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SG Freiburg

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Zitieren als:
SG Freiburg, Beschluss vom 03.12.2019 - S 9 AY 4605/19 ER - asyl.net: M27903
https://www.asyl.net/rsdb/M27903
Leitsatz:

Verfassungsrechtliche Bedenken bei geringeren Leistungen wegen "Schicksalsgemeinschaft" bei Alleinstehenden in Sammelunterkünften:

1. Es bestehen verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG, wonach für alleinstehende Erwachsene bei Gemeinschaftsunterbringung die für Bedarfsgemeinschaften vorgesehene Regelbedarfsstufe 2 gilt (unter Bezug auf SG Landshut, Beschluss vom 24.10.2019 - S 11 AY 64/19 ER - asyl.net: M27766). 

2. Zudem ist die Vorschrift des § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG ohnehin nicht auf Personen anwendbar, die vor Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht bereits Anspruch auf Analogleistungen nach dem SGBX XII hatten. Dies würde einen Verstoß gegen die Übergangsvorschrift des § 15 AsylbLG darstellen, wonach § 2 AsylbLG a.F. auf diese Personengruppe weiterhin entsprechend anzuwenden ist. Auch wenn die Gesetzesbegründung lediglich die Schaffung einer Übergangsvorschrift bezüglich der Verlängerung der Wartefrist für Analogleistungen von 15 auf 18 Monate vorsieht, geht dies aus dem klaren Wortlaut der Vorschrift hervor.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Bedarfsstufe, Bedarfsgemeinschaft, Sozialrecht, alleinstehend, Gemeinschaftsunterkunft, Sozialstaatsprinzip, Existenzminimum, Gleichheitsgrundsatz, allgemeiner Gleichheitssatz, Bedarf, Regelleistung, Grundleistungen, Analogleistungen, Aufnahmeeinrichtung, Regelbedarf, Gemeinschaftsunterbringung, gemeinsames Wirtschaften, soziokulturelles Existenzminimum, Bargeldbedarf, vorläufiger Rechtsschutz, Schicksalsgemeinschaft, Sammelunterkunft, Verfassungsmäßigkeit, Einspareffekt, Paarhaushalt, verfassungskonforme Auslegung, Auslegung, Leistungskürzung, alleinstehend,
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1, AsylbLG § 15, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 20 Abs. 1, GG Art. 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Ausgehend von diesen rechtlichen Grundsätzen war die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs sowie einer allfälligen Anfechtungsklage anzuordnen.

Die Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung des Antragsstellers sind offen. Dies beruht zum einen darauf, dass sich der Antragsteller möglicherweise auf § 15 AsylbLG in der seit 21.8.2019 geltenden Fassung berufen kann. Nach dieser Übergangsvorschrift ist für Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG, auf die bis zum 21.8.2019 gemäß § 2 Absatz 1 AsylbLG das Zwölfte Buch des Sozialgesetzbuches entsprechend anzuwenden war, § 2 AsylbLG in der Fassung der Bekanntmachung vom 5.8.1997, zuletzt geändert durch Artikel 4 des Gesetzes vom 17.7.2017, weiter anzuwenden. Der Antragsteller gehört, da er seit 2017 durchgehend sogenannte Analogleistungen nach § 2 AsylbLG bezieht, zu dem von dieser Vorschrift definierten Personenkreis. Nach dem Wortlaut des § 15 AsylbLG ist daher für ihn § 2 AsylbLG in der bis zum 20.8.2019 geltenden Fassung anzuwenden, nicht aber die erst am 1.9.2019 in Kraft getretene Vorschrift § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG. Zwar bezweckte der Gesetzgeber mit § 15 AsylbLG lediglich die Schaffung einer Übergangsvorschrift für das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, namentlich in Bezug auf die damit einhergehende Verlängerung der Wartefrist von 15 auf 18 Monate, wie sich aus dem Titel der Vorschrift ("Übergangsregelung zum Zweiten Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht"), dem Datum ihres Inkrafttretens zum 21.8.2019 und aus den Gesetzesmaterialien ergibt (Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. A. 2014, Stand 9.10.2019, § 15 Asy1bLG, Rn. 13-14 m.w.N.). Mit dem Wortlaut der Vorschrift, dem bei der Auslegung von Rechtsnormen besondere Bedeutung und die Funktion einer äußersten Grenze zukommt (vgl. Gern, Die Rangfolge der Auslegungsmethoden von Rechtsnormen, Verwaltungsarchiv 80 <1989>, Seite 415, 432 f.), lässt sich der vom Gesetzgeber beabsichtigte enge Anwendungsbereich jedoch kaum vereinbaren. Es spricht daher viel dafür, dass der angefochtene Verwaltungsakt bereits wegen Verstoßes gegen die Übergangsvorschrift § 15 AsylbLG rechtswidrig ist. Zum anderen bestehen gegen § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG, auf den sich der angefochtene Bescheid maßgeblich stützt, zumindest gewisse verfassungsrechtliche Bedenken. Insoweit wird auf die Gründe des Beschlusses des Sozialgerichts Landshut vom 24.10 2019 (Az. S 11 AY 64/19 ER, <juris>) verwiesen, denen das Gericht nach eigener Prüfung folgt. [...]