EuGH, Urteil vom 16.7.2020 – C-517/17, Milkiyas Addis gg. Deutschland – asyl.net: M28645
Der EuGH hat entschieden, dass Asylbehörden dazu verpflichtet sind, Asylantragsteller*innen vor einer Entscheidung über einen Asylantrag persönlich anzuhören, auch wenn bereits zuvor in einem anderen EU-Mitgliedsstaat internationaler Schutz gewährt wurde.
Der Kläger des Ausgangsverfahrens beantragte in Deutschland im Jahr 2011 internationalen Schutz. Bei der Prüfung der Zulässigkeit des Asylantrags wurde festgestellt, dass er in Italien bereits als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonverntion anerkannt worden war. Daraufhin erließ das BAMF im Jahr 2013 nach dem damals geltenden § 31 Abs. 4 AsylG a. F. einen Bescheid, in dem es feststellte, dass dem Kläger kein Asylrecht zustehe. Nach erst- und zweitinstanzlichen Gerichtsverfahren legte der Kläger gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts Revision beim BVerwG ein und rügte unter anderem, das Bundesamt habe vor Erlass des Bescheids nicht von einer persönlichen Anhörung absehen dürfen.
Das BVerwG beschäftigte sich zunächst mit der Frage, ob die Entscheidung des BAMF in eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG umgedeutet werden kann. Dabei hielt es für klärungsbedürftig, ob eine Unzulässigkeitsentscheidung rechtmäßig ist, wenn die in Art. 14 der VerfRL geregelte Pflicht zur persönlichen Anhörung verletzt wurde. Für die Rechtmäßigkeit spricht nach Auffassung des BVerwG, dass die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG eine gebundene Entscheidung ist, bei der das BAMF und die Verwaltungsgerichte ohnehin verpflichtet seien, alle Tatbestandsvoraussetzungen der Norm von Amts wegen aufzuklären.
Daneben warf das BVerwG die Frage auf, ob eine Verletzung des Anhörungsrechts auch dann relevant sei, wenn bei einem späteren Vorbringens aller Umstände im Rechtsbehelfsverfahren keine andere Sachentscheidung ergehen konnte. Für die »Heilung« des Anhörungsmangels durch eine spätere Anhörung im gerichtlichen Verfahren spreche der Rechtsgedanke des § 46 VwVfG. Demnach ist ein Anhörungsmangel unerheblich, wenn er die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.
Das BVerwG setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH sinngemäß die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob die deutsche Rechtslage mit Europarecht zu vereinbaren ist. Konkret lautete die Frage, ob Art. 14 VerfRL der besagten Regelung des nationalen Rechts entgegensteht, wonach das Fehlen einer persönlichen Anhörung im Ausgangsverfahren nicht zur Aufhebung einer Entscheidung führt, wenn im Rechtsbehelfsverfahren die Möglichkeit bestand, alle gegen die Unzulässigkeitsentscheidung sprechenden Umstände vorzubringen und anschließend keine andere Sachentscheidung ergehen kann.
Der EuGH entschied im Ergebnis, dass die genannte Vorschrift gegen die VerfRL verstößt: Art. 14 VerfRL verpflichte Asylbehörden dazu, Asylantragsteller*innen vor einer Entscheidung über eine Unzulässigkeitsentscheidung persönlich anzuhören. Wird dieses Recht verletzt, muss die Entscheidung aufgehoben und an die Asylbehörde zurückverwiesen werden, auch wenn trotz des Vorbringens keine andere Entscheidung ergehen kann. Dies ergebe sich aus der grundlegenden Bedeutung der behördlichen Anhörung, für die Art. 15 VerfRL detaillierte und spezifische Bedingungen und Garantien vorsehe. Davon gelte nur dann eine Ausnahme, wenn die Anhörung im Rechtsbehelfsverfahren unter Beachtung des Art. 15 VerfRL nachgeholt werden kann.
Der Gerichtshof führte weiter aus, dass die Verpflichtung zur behördlichen Anhörung auch bei einer Unzulässigkeitsentscheidung wegen vorheriger internationaler Schutzzuerkennung in einem anderen Mitgliedstaat gilt. Denn in diesem Fall müssten Betroffene sich dazu äußern können, ob tatsächlich ein entsprechender Schutzstatus gewährt wurde und ob aufgrund der Umstände des Einzelfalls bei Rückkehr in den Schutz gewährenden Staat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta droht (unter Berufung auf die Entscheidungen zu den Rechtssachen Ibrahim – Urteil vom 19.3.2019, asyl.net: M27127 – sowie Hamed und Omar – Urteil vom 13.11.2019, asyl.net: M27836). Es sei nicht auszuschließen, dass Betroffene außergewöhnliche Umstände nachweisen könnten, die sie aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit bei einer Abschiebung dem Risiko einer solchen Verletzung aussetzen.
Der Gerichtshof begründete weiter, dass Art. 14 und 34 VerfRL mit spezifischen Garantien einhergehen, mit denen die Wirksamkeit des Rechts auf eine persönliche Anhörung gewährleistet werden. Daneben müsse nach Art. 15 Abs. 2 und 3 VerfRL bei der Anhörung eine angemessene Vertraulichkeit und die Möglichkeit der umfassenden Darlegung der Antragsgründe gewährleistet sein. Zudem stellen Art. 15 Abs. 3 Bstb. b–e VerfRL spezifische Anforderungen an die Befähigung der anhörenden und dolmetschenden Personen.
Nach Auffassung des EuGH zeigt die Detailliertheit dieser Vorschriften, dass der Anhörung eine grundlegende Bedeutung beigemessen wird, deren Einhaltung eine Voraussetzung für die Unzulässigkeitsentscheidung ist. Sie kann deshalb weder durch die Möglichkeit, sich im Rechtsbehelfsverfahren schriftlich zu äußern, noch durch eine bestehende Amtsermittlungspflicht der Asylbehörde und des mit dem Rechtsbehelf befassten Gerichts geheilt werden. Denn im deutschen Recht sei nicht sichergestellt, dass ein mit dem Rechtsbehelf befasstes Gericht alle von Art. 15 VerfRL für die persönliche Anhörung vorgeschriebenen Bedingungen garantiert. Die Verletzung der Anhörungspflicht müsse deshalb auch zur Aufhebung der Entscheidung führen.
EuGH, Urteil vom 25.6.2020 – C-36/20, PPU – asyl.net: M28570
Der EuGH hat in einer aktuellen Entscheidung verschiedene Fragen im Zusammenhang mit der Inhaftierung von schutzsuchenden Personen beantwortet. Ein Gericht, das über die Inhaftierung einer sich unerlaubt aufhaltenden Person zu entscheiden hat, muss demnach über die konkreten Modalitäten der Asylantragstellung informieren. Wenn eine Person die Absicht erklärt, Asyl beantragen zu wollen, muss das Gericht zudem den Vorgang an die zuständigen Stellen weiterleiten. Weiterhin darf die Inhaftierung von Personen, die um internationalen Schutz ersuchen wollen, nicht allein deshalb angeordnet werden, weil nicht genug Kapazitäten in Aufnahmezentren zur Verfügung stehen.
Am 12. Dezember 2019 wurde von der spanischen Seenotrettung ein Boot mit 45 Personen nahe der spanischen Küste abgefangen. Das Seenotrettungsschiff brachte sie nach Gran Canaria. Dort wurden sie an die lokalen Behörden übergeben, am nächsten Tag wurde ihre Abschiebung angeordnet. Da die Betroffenen nicht sofort abgeschoben werden konnten, stellten die Behörden bei einem Untersuchungsgericht Anträge auf Inhaftierung.
Der hiervon betroffene malische Staatsangehörige VL erklärte vor dem über die Haft entscheidenden Gericht, internationalen Schutz beantragen zu wollen, weil ihm in Mali Verfolgung drohe. Das Gericht übermittelte die Erklärung an die lokale Ausländer- und Grenzschutzbrigade und an den UNHCR. Gleichzeitig ersuchte es weitere Behörden, für VL einen Platz in einem humanitären Aufnahmezentrum zu finden. Dies gelang jedoch nicht, woraufhin das Gericht die Unterbringung VL’s in einer Hafteinrichtung anordnete. Es teilte VL mit, dass dort auch sein Asylantrag bearbeitet werde.
VL legte gegen die Haftentscheidung Einspruch ein. Sie sei unvereinbar mit der EU‑Asylverfahrensrichtlinie (VerfRL) und der EU‑Aufnahmerichtlinie (AufnRL). Daraufhin setzte das Gericht das Verfahren aus und legte dem EuGH zur Vorabentscheidung die Fragen vor, ob es selbst als »andere Behörde« im Sinne der VerfRL Anträge auf internationalen Schutz entgegennehmen könne und ob es als solche Behörde Informations- und Weiterleitungspflichten habe. Nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 VerfRL muss gewährleistet sein, dass die Registrierung von Asylsuchenden spätestens sechs Tage nach Antragstellung erfolgt, wenn ein Antrag auf internationalen Schutz bei einer »anderen Behörde« gestellt wird, die zwar nach nationalem Recht nicht zuständig für die Registrierung ist, bei denen eine Antragstellung aber »wahrscheinlich« ist.
Der Gerichtshof entschied, dass ein Gericht, das über die Inhaftierung einer sich unerlaubt aufhaltenden Person entscheidet, eine Behörde in diesem Sinne darstellt. Aus dem Wortlaut der Vorschrift, insbesondere des Wortes »andere«, ergebe sich, dass der Behördenbegriff weit und offen auszulegen sei. Zudem verfolge die VerfRL unter anderem das Ziel, einen möglichst einfachen Zugang zu Asylverfahren zu gewährleisten. Es sei auch »wahrscheinlich«, dass bei einem für die Haftanordnung zuständigen Gericht Asylgesuche gestellt würden. Vor allem bei Verfahren, in denen eine Abschiebung innerhalb einer sehr kurzen Zeit angeordnet wird, stelle die Anhörung durch ein Gericht möglicherweise die erste Gelegenheit dar, das Recht auf Stellung eines Asylantrags geltend zu machen.
Das Gericht sei dann als »andere Behörde« nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 und 3 VerfRL verpflichtet, Betroffene über die konkreten Modalitäten der förmlichen Stellung des Asylantrags zu informieren. Dieser Verpflichtung könne das Gericht auch von sich aus nachkommen. Zudem müsse das Gericht den Vorgang der Behörde übermitteln, die für die Registrierung der Anträge zuständig ist, damit die sechstägige Frist eingehalten werden und Betroffene die materiellen Leistungen und die medizinische Versorgung nach Art. 17 AufnRL erhalten können.
Darüber hinaus legte das spanische Gericht die Frage vor, ob Betroffene bereits nach der Absichtsbekundung vor einer »anderen Behörde«, internationalen Schutz beantragen zu wollen, durch das Refoulement-Verbot und durch Regelungen der AufnRL geschützt seien.
Der EuGH bejahte diese Vorlagefrage im Ergebnis. Er entschied zunächst, dass Asylsuchende nicht aufgrund fehlender Kapazitäten in Aufnahmezentren in Haft genommen werden können. Eine Person sei insofern durch die VerfRL und die AufnRL geschützt, wenn es sich bei ihr um »eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat«, handelt. Für diesen Begriff ergebe sich aus den Richtlinien ein weites Verständnis: Es sei zwar grundsätzlich die Asylantragstellung notwendig, diese sei aber an keinerlei Verwaltungsformalitäten gebunden. Deshalb erwerbe eine Person diese Eigenschaft bereits zu dem Zeitpunkt, in dem sie bei einer »anderen Behörde« die Absicht bekundet, internationalen Schutz beantragen zu wollen.
Ab diesem Moment könne eine Inhaftierung nur nach den Vorschriften der AufnRL und VerfRL erfolgen, die EU‑Rückführungsrichtlinie finde keine Anwendung. Eine Inhaftierung allein aufgrund der Asylantragsstellung sei demnach nach Art. 26 Abs. 1 VerfRL und Art. 8 Abs. 1 AufnRL ausdrücklich ausgeschlossen. Zu den vorgesehenen Haftgründen aus Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 AufnRL zähle nicht das Fehlen von Kapazitäten in humanitären Aufnahmezentren. Da die dort aufgezählten Haftgründe abschließend seien, sei die auf eine solche Begründung gestützte Inhaftierung europarechtswidrig.
EGMR, Beschluss vom 05.03.2020 - 3599/18 M.N. u.a. gg. Belgien - asyl.net: M28416 (Art. 1, Art. 3, Art. 13, Art. 6 EMRK)
In diesem Fall erklärte der EGMR die Klage einer syrischen Familie für unzulässig, deren Visaanträge, die sie in der belgischen Botschaft in Beirut aus humanitären Gründen gestellt hatten, abgelehnt worden waren.
Ein syrisches Paar und ihre zwei Kinder, die aus Aleppo kommen, waren im August 2016 nach Beirut gereist, um dort 90-tägige Visa aus humanitären Gründen nach Art. 25 des EU-Visakodex zu beantragen. Sie begründeten ihre Anträge mit dem Vorliegen einer humanitären Notlage, welche aufgrund des Kriegs in Syrien und der intensiven Bombardierung Aleppos entstanden sei. Sie erklärten, in Belgien nach der Einreise Asylanträge stellen zu wollen.
Die belgische Ausländerbehörde, die für die Visumerteilung zuständig war, lehnte ihre Anträge mit der Begründung ab, die begehrten Visa seien nur für kurzfristige Aufenthalte vorgesehen. Die Beschwerdeführenden gingen dagegen vor der belgischen gerichtlichen Beschwerdestelle gegen Entscheidungen der Ausländerbehörde vor. Diese stellte in einem Eilverfahren fest, dass in Aleppo die Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung bestehe und somit eine Verletzung von Art. 3 der EMRK drohen würde. Sie wies den belgischen Staat an, den Beschwerdeführenden die begehrten Visa auszustellen. Die Ausländerbehörde lehnte die Visaanträge der Betroffenen jedoch erneut ab. Art. 3 EMRK könne nicht dahingehend ausgelegt werden, dass er Staaten verpflichte, alle Personen, die in katastrophalen Situationen leben, in ihr Hoheitsgebiet aufzunehmen. Nach weiteren nationalen Gerichtsverfahren leiteten die Betroffenen ein Verfahren vor dem EGMR ein.
Die Beschwerdeführenden machten geltend, die belgischen Behörden hätten durch die Ablehnung der Visaanträge nationale Entscheidungen getroffen und sie damit der belgischen Gerichtsbarkeit unterstellt. Durch die Ablehnung der Visaanträge hätte der belgische Staat sie aufgrund des Krieges und der humanitären Bedingungen in Aleppo einer Situation überlassen, die mit Art. 3 EMRK unvereinbar sei, ohne die Möglichkeit zu schaffen, hiergegen wirksam Abhilfe zu schaffen. Dabei sei auch das Recht auf eine wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK verletzt worden. Zudem machten sie eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren aus Art. 6 EMRK wegen der fehlenden Umsetzung der Entscheidung der Berufungsinstanz geltend.
Der Gerichtshof entschied, dass die Beschwerdeführenden sich nicht unter belgischer Gerichtsbarkeit befanden und daher keine Verletzung von Art. 3 und Art. 13 EMRK geltend machen konnten. Die bloße Tatsache, dass eine Person in einem Vertragsstaat, zu dem sie keine weitere Verbindung hat, ein Verfahren einleitet, reiche nicht aus, um eine Gerichtsbarkeit dieses Staates über sie zu begründen.
Dabei verwies der EGMR zunächst auf seine bisherige Rechtsprechung zur extraterritorialen Anwendbarkeit der EMRK, wonach Art. 1 EMRK deren Anwendungsbereich grundsätzlich auf Personen beschränke, die der Gerichtsbarkeit der EMRK-Vertragsstaaten unterstehen. Das Kriterium hierfür sei nach völkerrechtlichen Grundsätzen territorialer Natur und beziehe sich somit auf staatliche Handlungen, die im Hoheitsgebiet des jeweiligen Staates ausgeübt werden. Ausnahmsweise könne sich aber auch ein extraterritorialer Anwendungsbereich ergeben, wenn Vertragsstaaten Handlungen außerhalb ihres Hoheitsgebietes vornehmen. Dabei müsse allerdings eine Abgrenzung zu solchen Fällen erfolgen, die lediglich einen internationalen Bezug hätten.
Kriterium für eine solche Feststellung sei, ob außergewöhnliche Umstände vorlagen, die zu einer extraterritorialen Anwendbarkeit der EMRK führen. Solche könnten gegeben sein, wenn über die betroffene Person oder über das fremde Staatsgebiet Staatsgewalt ausgeübt wurde (vgl Rs. Al-Skeini u. a. gg. Großbritannien, Nr. 55721/07).
Solche Umstände seien im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Zwar hätten die belgischen Behörden bei der Entscheidung über die Visaanträge eine öffentliche Befugnis ausgeübt, indem sie über die Bedingungen für die Einreise in das belgische Hoheitsgebiet entschieden. Dies allein reiche jedoch nicht aus. Es fehle an einer extraterritorialen Verbindung zwischen den Betroffenen und Belgien. Die Beschwerdeführenden seien keine belgischen Staatsangehörigen, die den Schutz ihrer Botschaft in Anspruch nehmen wollten. Die diplomatische Vertretung Belgiens habe auch keine faktische Kontrolle über sie ausgeübt. Vielmehr hätten die Betroffenen sich frei entschieden, Visaanträge in der belgischen Botschaft in Beirut einzureichen, wie sie es auch in jeder anderen Auslandsvertretung eines anderen Landes hätten tun können. Sie hätten die Botschaft jederzeit verlassen können.
Der EGMR ist der Auffassung, dass eine über diese Grundsätze hinausgehende Erweiterung des Anwendungsbereichs der EMRK gegen das völkerrechtliche Prinzip verstoßen würde, wonach Vertragsstaaten das Recht haben, die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von anderen Staatsangehörigen zu kontrollieren (vgl. EGMR, Entscheidung vom 27.5.2008 – 26565/05, N. gg. Großbritannien – asyl.net: M13624; EGMR, Urteil vom 14.3.2017 – 47287/15 – Ilias und Ahmed gg. Ungarn (engl.) – asyl.net: M24824). Würde allein durch einen Besuch der Botschaft und einen Visumsantrag die Gerichtsbarkeit begründet, könnten Individuen auf der ganzen Welt durch ihr Handeln den Anwendungsbereich der EMRK selbst bestimmen. Damit würde eine unbegrenzte Verpflichtung der Vertragsstaaten geschaffen, Personen die Einreise zu gestatten, die außerhalb ihrer Gerichtsbarkeit Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind.
Die fehlende Gerichtsbarkeit im vorliegenden Fall habe jedoch keine Auswirkungen auf mögliche Regelungen von Staaten, die den Zugang zu Asylverfahren durch ihre Auslandsvertretungen gewähren würden.
Der Gerichtshof entschied zudem, dass auch keine Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) vorliege. Die begehrte Einreise in belgisches Territorium, die sich aus der Erteilung der Visa ergeben hätte, begründe kein ziviles Recht im Sinne dieser Norm. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs fallen die Bereiche Einreise, Aufenthalt und Abschiebung nicht in deren Anwendungsbereich. Nichts anderes ergebe sich daraus, dass die belgischen Gerichte eine Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK nicht bestritten hätten. Denn die Konvention hindere die Vertragsstaaten nicht daran, mehr Rechte zu gewähren als sie garantiert.
Der EGMR erklärte die Beschwerde deshalb mangels Anwendbarkeit der EMRK für unzulässig.
Beschluss des EGMR vom 08.10.2019, Nr. 15428/16 (Art. 10 EMRK)
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 1-2/2020
In diesem Fall stellte der EGMR fest, dass die Verweigerung des Zugangs eines Journalisten zu einem ungarischen Aufnahmezentrum für Asylsuchende einen Verstoß gegen die Meinungsäußerungsfreiheit darstellt.
Ein Journalist hatte bei der ungarischen Immigrationsbehörde einen Antrag auf Zutritt zum Aufnahmezentrum Debrecen gestellt, um einen Bericht über die dortigen Lebensbedingungen zu schreiben. Dort untergebrachte Personen sollten nur mit ihrem Einverständnis interviewt oder fotografiert werden. Die Presseabteilung der Behörde wies seinen Antrag ab. Dabei verwies sie auf die Persönlichkeitsrechte derjenigen, die im Lager untergebracht sind. Eine gerichtliche Prüfung konnte der Betroffene nicht erreichen.
Vor dem EGMR machte er eine Verletzung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK geltend. Durch die Zugangsverweigerung sei ihm verwehrt worden, aus erster Hand über das Lager zu berichten. Daher sei sein in Art. 10 EMRK garantiertes Recht, Informationen ohne behördliche Eingriffe empfangen und weitergeben zu dürfen, verletzt worden.
Der Gerichtshof verwies zunächst auf seine bisherige Rechtsprechung, nach der auch die journalistische Recherche von der durch Art. 10 EMRK umfassten Pressefreiheit geschützt ist. Grundsätzlich könne allerdings auch die Beschränkung des Zugangs zum Aufnahmezentrum im Rahmen des Gesetzesvorbehalts des Art. 10 Abs. 2 EMRK zulässig sein. Demnach dürfen die Staaten gesetzliche Einschränkungen vornehmen, um die Rechte anderer Personen zu schützen. Dies sei hier der Fall, da das legitime Ziel verfolgt werde, die Privatsphäre der im Lager untergebrachten Personen zu wahren.
Andererseits bestand laut Gerichtshof an der Berichterstattung zu den Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende ein öffentliches Interesse. Dieses sei besonders relevant, wenn es um den staatlichen Umgang mit vulnerablen Gruppen gehe, da hier die Medien mit ihrer Funktion als »Wachhund« eine besondere Rolle einnehmen würden (so schon in der Rechtssache Pentikäinen gg. Finnland, Nr. 11882/10). Vorliegend seien Informationen zur Unterbringung von Schutzsuchenden in staatlichen Aufnahmezentren unstreitig als berichtenswert anzusehen. Diese Informationen seien von großer öffentlicher Bedeutung, da sie im Kontext der Frage stünden, ob internationalen Verpflichtungen gegenüber Schutzsuchenden entsprochen werde und ob die Menschenrechte dieser vulnerablen Gruppe gewährleistet würden.
Bei Angelegenheiten von öffentlichem Interesse besteht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs wenig Spielraum für Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 Abs. 2 EMRK (vgl. Rechtssache Bédat gg. die Schweiz, Nr. 56925/08). Diesbezüglich wertete der Gerichtshof rechtsvergleichende Daten aus und kam zu dem Ergebnis, dass beim Zugang zu Einrichtungen für Schutzsuchende kein europäischer Konsens bestehe. Daher könne ein etwas größerer Ermessensspielraum in Kauf genommen werden als ansonsten bei Beschränkungen von Veröffentlichungen.
Auch unter Beachtung dieses Spielraums kam der EGMR jedoch zu dem Schluss, dass die behördliche Begründung der Zugangsverweigerung nicht ausreichend war, um den Eingriff in die Pressefreiheit zu rechtfertigen. Zwar sei sie aus dem stichhaltigen Grund des Schutzes der Rechte der Untergebrachten erfolgt, doch sei nicht berücksichtigt worden, ob die Verweigerung praktisch tatsächlich notwendig war. Die Recherche sei nicht aus sensationellen oder ähnlichen Gründen beabsichtigt gewesen, sondern sollte dem Zweck dienen, im öffentlichen Interesse über die Lebensbedingungen von Schutzsuchenden und deren Behandlung durch die ungarischen Behörden zu berichten. Bei der Ablehnung des Antrags auf Zugang zur Einrichtung sei nicht berücksichtigt worden, dass insbesondere Fotos von Bewohner*innen nur mit deren Zustimmung gemacht werden sollten. Auch sei nicht begründet worden, inwiefern die geplante Recherche die Sicherheit der im Lager untergebrachten Personen gefährdet hätte.
Auch die Verfügbarkeit anderer Rechercheformen, etwa durch Informationen von Quellen außerhalb des Zentrums, rechtfertigt laut Gerichtshof nicht die Zutrittsverweigerung. Art. 10 EMRK schütze nicht nur den Inhalt der journalistischen Tätigkeit, sondern auch, welche Techniken der Berichterstattung gewählt würden. Das Interesse daran, aus erster Hand von bestimmten Situationen zu berichten, könne nicht ersetzt werden.
Grundsätzlich muss laut EGMR angesichts der Bedeutung der Medien in einer demokratischen Gesellschaft und der Berichterstattung über im öffentlichen Interesse liegende Angelegenheiten die Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit überzeugend begründet werden. Im vorliegenden Fall sei dies nicht ausreichend erfolgt. Dementsprechend stellte die Kammer des Gerichtshofs in diesem Fall einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest.
Auf Antrag Ungarns wurde die Rechtssache an die Große Kammer des EGMR verwiesen.
Beschluss vom 25.6.2019, Nr. 32969/19 (Art. 2 und 3 EMRK)
Der EGMR lehnte es in diesem Fall im Eilverfahren ab die italienischen Behörden zu verpflichten die Menschen an Bord des Rettungsschiffs „Sea-Watch 3“ an Land zu lassen.
Die Kapitänin des Schiffs und etwa 40 Personen, die aus Seenot gerettet worden waren, hatten beim Straßburger Gerichtshof beantragt im Wege des Eilrechtsschutzes Italien zu verpflichten sie am nächstgelegenen Hafen der Insel Lampedusa anlegen und an Land zu lassen. Laut der Hilfsorganisation Sea-Watch waren 53 Personen am 12. Juni 2019 in internationalen Gewässern vor der Libyschen Küste aus einem Schlauchboot geborgen worden. Zum Zeitpunkt des Eilantrags befand sich das Schiff bereits seit anderthalb Wochen vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa, allerdings noch nicht in italienischem Gewässer, da Italien die Einfahrt aufgrund eines hastig erlassenen Dekrets unter Drohung von Geldbußen und Strafverfolgung verweigerte. Nach einer Gesundheitsinspektion durch die italienischen Behörden seien zuvor 11 Personen als Notfälle vom Schiff evakuiert worden. Laut Sea-Watch befanden sich unter den verbleibenden 42 geretteten Personen an Bord drei unbegleitete Minderjährige.
Aus einer Pressemitteilung des EGMR geht hervor, dass die Betroffenen zunächst im Eilverfahren ein regionales italienisches Verwaltungsgericht angerufen hatten. Dieses lehnte es aber ab das Dekret zu suspendieren und befand keine dringlichen Gründe, um eine Eilentscheidung zu rechtfertigen.
Vor dem EGMR machten die Beschwerdeführenden geltend, dass eine Verletzung ihres Rechts auf Leben nach Art. 2 EMRK und des Verbots der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nach Art. 3 EMRK drohe, wenn sie weiterhin gezwungen werden an Bord zu bleiben. Sie beantragten in Italien an Land gelassen zu werden, um Asylanträge stellen zu können, oder zumindest an einen sicheren Ort gebracht zu werden.
Der EGMR lehnte den Antrag an Land gelassen zu werden ab. Allerdings wies der Gerichtshof in der Kammerentscheidung darauf hin, dass darauf vertraut werde, dass die italienische Regierung weiterhin alle notwendigen Maßnahmen ergreife, um vulnerable Personen an Bord entsprechend ihres Alters und ihrer Gesundheitssituation zu versorgen.
Die Entscheidung erging als vorläufige Maßnahme nach Art. 39 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs im Eilverfahren, welche dazu dienen soll die unmittelbare Gefahr eines nicht wiedergutzumachenden Schadens von Betroffenen abzuwenden. Solche Eilmaßnahmen werden nur im Ausnahmefall getroffen und sollen eine spätere Entscheidung über die Zulässigkeit oder Begründetheit des fraglichen Falls nicht vorwegnehmen (siehe deutsches Factsheet des EGMR auf echr.coe.int und ausführlich hierzu Nora Markard in Asylmagazin 1–2/2012). Im Januar dieses Jahres hatte der EGMR bereits eine solche Eilentscheidung bezüglich der Sea-Watch 3 getroffen, die zu dem Zeitpunkt mit 47 aus Seenot geretteten Personen knapp zwei Wochen vor der sizilianischen Küste ausharrte ohne anlegen zu dürfen (siehe Asylmagazin 1-2/2019, asyl.net Meldung vom 30.1.2019 und unter Recht / EGMR-Entscheidungen / Asylverfahren in Europa). Auch damals hatte der Gerichtshof nur die Versorgung der Geretteten angeordnet, nicht aber die Verpflichtung Italiens sie an Land zu lassen.
Das internationale Seerecht sieht wohl keine Pflicht der Küstenstaaten zur Aufnahme von aus Seenot Geretteten vor, obwohl eine Rettungspflicht auf See besteht. In einem taz-Interview (https://taz.de/Seerechtsprofessorin-ueberSeenotrettung/!5609148/) weist die Seerechtsprofessorin Nele Matz-Lück darauf hin, dass dies als Konstruktionsfehler des Seerechts kritisiert wird. Das Recht auf einen Nothafen gelte allerdings nur wenn das rettende Schiff selbst in Seenot wäre. Solange Italien in konkreten Notfällen helfe, könne es frei entscheiden, welche Schiffe es in seine Häfen einlaufen und welche Personen es an Land lasse.
EGMR, Beschlüsse vom 29.1.2019, Nr. 5504/19 und 5604/19 (Art. 3 und 5 EMRK)
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 1-2/2019:
Der EGMR ordnete in diesem Fall im Eilverfahren an, dass die italienischen Behörden die Menschen an Bord eines Rettungsschiffs der deutschen Hilfsorganisation Sea‑Watch versorgen müssen, welches vor der sizilianischen Küste ausharrte, da ihm das Anlegen verweigert wurde.
Der Fall betrifft das Rettungsschiff "Sea-Watch 3", welches laut Medienberichten etwa 10 Tage zuvor 47 Geflüchtete vor der libyschen Küste geborgen und die sizilianische Küste angesteuert hatte. Italien verweigerte dem Schiff die Einfahrt in den Hafen von Syrakus.
Aus einer Pressemitteilung des Straßburger Gerichtshofs geht hervor, dass zunächst der Kapitän des Schiffs, der Leiter der Rettungsmission und eine aufgenommene Person Eilrechtsschutz vor dem EGMR beantragt hatten und sodann auch für die 15 auf dem Schiff befindlichen unbegleiteten Minderjährigen ein Eilantrag gestellt wurde. Die Beschwerdeführenden machten vor dem EGMR geltend, ohne Rechtsgrundlage gezwungen zu werden, an Bord zu bleiben. Sie beklagten dadurch eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung und die Gefahr, ohne Prüfung ihrer jeweiligen Situation nach Libyen zurückgeführt zu werden. Es wurde beantragt, alle 47 aus dem Mittelmeer geretteten Personen an Land gehen zu lassen, da die Situation an Bord und der Gesundheitszustand der Aufgenommenen prekär sei.
Der EGMR lehnte den Antrag, an Land gelassen zu werden, ab, ordnete aber an, dass die italienische Regierung schnellstmöglich alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen habe, um den Betroffenen angemessene medizinische Versorgung, Nahrung, Wasser und Grundbedarfe zur Verfügung zu stellen. In Bezug auf die unbegleiteten Minderjährigen wurde Italien dazu verpflichtet, angemessene rechtliche Unterstützung (also Vormundschaft) zu gewähren. Zudem solle der Gerichtshof über die Situation der Betroffenen auf dem Laufenden gehalten werden.
Die Entscheidung erging als vorläufige Maßnahme nach Art. 39 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs im Eilverfahren. Diese Eilmaßnahmen sollen dazu dienen, die unmittelbare Gefahr eines nicht wiedergutzumachenden Schadens abzuwenden. Sie werden nur in Ausnahmefällen getroffen und sollen eine spätere Entscheidung über die Zulässigkeit oder Begründetheit des fraglichen Falls nicht vorwegnehmen (siehe deutsches Factsheet des EGMR auf echr.coe.int, ausführlich hierzu: Nora Markard, "Die "Rule 39" des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte", Asylmagazin 1–2/2012, S. 3 ff.).
Urteil des EGMR vom 24.5.2018, Nr. 68862/13 (Art. 3 EMRK)
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 10-11/2018:
Der EGMR stellte in dieser Entscheidung fest, dass die Behandlung einer Asylsuchenden und ihrer drei Kinder, die in Frankreich zunächst nur notdürftig versorgt wurden, keine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellte.
Das Urteil betrifft eine kongolesische Staatsangehörige und ihre drei kleinen Kinder, die im August 2013 in Frankreich einreisten und versuchten, dort einen Asylantrag zu stellen. Sie wurden zunächst jedoch nicht registriert, sondern ihnen wurde lediglich mitgeteilt, dass sie in etwa drei Monaten einen Termin für die Antragstellung hätten. Aufgrund der fehlenden Registrierung konnten sie nicht wie andere Asylsuchende materielle oder finanzielle Unterstützung durch den französischen Staat erhalten. Erfolglos begehrten sie die Aufnahme als Asylsuchende beim Verwaltungsgericht Dijon und beim französischen Staatsrat als dem obersten Verwaltungsgericht.
Vor dem EGMR machten die Beschwerdeführenden geltend, dass sie aufgrund der fehlenden Registrierung des Asylantrags nicht in eine Aufnahmeeinrichtung aufgenommen worden seien und daher einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt gewesen seien.
Der Gerichtshof wies darauf hin, dass die Betroffenen in der Einrichtung eines vollständig aus staatlichen Mitteln finanzierten Vereins untergebracht wurden und dort Abendessen und Frühstück erhielten. Er stellte fest, dass die Betroffenen zwar nur über Nacht in der Unterkunft übernachten konnten, zwei der Kinder jedoch tagsüber den Kindergarten besuchten. Die Betroffenen hätten auch eine öffentlich finanzierte medizinische Versorgung erhalten und seien von Nichtregierungsorganisationen unterstützt worden. Daher könne den französischen Behörden nach Ansicht des EGMR nicht vorgeworfen werden, dass sie der Situation der Betroffenen gegenüber gleichgültig geblieben seien. Deren Grundbedürfnisse (Nahrung, Hygiene und Wohnen) seien gedeckt worden.
Im Gegensatz zu den Asylsuchenden, die in der Rechtssache M. S. S. gegen Belgien und Griechenland (Urteil vom 21.1.2011, asyl.net: M18077) betroffen waren, habe für die Beschwerdeführenden im vorliegenden Fall die Aussicht bestanden, dass sich ihre Situation verbessern würde, da sie einen Termin für die Asylantragstellung gehabt hätten. Daher stellte der EGMR fest, dass die Situation der Betroffenen nicht das erforderliche Maß an Schwere erreichte, um eine Verletzung von Art. 3 EMRK darzustellen.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 11/2016:
Der EGMR befand in diesem Fall das Asylverfahren in Griechenland für unzureichend, da die überlange Verfahrensdauer den Betroffenen in seinen Rechten verletzte.
Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger, der seit 2002 auf eine Entscheidung der griechischen Behörden über seinen Asylantrag wartete. Er machte vor dem EGMR geltend, in seinem Recht auf Privat- und Familienleben gemäß Art. 8 EMRK verletzt zu sein, da er seit 12 Jahren mit unsicherem Aufenthaltsstatus in Griechenland lebte. Ferner drohe ihm bei Abschiebung in die Türkei unmenschliche Behandlung i. S. d. Art. 3 EMRK. Schließlich habe er keine Möglichkeit gehabt, gegen die (drohenden) Rechtsverletzungen wirksame Beschwerde i. S. d. Art. 13 EMRK einzulegen.
Der EGMR gab der Beschwerde statt und stellte eine Verletzung der o. g. Rechte fest.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 10/2016:
Der EGMR befand in diesem Fall, dass die Haftprüfung durch französische Gerichte nicht ausreichend war, da diese nach nationalem Recht die Umstände der Festnahme nicht untersuchen konnten.
Der Beschwerdeführer ist tunesischer Staatsangehöriger. Er wurde erstmals kurz nach seiner Einreise im März 2011 in Abschiebungshaft genommen. Die Haft wurde aber nicht verlängert und der Betroffene wurde freigelassen. Im Oktober 2011 wurde er nochmals festgenommen und seine Inhaftierung zum Zweck der Abschiebung wurde erneut angeordnet. Hiergegen legte der Betroffene Rechtsbehelf ein. Er wurde aber noch vor der vom Verwaltungsgericht angesetzten mündlichen Verhandlung nach Tunesien abgeschoben. In der Folge befassten sich in Frankreich weitere Instanzen mit der Frage, ob Inhaftierung und Abschiebung unter diesen Umständen rechtmäßig waren. Ein Berufungsgericht sah in der Tatsache, dass ein Rechtsbehelf gegen die Inhaftierung den Vollzug der Abschiebung nicht hindert, eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (Recht auf gerichtliche Haftprüfung). Der Conseil d'État (Staatsrat) hob aber als oberstes Verwaltungsgericht diese Entscheidung auf, da sich aus Art. 5 Abs. 4 EMRK kein Suspensiveffekt von Rechtsbehelfen gegen Abschiebungsentscheidungen ergebe und der Vollzug von Abschiebungen nicht erschwert werden dürfe.
Vor dem EGMR machte der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK geltend, da ihm sein Recht auf gerichtliche Überprüfung der Haft genommen worden sei. Dabei stellte er auch darauf ab, dass das Verwaltungsgericht die Haft nur zum Teil überprüfen konnte, da es die Umstände der Festnahme nicht würdigen durfte.
Angesichts der kurzen Dauer des Freiheitsentzugs prüfte der EGMR nicht dessen Rechtmäßigkeit, sondern beschränkte sich auf die Frage, ob dem Beschwerdeführer ein effektiver Rechtsbehelf zur Verfügung stand. Zunächst wies der Gerichtshof darauf hin, dass er Rechtsbehelfen gegen Freiheitsentziehungen in Abschiebungsverfahren nach Art. 5 Abs. 1 Bst. f EMRK nie einen Suspensiveffekt zugesprochen habe. Dies ergebe sich aus dem Zweck dieses Haftgrundes, die Abschiebung Betroffener zu ermöglichen. Allerdings verwies der Gerichtshof auf seine Entscheidung Conka gegen Belgien vom 5.2.2002, wonach im Rahmen der Haftprüfung vollumfänglich zu kontrollieren sei, ob die Freiheitsentziehung auf »gesetzlich« vorgeschriebene Weise i. S. d. Art. 5 Abs. 1 EMRK erfolgt sei. Vorliegend habe das Verwaltungsgericht lediglich die Haftanordnung überprüfen dürfen, nicht jedoch die Rechtmäßigkeit der Festnahme. Diese eingeschränkte gerichtliche Kontrolle genügt laut EGMR nicht den Anforderungen des Art. 5 Abs. 4 EMRK an einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine Inhaftierung, die wegen des in Art. 5 Abs. 1 Bst. f EMRK genannten Haftgrunds erfolgte.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 8/2016:
Der EGMR befand in diesem Fall, dass die schweizerischen Behörden vor der Einfrierung von Vermögen aufgrund von UN-Sanktionen verpflichtet waren, die Eintragung der Betroffenen in Sanktionslisten des UN-Sicherheitsrats zu prüfen. Bei den Beschwerdeführenden handelt es sich um einen in Jordanien lebenden irakischen Staatsangehörigen und seine Firma mit Sitz in Panama. Laut dem Sicherheitsrat der UN war der Beschwerdeführer unter dem Regime Saddam Husseins für die Finanzen der irakischen Geheimdienste zuständig.
Bereits 1990 hatte der UN-Sicherheitsrat nach der irakischen Invasion in Kuwait alle Staaten aufgefordert, ein Embargo gegen den Irak zu verhängen, woraufhin die Schweiz eine entsprechende Verordnung erließ. Nach der Absetzung Saddam Husseins 2003 wurden die Mitgliedstaaten durch eine weitere Resolution des UN-Sicherheitsrats (1483 (2003)) dazu aufgefordert, Vermögen von hohen Amtspersonen des früheren irakischen Regimes einzuziehen und an einen Entwicklungsfonds für den Irak zu übertragen.
Der für die Erstellung von Sanktionslisten eingerichtete UN-Sanktionsausschuss trug 2004 die Beschwerdeführenden darin ein. Daraufhin verfügte die nach der Schweizer Verordnung zuständige Behörde die Einziehung des bereits seit 1990 eingefrorenen Vermögens der damals noch in Genf ansässigen Beschwerdeführenden in Höhe von mehreren hundert Millionen Schweizer Franken. Hiergegen erhoben die Betroffenen drei Beschwerden beim schweizerischen Bundesgericht und machten geltend, in ihrem Recht auf Eigentum und im Zuge der Eintragung in die UN-Sanktionslisten auch in ihren Verfahrensrechten verletzt worden zu sein. Das Bundesgericht beschränkte sich auf die Prüfung, ob die Beschwerdeführenden tatsächlich auf den Listen standen, da es meinte, die auf UN-Ebene erfolgte Listeneintragung nicht inhaltlich überprüfen zu können. Es wies die Beschwerden ab. Ein Antrag der Betroffenen an die UN auf Löschung von den Listen blieb erfolglos.
Vor dem EGMR machten die Beschwerdeführenden eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf Zugang zu einem Gericht) geltend, weil ihnen gegen die Einziehung ihres Vermögens kein effektiver Rechtsschutz zur Verfügung gestanden habe. Eine Kammer des EGMR stellte eine entsprechende Rechtsverletzung bereits 2013 fest. Auf Antrag der schweizerischen Regierung wurde die Rechtssache an die Große Kammer des Gerichtshofs verwiesen.
Die Große Kammer stellte nun fest, dass durch die Weigerung des Schweizer Gerichts, den Fall inhaltlich zu prüfen, unstreitig eine Einschränkung des Rechts auf Zugang zu einem Gericht erfolgte. Bei der Frage, ob diese gerechtfertigt war, wies der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass diese Weigerung ein legitimes Ziel, nämlich die wirksame Umsetzung der UN-Resolution verfolgte. Da die Resolution aber nicht ausdrücklich eine gerichtliche Kontrolle ausschließe, seien nationale Gerichte ermächtigt, Eintragungen in die Sanktionslisten zu überprüfen, insbesondere da der Sicherheitsrat nicht beabsichtigen könne, den Mitgliedsstaaten menschenrechtswidrige Verpflichtungen aufzuerlegen. Das UN-Sanktionssystem und die Verfahren zur Eintragung und zur Löschung von Betroffenen auf den Sanktionslisten war laut dem EGMR wiederholter starker Kritik, etwa durch UN-Sonderberichterstatter und EuGH, ausgesetzt. Auch die 2006 eingerichtete Möglichkeit, die Löschung von den Listen auf UN-Ebene zu beantragen, gewährt laut EGMR keinen ausreichenden Rechtsschutz. Dies hatte die Schweizer Regierung selbst auch eingestanden. Daher kam der EGMR zu dem Schluss, dass auf nationalstaatlicher Ebene eine angemessene gerichtliche Überprüfung der Eintragung der Beschwerdeführenden auf den Sanktionslisten hätte erfolgen müssen. Angesichts dessen stellte der EGMR eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK fest.
Für asylrechtliche Fälle kann diese Entscheidung von Bedeutung sein, wenn es darum geht, ob nationalstaatliche Gerichte Entscheidungen von UN-Institutionen überprüfen dürfen. Dies könnte für die Prüfung der Flüchtlingseigenschaft relevant sein, wenn Asylsuchende z. B. auf UN-Listen als Terrorverdächtige aufgeführt werden oder wenn sie die Teilnahme an einem militärischen Einsatz unter UN-Mandat verweigert haben (vgl. EuGH, Rechtssache Shepherd gg. Deutschland, C-472/13, asyl.net: M 22674).
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 4-5/2016:
In diesem Fall wurde Schweden von der Großen Kammer des EGMR verurteilt, weil seine Behörden die Konversion des Beschwerdeführers zum Christentum im Asylverfahren nicht berücksichtigt hatten. Der iranische Staatsangehörige war 2009 kurz nach seiner Ankunft in Schweden zum christlichen Glauben übergetreten, hatte aber im Asylverfahren nur seine politischen Aktivitäten als verfolgungsrelevant geltend gemacht. Bei Befragungen gab er an, sich nicht zu seiner Konversion äußern zu wollen, da dies eine private Angelegenheit sei.
Die schwedische Migrationsbehörde prüfte daraufhin seinen Glaubenswechsel nicht eingehend und lehnte den Asylantrag mit der Begründung ab, dass ihm aufgrund seiner gering ausgeprägten politischen Aktivitäten keine Verfolgung durch iranische Behörden drohe. Die mit der Sache befassten Gerichte bestätigten diese Entscheidung.
Gegen die drohende Abschiebung machte der Betroffene dann doch seine Konversion geltend und forderte, dass diese im Rahmen des Wiederaufgreifens als neue Tatsache berücksichtigt werden sollte. Die erneute Prüfung seiner Verfolgungsgründe wurde von der Behörde und anschließend den Gerichten aber abgelehnt.
Im Verfahren vor dem EGMR machte der Beschwerdeführer geltend, dass seine Abschiebung in den Iran eine Verletzung von Art. 2 (Recht auf Leben) und Art. 3 EMRK (Folterverbot) darstellen würde, da ihm dort aufgrund seiner politischen Aktivitäten und seines Glaubenswechsels unverhältnismäßige Strafverfolgung oder gar ein Todesurteil drohen würden.
Der Gerichtshof bestätigte die Feststellungen der nationalen Behörden bezüglich der politischen Aktivitäten des Beschwerdeführers. Im Hinblick auf die Konversion des Beschwerdeführers hielt er aber eine erneute Überprüfung der Verfolgungsgefahr für notwendig, unabhängig davon, ob sich der Beschwerdeführer im Asylverfahren darauf berufen hatte. Dies begründete der Gerichtshof mit der absoluten Geltung der betroffenen EMRK-Rechte. Die Behörden seien aufgrund ihrer Kenntnis von dem Religionswechsel von Amts wegen verpflichtet gewesen, die Folgen einer Rückkehr des Beschwerdeführers in den Iran zu prüfen. Der EGMR stellte fest, dass es zu einer Verletzung von Art. 2 und Art. 3 EMRK kommen könnte, wenn der Beschwerdeführer ohne ausführliche Prüfung der Folgen des Glaubenswechsels in den Iran abgeschoben werden würde.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 3/2016:
Im Fall von Amadou gegen Griechenland war der Beschwerdeführer am 31. Juli 2010 nach Griechenland eingereist und durch die Grenzpolizei verhaftet worden. Trotz eines Asylgesuchs wurde der Beschwerdeführer wegen illegaler Einreise zu einer dreimonatigen Freiheitsstrafe verurteilt, die er in der Aspropyrgos-Haftanstalt absitzen musste. Im September 2010 wurde er, nachdem er mit Hilfe des Flüchtlingsrats einen Asylantrag gestellt hatte, aus der Haft entlassen. Im November 2010 beantragte der Beschwerdeführer beim Sozialministerium seine Unterbringung oder finanzielle Unterstützung. Er erhielt keine Antwort durch das Ministerium und wurde obdachlos, ohne Zugang zu Nahrung, Wasser und sanitären Einrichtungen.
Auf der Grundlage seiner vorhergehenden Rechtsprechung in Bezug auf die Hafteinrichtungen Fylakio und Aspropyrgos stellte der EGMR fest, dass die Haft des Beschwerdeführers unter unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen erfolgte und daher eine Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot der Folter sowie der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) darstellte. Wegen der Obdachlosigkeit stützte sich der EGMR auf seine Entscheidung M. S. S. gegen Belgien und Griechenland vom 21. Januar 2011, in der er eine Verletzung von Art. 3 EMRK angenommen hatte. Dabei ging es um Asylsuchende, die während ihres Verfahrens in extremer Armut leben mussten. Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass Griechenland seine Verpflichtungen aus der EU-Aufnahmerichtlinie für eine menschenrechtskonforme Behandlung nur durch eine schnelle Prüfung des Asylantrags hätte umsetzen können. Die Bearbeitung des Asylantrags hatte drei Jahre gedauert. Dementsprechend lag laut EGMR sowohl aufgrund der mangelnden Unterstützung während des Verfahrens als auch wegen dessen schleppender Durchführung eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch den griechischen Staat vor.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 3/2016:
Im Fall Turgut Alpar gegen die Türkei wurde der türkische Staat wegen einer Verletzung von Art. 3 EMRK verurteilt. Dabei ging es in erster Linie um die Aufklärungspflichten des Staates hinsichtlich von Folter- oder Misshandlungsvorwürfen. Der Beschwerdeführer hatte drei Polizeibeamte angezeigt, denen er Beleidigungen und Misshandlungen vorwarf. Sie hatten ihn auf eine Polizeiwache mitgenommen, wo seine Identität überprüft werden sollte. Da der Beschwerdeführer auf der Wache auch Polizeibeamte beleidigt hatte, wurde er zu einer zweimonatigen Haftstrafe verurteilt, die in eine Geldstrafe umgewandelt wurde. Aufgrund der Anzeige des Beschwerdeführers gegen die drei Polizeibeamten waren hingegen zunächst keine Ermittlungen aufgenommen worden. Diese wurden erst nach einer Beschwerde eingeleitet. Mehrere Jahre nach dem Vorfall wurde dann ein Verfahren gegen die beteiligten Polizeibeamten aus Mangel an Beweisen und wegen Zeitablaufs eingestellt.
Der Gerichtshof stellte fest, dass die türkischen Ermittlungsbehörden einen beteiligten Polizeibeamten zwei Monate nach der Anzeige befragt hatten. Ein weiterer wurde dagegen erst drei Jahre und drei Monate nach der Anzeige des Beschwerdeführers befragt. Nach nahezu fünf Jahren und sechs Monaten wurde dem Beschwerdeführer die Entscheidung mitgeteilt, dass die Ermittlungen eingestellt worden seien. Dabei wurden die Ausführungen des Beschwerdeführers laut EGMR durch die Staatsanwaltschaft ohne überzeugende rechtliche Begründung zurückgewiesen. Auf die in der Anzeige beschriebene Polizeigewalt anlässlich der Festnahme des Beschwerdeführers sei in der Einstellungsverfügung nicht eingegangen worden. Stattdessen sei ihm lediglich mitgeteilt worden, dass keine ausreichenden Beweise vorgelegen hätten. Der Gerichtshof stellte fest, dass es keine ausreichenden Ermittlungen auf die Anzeige des Beschwerdeführers gegeben hätte und sah deshalb eine Verletzung von Art. 3 EMRK.
Die Verurteilung der Türkei bezog sich allerdings nur auf die mangelnden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und nicht auf die Misshandlungen selbst: Hinsichtlich der Verletzungen des Beschwerdeführers, auf die dieser hingewiesen hatte, konnte er den EGMR nicht im notwendigen Maße überzeugen, dass diese durch den Einsatz der Polizeibeamten entstanden waren. Es blieb für den EGMR denkbar, dass die Verletzungen bereits vor der Festnahme des Beschwerdeführers vorgelegen haben könnten.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 1-2/2016:
Der Fall betrifft die Klage einer Nigerianerin, die in Griechenland zur Prostitution gezwungen worden war. Ihr war eine illegale Beschäftigung in einer Bar gegen die Zahlung einer hohen Summe versprochen worden. Nach ihrer Ankunft wurde ihr Reisepass von dem Menschenhändler einbehalten, der sie für zwei Jahre zur Prostitution zwang. Nachdem sie sich an eine NGO gewandt hatte, wurde sie von den Behörden als Opfer von Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung anerkannt. Sie musste allerdings neun Monate auf die Schutzgewährung warten. Die Verzögerungen ergaben sich daraus, dass die Staatsanwaltschaft Zeugenaussagen nicht beachtet hatte und erst nach einer erneuten Antragstellung der Schutzstatus zuerkannt wurde.
Der Gerichtshof stellte eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 EMRK (Verbot von Sklaverei und Arbeitszwang) sowie Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf faires Gehör innerhalb einer angemessenen Zeit) und Art. 13 (Recht auf effektiven Rechtsschutz) fest.
Der Gerichtshof hob hervor, dass insbesondere Art. 4 EMRK für den Schutz von Menschenhandelsopfern eine Reihe von positiven Verpflichtungen für den Staat festsetze. Zwar habe Griechenland die relevanten Verpflichtungen, die sich aus internationalen Vereinbarungen wie dem Palermo‑Protokoll ergeben, in nationales Recht umgesetzt. Art. 4 EMRK werde aber auch dann verletzt, wenn der Staat keine unverzüglichen, konkreten Schritte ergreife, um Opfer des Menschenhandels zu schützen. Neben den Verzögerungen bei der Gewährung eines Schutzstatus war für den EGMR in diesem Zusammenhang auch entscheidend, dass die Ermittlungen gegen den Menschenhändler über vier Jahre gedauert hatten, bevor gerichtliche Schritte ergriffen wurden. Die Verfahrensverzögerungen und die Fehler des griechischen Staates, ein unverzügliches Verfahren gegen die Täter durchzuführen, führten somit zur Verurteilung wegen einer Verletzung von Art. 4 EMRK. Der Klägerin wurde eine Schadensersatzsumme in Höhe von 12 000 € zugesprochen.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 1-2/2016:
Dieser Fall betrifft ein Ehepaar mit russischer Staatsangehörigkeit, das in Belgien Asyl beantragt hatte. Sie begründeten ihren Antrag mit der Gefährdung durch eine »Blutfehde«. Die zuständige Behörde lehnte den Antrag im Jahr 2007 ab, da eine Blutfehde grundsätzlich keinen Grund für asylrechtlichen Schutz darstelle. In der Beschwerdeinstanz wurde diese Entscheidung mit dem Hinweis bestätigt, dass die Angaben der Beschwerdeführer unglaubhaft gewesen wären.
Nach Rechtskraft erhielten die Beschwerdeführer eine Ausreiseaufforderung. In der Folge stellten sie drei weitere Asylanträge. Die Asylbehörde lehnte eine inhaltliche Prüfung der Folgeanträge ab, da die Beschwerdeführer keine neuen Beweise oder andere Gründe vorgebracht hätten, die auf eine begründete Angst vor Verfolgung hingedeutet hätten. Die Entscheidungen wurden vom höchsten belgischen Gericht in einem Eilverfahren bestätigt.
Im September 2012 gewährte der EGMR Eilrechtsschutz gegen die drohende Abschiebung in die Russische Förderation. Die Beschwerdeführer hatten geltend gemacht, dass ihnen bei Rückkehr unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK drohen würde.
Der Gerichtshof stellte fest, dass sich die belgischen Organe bei den Entscheidungen, die Asylverfahren nicht wieder aufzunehmen, auf belgisches Recht stützen konnten. Dennoch sei diese Prüfung unzureichend gewesen, um einen effektiven Schutz vor möglichen Verletzungen von Art. 3 EMRK sicherzustellen. So hätten die belgischen Behörden neue Beweise und Tatsachen pauschal mit der Begründung abgelehnt, dass sie bereits in einem früheren Verfahren hätten vorgelegt werden können. Dabei hätten sie es unterlassen, die Relevanz, Echtheit oder die Bedeutung für das Verfahren zu prüfen. Die Begründung der Antragsteller, warum sie die Beweise nicht früher vorlegen konnten, sei von der Behörde nicht berücksichtigt worden. Dadurch sei eine unzumutbare Beweislast für die Antragsteller geschaffen worden.
Ohne eine Überprüfung der eingereichten Dokumente konnten die nationalen Behörden aber nicht mit der nötigen Sicherheit davon ausgehen, dass es bei einer Abschiebung in die Russische Föderation nicht zu Verletzungen von Art. 3 EMRK kommen würde. Dementsprechend lag eine Verletzung von Art. 3 EMRK vor.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 1-2/2016:
Die Beschwerdeführer in diesem Verfahren sind Somalier, die im August 2012 in Malta eintrafen und einen Asylantrag stellten. Sie wurden während ihres Asylverfahrens auf dem Gelände einer Kaserne inhaftiert. Die Beschwerdeführer gaben an, dass die Haftbedingungen eine Verletzung von Art. 3 EMRK dargestellt hätten, ihre überlange Haft willkürlich gewesen sei und sie keine effektiven Rechtsschutzmöglichkeiten gehabt hätten.
Der Gerichtshof lehnte zunächst den Einwand der maltesischen Regierung ab, wonach die Klage unzulässig sei, da der nationale Rechtsweg nicht ausgeschöpft worden sei. Er stützte sich dabei auf sein Urteil in der Sache Aden Ahmed gegen Malta (Urteil vom 23.7.2013 – Nr. 55352/12), in dem er festgestellt hatte, dass es keine ausreichenden nationalen Rechtsschutzmöglichkeiten in Malta gibt, um die Haftbedingungen anzugreifen. Entsprechend ließ er die Klage der beiden Beschwerdeführer zu.
Allerdings stellte der EGMR fest, dass die Überbelegung der Hafteinrichtungen in den hier relevanten Monaten nicht so gravierend gewesen sei, dass dies für sich genommen bereits eine Verletzung von Art. 3 EMRK dargestellt hätte. In der Haftanstalt habe es zahlreiche Verbesserungen im Vergleich zu früheren Zuständen gegeben und die Kläger hätten nicht nachgewiesen, dass ihnen medizinische Hilfe vorenthalten worden sei. Der Gerichtshof konnte daher keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK feststellen. In Bezug auf den mangelhaften Rechtsschutz gegen die Haftbedingungen stellte der Gerichtshof allerdings eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK fest. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Malta zwischenzeitlich sein Migrationsrecht reformiert hat und illegale Einreisende nicht mehr automatisch inhaftiert werden.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 1/2016:
Bei Z. H. und R. H. handelt es sich um zwei afghanische Staatsangehörige, die im Jahr 2010 im Iran religiös geheiratet hatten. Zum Zeitpunkt der Heirat war Z. H. 14 Jahre und R. H. 18 Jahre alt. Sie stellten im Jahr 2011 in der Schweiz Asylanträge. Diese wurden mit der Begründung abgelehnt, dass nach der Dublin II‑Verordnung Italien für die Asylverfahren zuständig sei, da die Beschwerdeführer dort bereits Asylanträge gestellt hatten.
Die Schweizer Behörden behandelten die Asylanträge und die Dublin-Verfahren der Beschwerdeführer getrennt voneinander. Dies begründeten sie damit, dass sich die Beschwerdeführer nicht auf ein gemeinsames Familienleben im Sinne von Art. 8 EMRK berufen könnten, da keine formalen Beweise für ihre Heirat vorlägen. Darüber hinaus sei die Heirat nach dem afghanischen Zivilgesetzbuch nicht erlaubt gewesen und sie widerspreche auch der schweizerischen öffentlichen Ordnung, da Sexualkontakte zu einem Kind unter 16 Jahren in der Schweiz ein Verbrechen darstellten. Z. H. wurde nach Italien überstellt, während R. H. in der Schweiz blieb, da die Behörden die Überstellungsfristen nicht eingehalten hatten. Z. H. kehrte nach wenigen Tagen in die Schweiz zurück, wo trotz seines formal rechtswidrigen Aufenthalts sein Asylverfahren wieder aufgenommen wurde.
Im Verfahren vor dem EGMR machten die Beschwerdeführer geltend, dass die Überstellung nach Italien eine Verletzung von Art. 3 und Art. 8 EMRK dargestellt hätte. Entgegen Art. 13 EMRK hätten sie zudem keinen effektiven Zugang zu Rechtsschutz in der Schweiz gehabt.
Nachdem R. H. 17 Jahre alt geworden war, erkannten die Behörden an, dass sich das Paar nun auf das Recht auf ein gemeinsames Familienleben berufen konnte und es ein gemeinsames Asylverfahren durchführen sollte. Beiden Beschwerdeführern wurde Flüchtlingsschutz in der Schweiz gewährt. Zudem wurde die religiöse Heirat rechtlich von einem Schweizer Gericht anerkannt.
Der EGMR stellte fest, dass Art. 8 EMRK keine Verpflichtung enthalte, die Heirat einer 14-Jährigen anzuerkennen, auch im Hinblick darauf, dass nach Art. 12 EMRK für die Heirat die nationalen Vorschriften Anwendung finden. Zwischen dem Schutz des Familienlebens und dem Schutz des Kindeswohls seien schwierige moralische Abwägungen vorzunehmen. Hierzu seien die nationalen Gerichte grundsätzlich besser in der Lage als der EGMR. Zur Zeit der Überstellung von Z. H nach Italien sei es jedenfalls gerechtfertigt gewesen, die Beschwerdeführer als nicht verheiratet anzusehen. Insgesamt hätten die nationalen Behörden und Gerichte eine faire Abwägung zwischen den persönlichen Belangen und der öffentlichen Ordnung vorgenommen, weshalb keine Verletzung von Art. 8 EMRK vorgelegen hätte.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 11/2015:
Der Fall betrifft zwei Brüder, die in Brüssel von Polizeibeamten geschlagen worden waren. Einer der Brüder war zum Zeitpunkt des Vorfalls minderjährig. Polizisten haten sie ins Gesicht geschlagen, während sie sich in der Obhut und unter Kontrolle der Beamten in Brüssel befanden. Der Gerichtshof entschied, dass Belgien gegen das Verbot der unmenschlichen Behandlung verstoßen hat. Er stellte fest, dass das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung absolute Geltung habe. Unabhängig vom Verhalten der betroffenen Personen und den Umständen gelte das Verbot immer. In einer demokratischen Gesellschaft seien Misshandlungen niemals eine angemessene Reaktion einer staatlichen Stelle. Der Gerichtshof stellte insbesondere fest, dass das Schlagen die Würde des betroffenen Menschen untergrabe.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 7-8/2015:
In dieser Entscheidung verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Aufnahmebedingungen einer serbischen Familie in Belgien als Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung). Die Familie, die einen Asylantrag gestellt hatte, musste nach den Erkenntnissen des Gerichtshofs in extremer Armut vegetieren, nachdem sie aus ihrer Unterbringung zwangsgeräumt worden war. Trotz einer laufenden Beschwerde gegen eine Ausreiseaufforderung erhielt die Familie keine Unterstützung und war für vier Wochen obdachlos. Schließlich sah sie sich gezwungen, nach Serbien zurückzukehren, wo ihr behindertes Kind starb.
Der Gerichtshof stellte fest, dass bei der Prüfung, ob eine Verletzung von Art. 3 EMRK vorliege, besonders beachtet werden müsse, dass die Antragsteller Asylsuchende gewesen seien. Die Schutzbedürftigkeit von Asylsuchenden sei bei Familien besonders hoch, bei der betroffenen Familie sei hinzugekommen, dass sie sehr junge Kinder hatte, darunter ein Kleinkind und ein behindertes Kind.
Der Gerichtshof stellte ausdrücklich fest, dass das belgische Aufnahmesystem für Asylsuchende zum fraglichen Zeitpunkt überlastet war. Dies ändere aber nichts daran, dass Belgien die Schutzbedürftigkeit der Beschwerdeführer missachtet und sie vier Wochen lang extremer Armut ausgesetzt habe. Da die Familie während dieses Zeitraums keine Möglichkeit gehabt habe, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen und keinen Zugang zu Sanitäreinrichtungen gehabt habe, sei die notwendige Intensität erfüllt, um von einer Verletzung von Art. 3 EMRK auszugehen.
Darüber hinaus verurteilte der Gerichtshof Belgien, da die Antragsteller gegen ihre Ausreiseaufforderung keinen effektiven Rechtsschutz gehabt hätten. So hätte die Beschwerde gegen die Ausreiseaufforderung keine aufschiebende Wirkung gehabt. Nach der belgischen Rechtslage hätten Antragsteller in einer solchen Situation keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung. Weiterhin hätte das belgische Beschwerdegericht erst über die Beschwerde entschieden, als die Beschwerdeführer bereits ausgereist waren. Dadurch hätte die Familie keine wirksame Möglichkeit gehabt, das Verfahren in Belgien zu betreiben. Dementsprechend habe auch eine Verletzung von Art. 13 EMRK (Recht auf effektiven Rechtsschutz) vorgelegen.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 6/2015:
Der Beschwerdeführer ist ein argentinischer Staatsangehöriger, der mit seiner Frau, einer rumänischen Staatsangehörigen, und dem gemeinsamen Kind in Argentinien lebte. Nachdem die Familie für einige Monate im Jahr 2006 gemeinsam in Zypern gelebt hatte, zog die Ehefrau mit dem gemeinsamen Kind – unter Zustimmung des Beschwerdeführers – nach Rumänien, um dort vor der geplanten Rückkehr nach Argentinien ebenfalls einige Monate zu verbringen. Die Ehefrau trennte sich jedoch von dem Beschwerdeführer und blieb mit dem gemeinsamen Kind in Rumänien. Sie ließ sich scheiden und beantragte das alleinige Sorgerecht für das Kind. Im September 2011 gewährte ein rumänisches Gericht der geschiedenen Ehefrau das Sorgerecht für das Kind, verbunden mit Besuchsrechten für den Vater. Der Beschwerdeführer hatte seit 2009 dreimal Gelegenheit, Kontakt zu seinem Kind zu haben. Der Beschwerdeführer beschwerte sich unter Bezug auf Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat-und Familienlebens) über die Länge des Verfahrens – 13 Monate – vor dem rumänischen Gericht, da dadurch die familiären Bindungen zu seinem Kind zerbrochen seien. Der Gerichtshof folgte der Begründung des Beschwerdeführers und verurteilte Rumänien wegen einer Verletzung von Art. 8 EMRK.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 5/2015:
Der EGMR verurteilte in diesem Fall Frankreich wegen einer Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit). Bei dem Antragsteller handelte es sich um einen Strafverteidiger, der, während er einen jungen Mandanten in Haft besuchte, selbst in Gewahrsam genommen wurde. Vorausgegangen war ein Streit mit dem Gefängnispersonal. Der Gerichtshof stellte fest, dass grundsätzlich notwendige Sicherheitsüberprüfungen zulässig sein können. Im vorliegenden Fall hätten die Inhaftierung, die umfassende körperliche Durchsuchung und ein Blutalkoholtest diese jedoch überschritten und nicht in Verbindung mit der Ingewahrsamnahme gestanden. Zusätzlich stellte der Gerichtshof fest, dass zur Zeit der Ingewahrsamnahme keine gesetzliche Grundlage für eine Durchsuchung bestanden hätte, die über ein Abtasten hinausging. Der Blutalkoholtest war zudem durchgeführt worden, obwohl kein Hinweis bestanden hatte, dass der Rechtsanwalt ein Vergehen unter dem Einfluss von Alkohol begangen hatte.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 6/2015:
Der Beschwerdeführer stammt aus dem Iran. Er wurde während seines Asylverfahrens in der Schweiz zweimal zu seinen Fluchtgründen befragt. Wegen Abweichungen zwischen den beiden Aussagen wurden seine Angaben als unglaubhaft eingestuft und der Asylantrag wurde abgelehnt. Im Klageverfahren wurden zudem Kopien einer Vorladung und eines Urteils eines Teheraner Gerichts mit dem pauschalen Hinweis abgelehnt, dass ihnen kein Beweiswert zukäme.
Der EGMR entschied, dass die Unstimmigkeiten zwischen den Aussagen dadurch erklärt werden könnten, dass die erste Befragung nur summarischen Charakter hatte und dadurch, dass zwischen den beiden Befragungen etwa zwei Jahre lagen. Die durch den Asylsuchenden vorgelegten Kopien hätten außerdem näher überprüft werden müssen. Insgesamt habe der Beschwerdeführer in geeigneter Weise dargelegt, dass seine Abschiebung in den Iran eine Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) darstellen würde.
Hinweis: Eine auszugsweise Übersetzung dieser Entscheidung finden Sie in der Rechtsprechungsdatenbank bei www.asyl.net.