bei Fremden, deren einzige Verbindung es ist, in der Anonymität von Massenunterkünften leben zu müssen, durch eine vermeintliche "Schicksalsgemeinschaft" (Gesetzesbegründung, S. 27) eine Solidarisierung erfolgt, aus der sich für die Bewohner(innen) finanzielle Synergieeffekte ergeben, wird der Realität in Flüchtlingsunterkünften nicht gerecht. Voraussetzung für ein gemeinsames Wirtschaften ist vielmehr ein gefestigtes gegenseitiges Vertrauen. Ob sich dies zwischen Fremden unter diesen Rahmenbedingungen entwickeln kann, ist zweifelhaft - zu Recht wird dies in der Gesetzesbegründung im Zusammenhang mit der Zuordnung erwachsener Kinder in Bedarfsstufe 3 betont: "Denn ebenso wie bei Paaren besteht auch zwischen Eltern und ihren auch erwachsener: Kindern ein besonderes Näheverhältnis, weshalb ihnen ein gemeinschaftliches Wirtschaften möglich und zumutbar ist." (Gesetzesbegründung, S. 24). Allein die Fluktuation in Flüchtlingsunterkünften verhindert üblicherweise den Aufbau eines solchen Näheverhältnisses. Dass Bewohner(innen) regelmäßig aus unterschiedlichen Herkunftsregionen und Kulturen stammen, woraus sich Verständigungsschwierigkeiten und zum Teil sogar Konflikte ergeben können, steht als weiterer Faktor einem gemeinsamen Wirtschaften entgegen. Hinzu kommt, dass sich laut Gesetzesbegründung die zu erwartenden Einspareffekte auch dadurch ergeben sollen, dass "Wohnraum gemeinsam genutzt wird, im Haushalt vorhandene Gebrauchsgüter gemeinsam angeschafft und genutzt werden" (Gesetzesbegründung, S. 23). Leistungen dafür sind aber schon in der Bedarfsstufe 1 nicht enthalten, da sie gesondert erbracht werden (vgl. § 3 Abs. 3 S. 3 AsylbLG und oben Punkt 4). Daher können sich hier keine Einspareffekte für die Betroffenen ergeben. Auch mit Blick auf den notwendigen persönlichen Bedarf verbietet sich die vorgesehene Leistungsminderung. Aufgrund des Bezuges von Sachleistungen ist dieser Betrag oftmals die einzige Möglichkeit, selbstbestimmt über einen Teil des eigenen Lebens zu entscheiden und Autonomie zu erleben. Dass auch Notunterkünfte, in denen regelmäßig eine behelfsmäßige Unterbringung ohne jeden Synergieeffekt für die Bewohner(innen) erfolgt und die sich nach allen Erfahrungen nicht für eine dauerhafte oder längere Unterbringung eignen, einbezogen werden, erschließt sich ebenfalls nicht."
Diesen Ausführungen ist nach vorläufiger Würdigung durch das Gericht nichts hinzuzufügen. Die Kammer schließt sich dieser Würdigung inhaltlich an.
Daraus folgt jedoch, dass erhebliche Zweifel daran bestehen, ob der Bundesgesetzgeber mit der Neuregelung des § 3a Asylbewerberleistungsgesetz die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes ins Urteil vom 16. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 - und 1 BvL 2/11 - beachtet und somit verfassungsgemäß umgesetzt hat. So hat das Bundesverfassungsgericht unter anderem folgendes ausgeführt (Bundesverfassungsgericht a.a.O. Rn 67 ff.):
"Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Dies verlangt bereits unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG. Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen worden, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist. Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt. Wenn der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums nicht hinreichend nachkommt, ist das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig (vgl. BVerfGE 125, 175 <223 f.>).
d) Der Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG ist dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben. Sein Umfang kann jedoch nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden. Er hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation der Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab und ist danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen (vgl. BVerfGE 125, 175 <224>).
Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1GG hält den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen. Die hierbei erforderlichen Wertungen kommen dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Ihnen obliegt es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren. Ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert, bleibt grundsätzlich ihm überlassen. Ihm kommt zudem Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums zu. Dieser Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen umfasst die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs und ist zudem von unterschiedlicher Weite: Er ist enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiert, und weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht (vgl. BVerfGE 125, 175 <224 f.>). Entscheidend ist, dass dar Gesetzgeber seine Entscheidung an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichtet. (...)
(...) Die Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz müssen zur Konkretisierung des grundrechtlich fundierten Anspruchs folgerichtig in einem inhaltlich transparenten und sachgerechten Vorfahren nach dem tatsächlichen und jeweils aktuellen Bedarf, also realitätsgerecht bemessen, begründet werden können (vgl. BVerfGE 125, 175 <225> m.w.N.).
aa) Die sich aus der Verfassung ergebenden Anforderungen an die methodisch sachgerechte Bestimmung grundrechtlich garantierter Leistungen beziehen sich nicht auf das Verfahren der Gesetzgebung, sondern auf dessen Ergebnisse. Das Grundgesetz beinhaltet in den Art. 76 ff. GG Vorgaben für das Gesetzgebungsverfahren, die auch die Transparenz der Entscheidungen des Gesetzgebers sichern. Das Grundgesetz schreibt jedoch nicht vor, was, wie und wann genau im Gesetzgebungsverfahren zu begründen und berechnen ist. Es lässt Raum für Verhandlungen und für den politischen Kompromiss. Entscheidend ist, dass im Ergebnis die Anforderungen des Grundgesetzes nicht verfehlt werden, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG bringt insofern für den Gesetzgeber keine spezifischen Pflichten im Vorfahren mit sich; entscheidend ist, ob sich der Rechtsanspruch auf existenzsichernde Leistungen durch realitätsgerechte, schlüssige Berechnungen sachlich differenziert begründen lässt."
Dies vorausgeschickt ergeben sich eine Vielzahl erheblicher rechtlicher Bedenken:
Zum einen verweist der Bundesgesetzgeber alleinstehende Asylbewerber in Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünften oder vergleichbaren sonstigen Unterkünften (Sammelunterkünften) offensichtlich auf freiwillige Leistungen Dritter, denn er erwartet ein gemeinsames Wirtschaften innerhalb der Schicksalsgemeinschaft. Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist dann allerdings nicht durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert, d.h. der gesetzliche Anspruch ist ohne die zusätzlichen freiwilligen Leistungen der weiteren Angehörigen der Schicksalsgemeinschaft innerhalb einer Sammelunterkunft nicht gesichert. Dies steht im eklatanten Widerspruch zu den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes.
Weiterhin hat der Bundesgesetzgeber offensichtlich nicht die konkrete Lebenssituation der Asylbewerber in Sammelunterkünften berücksichtigt. Die Kammer misst den Ausführungen unter anderem des Deutschen Caritasverbandes zu den Lebensumständen in Sammelunterkünften aufgrund langjährig erworbener Kompetenzen dieser Institution in der Flüchtlingsarbeit weitaus größeres Gewicht zu als den euphemistischen Darstellungen des Bundesgesetzgebers in der Gesetzesbegründung.
Soweit das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat, dass entscheidend sei, ob sich der Rechtsanspruch auf existenzsichernde Leistungen durch realitätsgerechte, schlüssige Berechnungen sachlich differenziert begründen lasse, ist festzustellen, dass die Einführung der besonderen Bedarfsstufe des § 3a Asylbewerberleistungsgesetz für Asylbewerber in Sammelunterkünften nicht auf einer realitätsgerechten und schlüssigen Berechnung gründen. Die Gesetzesbegründung erschöpft sich auf den Seiten 23 und 24 der Drucksache 19/10052 in rechnerisch nicht nachprüfbaren allgemeinen Ausführungen. Letztlich wird unter Verweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vorn 27.7.2016 - 1 BvR 371/11 - Rn 53 - ausgeführt, das Absenken der Regelleistung aufgrund des gemeinsamen Wirtschaftens in häuslicher Gemeinschaft könne als Orientierung von Sozialleistungen an der Bedürftigkeit auch im Sinne des sozialen Rechtsstaats gerechtfertigt werden. Diese Bezugnahme und damit die vermeintliche Rechtfertigung der Rechtsänderung verfälscht den Kontext des zitierten Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes. Das Bundesverfassungsgericht hat im zitierten Beschluss ausschließlich auf die familiäre Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft abgehoben. Ein alleinstehender Flüchtling, der in einer Sammelunterkunft untergebracht ist, befindet sich offensichtlich nicht in einer familiären Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft.
Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens dürfte offen sein. Das Gericht hat daher im Rahmen einer Folgenabwägung zu entscheiden. Vorliegend besteht die Gefahr, dass dem Antragsteller das menschenwürdige Existenzminimum nicht gewährt wird, da es durch die gesetzliche Neuregelung des § 3a Asylbewerberleistungsgesetz nicht gesichert sein könnte. Dadurch droht zugleich eine unbillige Härte. Eine Mitverantwortung des Antragstellers an dieser nachteiligen Situation ist nicht ersichtlich.
Dem entgegen steht das öffentliche Interesse, an der Umsetzung der gesetzlichen Neuregelung.
Das grundgesetzlich geschützte Interesse des Antragstellers überwiegt das öffentliche Interesse an der Umsetzung der gesetzlichen Neuregelung. Aufgrund des Umstandes, dass gegebenenfalls das soziokulturelle Existenzminimum nicht gewährleistet ist, droht eine intensive Verletzung der Grundrechte des Antragstellers, insbesondere des Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz. Ohne die einstweilige Anordnung drohen dem Antragsteller schwere und unzumutbare Nachteile. Das Zuwarten auf eine Entscheidung in der Hauptsache ist nicht zumutbar.
Da im vorliegenden Fall existenzsichernde Leistungen streitbefangen sind, ist die Eilbedürftigkeit und damit ein Anordnungsgrund gleichfalls glaubhaft gemacht worden. [...]