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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 8/2016:
In diesem Fall befand der EGMR, dass die Inhaftierung eines Schutzsuchenden in Ungarn unrechtmäßig erfolgte, da sie mangels Einzelfallprüfung willkürlich war und die besondere Verletzlichkeit des Betroffenen in Haft aufgrund seiner sexuellen Orientierung nicht berücksichtigt worden war.
Der iranische Beschwerdeführer war im Juni 2014 bei seiner Einreise ohne Identitätspapiere festgenommen worden und stellte anschließend einen Asylantrag. Die ungarische Einwanderungsbehörde ordnete daraufhin basierend auf einer Vorschrift des nationalen Asylgesetzes vorläufig die Inhaftierung an. Wegen ungeklärter Identität bestehe Fluchtgefahr und damit drohe die Verzögerung des Asylverfahrens, wenn der Aslsuchende auf freiem Fuß bleibe. Bei der einen Tag später erfolgten Beantragung der Haftverlängerung gab die Behörde unter anderem an, iranische Asylsuchende tendierten dazu, sich Asylverfahren zu entziehen und unterzutauchen. Ein regionales Gericht gab dem Antrag statt, da es unter anderem annahm, dass weniger einschneidende Maßnahmen nicht geeignet seien, um die Verfügbarkeit des Betroffenen für die Behörden sicherzustellen. Eine Beschwerde des Betroffenen gegen die Inhaftierung blieb unberücksichtigt. Eine im August 2014 von der Einwanderungsbehörde beantragte Haftverlängerung wurde vom Gericht abgelehnt, da die Behörde Verzögerungen herbeigeführt habe, die dem Betroffenen nicht angelastet werden dürften. Dieser wurde daher nach knapp zwei Monaten aus der Haft entlassen. Im Oktober 2014 wurde er als Flüchtling anerkannt.
Vor dem EGMR machte der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) geltend, da nicht nur seine sexuelle Orientierung bei der Haftanordnung nicht berücksichtigt worden sei, sondern vielmehr keinerlei individuelle Prüfung stattgefunden habe. Sowohl das AIRE Center als auch ECRE und die europäische Sektion des LGBTI-Dachverbandes ILGA intervenierten in dem Verfahren und stellten vor allem darauf ab, dass die Inhaftierung des Betroffenen im Hinblick auf die UNHCR-Richtlinien zur Inhaftierung von Asylsuchenden willkürlich erfolgt sei.
Der Gerichtshof betonte zunächst, dass jegliche Freiheitsentziehung nur bei Vorliegen eines der in Art. 5 Abs.1 Buchst. a bis f EMRK abschließend aufgeführten Gründe rechtmäßig sein könne. Er ging nicht vertieft auf den Haftgrund zur Verhinderung der unerlaubten Einreise des Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK ein, da nach Asylantragstellung dieser Haftgrund nicht mehr einschlägig ist. Der einzige in Betracht kommende Haftgrund, wonach Freiheitsentziehung zur Erwirkung einer Pflichterfüllung angeordnet werden kann (Art. 5 Abs. 1 Buchst. b EMRK), sei in diesem Fall nicht erfüllt gewesen. Nach dem ungarischen Asylgesetz sei der Beschwerdeführer zwar verpflichtet gewesen, in seinem Asylverfahren mitzuwirken. Eine Pflicht, Identitätsdokumente vorzuweisen, habe aber nicht bestanden. Der Beschwerdeführer habe in angemessener Weise Auskunft zu seiner Identität gegeben und daher sei keine Verletzung einer Mitwirkungspflicht ersichtlich. Darüber hinaus führte der Gerichtshof aus, dass bei der Inhaftierung von Asylsuchenden, die geltend machen, Teil einer besonders verletzlichen Gruppe in ihrem Herkunftsland zu sein, Behörden im Aufnahmeland besondere Sorgfalt walten lassen müssen, um eine Wiederholung des Verfolgungsschicksals zu vermeiden. Im Fall des Beschwerdeführers stellte der Gerichtshof daher eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK fest.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 7/2016:
Der EGMR sah in diesem Fall eine Diskriminierung darin, dass eine Aufenthaltsgewährung aus familiären Gründen für gleichgeschlechtliche Paare nicht möglich ist. Diese können in Italien weder heiraten noch anderweitig ihre Partnerschaft anerkennen lassen.
Die Beschwerdeführer sind seit 1999 ein Paar und lebten zunächst in Neuseeland, dem Herkunftsland von Herrn McCall. 2003 zogen sie nach Italien, dessen Staatsangehörigkeit Herr Taddeucci besitzt. Herr McCall beantragte eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen. Diese wurde zunächst behördlich verweigert, auf Beschwerde des Betroffenen von einem erstinstanzlichen Gericht zugesprochen, dann aber durch ein Obergericht wieder aufgehoben, nachdem das italienische Innenministerium Rechtsmittel eingelegt hatte.
Die einschlägige nationale Norm ermöglicht den Aufenthalt eines »Familienmitglieds« in Italien, womit neben minderjährigen Kindern nur Eheleute erfasst sind, nicht jedoch unverheiratet zusammenlebende Paare. Italien erkannte zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht an. Im Juli 2015 forderte der EGMR aufgrund von Beschwerden schwuler Paare Italien dazu auf, dies zu ändern und inzwischen wurde zumindest von einer Kammer des italienischen Parlaments ein kontrovers diskutiertes Lebenspartnerschaftsgesetz gebilligt.
Im Verfahren vor dem EGMR machten die Beschwerdeführer geltend, aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert worden zu sein und sahen sich in ihren Rechten aus Art. 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Art. 8 EMRK (Recht auf Privat- und Familienleben) verletzt.
Der Gerichtshof bezog sich zunächst auf seine Entscheidung Schalk und Kopf gegen Österreich vom 24.6.2010, wonach es konstruiert oder »künstlich« (artificial) sei, einem homosexuellen Paar ein »Familienleben« im Sinne des Art. 8 EMRK abzusprechen. Die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis für Herrn McCall aufgrund der einschlägigen gesetzlichen Norm stelle einen Eingriff in das Familienleben der Beschwerdeführer dar. Bezüglich Art. 14 EMRK führte der Gerichtshof aus, dass die Beschwerdeführer gleich behandelt worden waren wie unverheiratete heterosexuelle Paare, denen der Aufenthalt aus familiären Gründen auch nicht erlaubt wurde. Allerdings sei die Situation der Beschwerdeführer mit diesen nicht vergleichbar, da gleichgeschlechtliche Paare nicht die Möglichkeit hätten ihre Partnerschaft staatlich anerkennen zu lassen. Daher sei eine Gleichbehandlung nicht gerechtfertigt und eine Verletzung von Art. 14 i. V. m. Art. 8 EMRK gegeben.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 6/2017:
Der EGMR stellte in fünf verbundenen Verfahren fest, dass die Ausweisung von Personen nur aufgrund ihrer HIV-Infektion einer strukturellen Diskriminierung gleichkommt. Die Beschwerdeführenden sind allesamt nicht-russische Staatsangehörige und lebten jeweils mit ihren Eheleuten, Lebenspartnern oder Kindern zusammen in Russland. Ihnen wurde aufgrund ihrer HIV-Infektion entweder die Aufenthaltserlaubnis verweigert, sie wurden ausgewiesen oder ihnen wurde die Wiedereinreise verweigert. Dies geschah unter Verweis auf mehrere nationale Normen, wonach nicht-russischen Staatsangehörigen aufgrund ihrer HIV-Infektion der Aufenthalt verwehrt werden kann. Die behördlichen Entscheidungen wurden jeweils gerichtlich bestätigt. Allerdings stellte das russische Verfassungsgericht in einem hiervon unabhängigen Verfahren 2015 fest, dass die einschlägigen Regelungen mit der russischen Verfassung insoweit unvereinbar seien, als sie die Aufenthaltsverweigerung gegenüber HIV-positiven Personen gestattete, deren Familien dauerhaft in Russland niedergelassen sind. Daraufhin wurde ein entsprechender Gesetzesentwurf in das russische Parlament eingebracht.
In den Verfahren vor dem EGMR machten die Betroffenen geltend, die Ungleichbehandlung aufgrund ihres Gesundheitszustandes stelle eine Diskriminierung i. S. d. Art. 14 i. V. m. Art. 8 (Recht auf Privat- und Familienleben) EMRK dar.
Der EGMR sah in allen Fällen den Anwendungsbereich des Art. 8 EMRK als eröffnet an, da sowohl staatlich anerkannte Ehen, als auch stabile gleichgeschlechtliche Partnerschaften unter den Begriff »Familienleben« fallen und die Verbindung zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern vom Begriff »Privatleben« umfasst ist. Bezüglich Art. 14 EMRK merkte der Gerichtshof an, dass dieser nur Diskriminierungen aufgrund von bestimmten Merkmalen verbietet und vorliegend anwendbar ist, da die Gesundheit vom Begriff des »sonstigen Status« umfasst ist. Die Betroffenen waren im Gegensatz zur vergleichbaren Gruppe von HIV-negativen nicht-russischen Staatsangehörigen unterschiedlich behandelt worden und der EGMR sah dafür keine zwingenden Rechtfertigungsgründe. Insbesondere bei besonders verletzlichen gesellschaftlichen Gruppen müssten diese Gründe sehr gewichtig sein. Den Ermessensspielraum der russischen Regierung einschränkend bemerkte der Gerichtshof einen europäischen Konsens bezüglich des Aufenthalts HIV-positiver Personen. Russland sei der einzige Mitgliedstaat des Europarats und einer von 16 Staaten weltweit, die Abschiebungen von HIV-positiven Personen durchführten. Der Gerichtshof bezog sich auf seine Entscheidung in Kiyutin gegen Russland vom 10.3.2011, wonach Einschränkungen der Aufenthaltsrechte von HIV-positiven Personen zwar das legitime Ziel des Schutzes der öffentlichen Gesundheit verfolgen, aber in keinem angemessenen Verhältnis hierzu stehen, da international fachlich anerkannt ist, dass diese im Falle von HIV nicht sachdienlich sind. Die eingeschränkte Übertragungsweise von HIV ermögliche die Prävention auf andere als aufenthaltsrechtliche Weise. Die vorgegebene Klassifizierung einer ganzen Gruppe als Bedrohung der öffentlichen Gesundheit ist nach dem EGMR daher nicht mit dem Schutz vor Diskriminierung vereinbar. Folglich bejahte der Gerichtshof in den vorliegenden Fällen eine Verletzung der Rechte der Betroffenen aus Art. 14 i. V. m. Art. 8 EMRK.
Darüber hinaus stellte er fest, dass es sich vorliegend um sogenannte Wiederholungsfälle handelt, die aus einer verbreiteten innerstaatlichen Fehlfunktion resultieren, wofür der Gerichtshof das Piloturteilsverfahren nach der Regel Nr. 61 seiner Verfahrensordnung entwickelt hat. Aufgrund der Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts und der geplanten Gesetzesänderung aber sah der EGMR hier von dessen Anwendung ab. Dennoch behielt er sich diese Verfahrensweise vor, sollte das Problem nicht im Sinne der EMRK behoben werden.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 6/2016:
In diesem Fall stellte der EGMR eine Diskriminierung von homosexuellen Paaren durch die Anwendung von kroatischem Recht fest. Dieses schließt homosexuelle Paare vom Familiennachzug aus, der unverheirateten heterosexuellen Paaren möglich ist.
Die in Bosnien-Herzegowina lebende Beschwerdeführerin beantragte 2011 in Kroatien eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzugs zu ihrer Lebensgefährtin, mit der sie seit zwei Jahren eine Beziehung führte. Der Antrag wurde von den kroatischen Behörden mit der Begründung abgelehnt, homosexuelle Beziehungen seien vom Familiengesetz und dem Gesetz über gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht erfasst und daher sei die Beschwerdeführerin nicht als »Familienangehörige« i. S. d. Fremdengesetzes anzusehen. Diese Entscheidung wurde von den nationalen Gerichten bestätigt
Im Verfahren vor dem EGMR rügte die Beschwerdeführerin die Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und machte eine Verletzung von Art. 14 i. V. m. Art. 8 (Recht auf Privat- und Familienleben) EMRK geltend. Da keine Gründe für eine Ungleichbehandlung bestünden, dürfte das Gesetz nicht in diesem Sinne ausgelegt werden.
Der EGMR stellte zunächst fest, dass die Beziehung eines gleichgeschlechtlichen Paares unter den Begriff des »Privatlebens« i. S. v. Art. 8 EMRK fällt. Unter Berufung auf seine Entscheidungen in P. B. und J. S. gegen Österreich vom 22.7.2010 sowie Schalk und Kopf gegen Österreich vom 24.6.2010, wonach die stabile Beziehung eines zusammenlebenden gleichgeschlechtlichen Paares auch unter den Anwendungsbereich des »Familienlebens« falle, stellte der Gerichtshof zudem fest, dass die Beziehung des hier betroffenen nicht zusammenlebenden Paares auch hiervon umfasst sei. In Bezug auf Art. 14 EMRK ging der Gerichtshof davon aus, dass die Situation der Beschwerdeführerin vergleichbar ist mit der einer nachzugswilligen unverheirateten heterosexuellen Person. Das kroatische Rechtssystem erkenne an, dass sowohl heterosexuelle als auch homosexuelle Paare fähig seien, stabile Beziehungen zu führen. Die einschlägigen Bestimmungen des Ausländergesetzes würden aber gleichgeschlechtliche Paare stillschweigend von der Familienzusammenführung ausschließen. Zwar sei den Staaten bei Fragen der Einwanderung ein weiter Ermessensspielraum gegeben, jedoch habe der Gerichtshof wiederholt festgestellt, dass Unterschiede aufgrund der sexuellen Orientierung »besonders überzeugender und gewichtiger Gründe« bedürften. Im vorliegenden Fall sei von der kroatischen Regierung keine sachliche und vernünftige Rechtfertigung vorgebracht worden und daher eine Verletzung von Art. 14 i. V. m. Art. 8 EMRK gegeben.