Beschluss des EGMR vom 10.10.2019, Nr. 34016/18 (Art. 2, 3 und 13 EMRK), asyl.net: M27733
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 10-11/2019
In diesem Fall stellte der EGMR fest, dass die Abschiebung eines ehemaligen syrischen Soldaten, der wegen Gefahr für die öffentliche Sicherheit aus Bulgarien ausgewiesen wurde, nach Syrien rechtswidrig ist.
Nach den Feststellungen des Gerichtshofs diente der Betroffene seit 2011 in der syrischen Armee, wurde zum Scharfschützen ausgebildet und erreichte den Rang eines Offiziers. Nachdem er sich 2012 einem Befehl widersetzte, desertierte er und schloss sich für neun Monate der Freien Syrischen Armee an. Danach verließ er Syrien illegal. Da er in der Türkei keinen Flüchtlingsschutz beantragen konnte, floh er nach Europa um Schutz zu suchen.
An der rumänisch-bulgarischen Grenze wurde er im Juni 2013 von der bulgarischen Grenzpolizei wegen fehlender Identitätspapiere aufgegriffen. Gegen ihn wurde ein Strafverfahren wegen des Versuchs des unerlaubten Verlassens des Landes eingeleitet. Das Verfahren wurde eingestellt, nachdem der Betroffene einem sogenannten Deal mit der Staatsanwaltschaft zugestimmt hatte, mit dem er seine Schuld eingestand und eine siebenmonatige Haft- sowie eine Geldstrafe akzeptierte.
Im August 2013 beantragte der Betroffene in Bulgarien Asyl. Das Verfahren wurde 2014 zunächst wegen fehlenden Erscheinens zur persönlichen Anhörung eingestellt und dann beendet. Zwischenzeitlich wurde im November 2013 gegen den Betroffenen eine Ausweisung und fünfjährige Einreisesperre verhängt, weil er als Gefahr für die nationale Sicherheit eingestuft wurde. Bis Januar 2015 wurde er in einer Abschiebungshafteinrichtung inhaftiert. Seine Rechtsbehelfe gegen die Ausweisung und Haftanordnung wurden abgelehnt. Ein zweiter, im Jahr 2015 von ihm gestellter Asylantrag wurde abgelehnt. Die Behörden argumentierten, dass Flüchtlingsschutz nicht zuzuerkennen sei, da der Betroffene nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist sei. Ein humanitärer Schutzstatus scheitere daran, dass er als Gefahr für die öffentliche Sicherheit eingestuft wurde. Seine Rechtsbehelfe blieben auch diesmal erfolglos.
Ein dem Betroffenen 2018 ausgestellter syrischer Pass wurde wegen der Ausweisung von bulgarischen Behörden einbehalten. Im April 2018 heiratete er eine bulgarische Staatsangehörige.
Vor dem EGMR machte der Beschwerdeführer geltend, dass bei Abschiebung nach Syrien eine Verletzung seines Rechts auf Leben nach Art. 2 EMRK und ein Verstoß gegen das Folterverbot nach Art. 3 EMRK drohen würden. Zudem brachte er vor, keinen Zugang zu effektivem Rechtsschutz nach Art. 13 EMRK gehabt zu haben. Der Gerichtshof ordnete 2018 eine vorläufige Maßnahme nach „Rule 39“ seiner Verfahrensordnung an. Demnach sollte der Betroffene während der Dauer des Verfahrens beim EGMR nicht abgeschoben werden.
In Bezug auf Art. 2 und 3 EMRK stellte der EGMR zunächst fest, dass auch die bulgarischen Behörden und Gerichte davon ausgingen, dass die Situation in Syrien humanitären Abschiebungsschutz erfordere. Der Gerichtshof selbst wies ebenfalls auf die anhaltend schlechte Menschenrechtslage hin: Zivilpersonen in Syrien seien durch intensive Kampfhandlungen, willkürliche Angriffe und großflächige willkürliche Inhaftierungen allgemein gefährdet. Deserteuren und Soldaten, die Befehle nicht befolgten, drohten Hinrichtungen, willkürliche Inhaftierungen und Misshandlungen. Als Soldat, der desertiert sei, sei der Beschwerdeführer besonders gefährdet. Ihm drohe unmenschliche Behandlung. Daher würde die Abschiebung nach Syrien den Beschwerdeführer einer Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 und 3 EMRK aussetzen.
Der EGMR stellte zudem eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 13 i.V.m. Art. 2 und 3 EMRK fest. Laut Gerichtshof lässt die Rechtslage in Bulgarien keine wirksame Überprüfung der geltend gemachten drohenden Menschenrechtsverletzungen zu. Es bestehe ein gesetzlich vorgegebener Vorrang der Ausweisung wegen Gefahr für die öffentliche Sicherheit gegenüber dem Schutz der Betroffenen, denen im Zielstaat der Abschiebung Gefahren drohen. Das oberste Verwaltungsgericht Bulgariens habe die vom Betroffenen vorgetragenen Gefahren und die allgemeine Situation in Syrien nicht ausreichend geprüft. Eine Aussetzung der Ausweisung sei aufgrund seiner Einstufung als Gefahr für die öffentliche Sicherheit abgelehnt worden. Daher seien die Risiken für den Betroffenen nicht angemessen berücksichtigt worden.
Urteil des EGMR vom 10.7.2018, Nr. 14319/17 (Art. 3 EMRK), asyl.net: M26630
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 10-11/2018:
In dieser Entscheidung befand der EGMR es für rechtmäßig, dass ein wegen terroristischer Straftaten verurteilter marokkanischer Staatsangehöriger aus den Niederlanden in sein Herkunftsland abgeschoben wurde. Der Betroffene war 2015 u. a. wegen der Vorbereitung von Anschlägen zu zwölf Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden. Sein Asylantrag wurde von mehreren Instanzen abgelehnt.
Vor dem EGMR machte der Beschwerdeführer geltend, dass ihm bei Abschiebung nach Marokko eine Verletzung von Art. 3 EMRK drohe, da er dort der Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt wäre. Den marokkanischen Behörden seien nämlich seine Verurteilung wegen terroristischer Straftaten, seine Verbindung zu einer aufgelösten militanten Zelle und seine Asylantragstellung bekannt.
Der Gerichtshof hatte in diesem Verfahren eine vorläufige Maßnahme nach »Rule 39« seiner Verfahrensordnung erlassen, weshalb die Abschiebung bis zur endgültigen Entscheidung ausgesetzt wurde. In seinem Urteil stützte sich der EGMR besonders auf Herkunftslandinformationen internationaler Organisationen, wie etwa der Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen zu willkürlichen Inhaftierungen und des UN-Menschenrechtsausschusses. Diesen Informationen zufolge kommen Misshandlungen und Folterungen durch die Polizei und Sicherheitskräfte immer noch vor, insbesondere im Falle von Personen, die des Terrorismus oder der Gefährdung der Staatssicherheit verdächtigt werden. Allerdings konnte der EGMR keine allgemeine und systematische Praxis der Folter und Misshandlung feststellen und prüfte daher, ob im vorliegenden Einzelfall ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK drohen würde.
Laut Gerichtshof sei zwar davon auszugehen, dass den marokkanischen Behörden die Verurteilung des Beschwerdeführers bekannt sei, jedoch deute nichts darauf hin, dass sie besonderes Interesse an ihm hätten. Anders als in der Rechtssache Ouabour gegen Belgien (Urteil vom 2.6.2015, Asylmagazin 9/2015) sei im vorliegenden Fall kein Auslieferungsersuchen erfolgt. Zudem hätten die niederländischen Behörden ausreichende Informationen zur Beurteilung der Lage eingeholt, was den Fall von der Rechtssache X. gegen Schweden (Urteil vom 9.1.2018) unterscheide. Es könne davon ausgegangen werden, dass Marokko das Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem) einhalten und den Betroffenen nicht wegen seiner Verurteilung in den Niederlanden verfolgen werde. Daher stellt der EGMR fest, dass die Bewertung durch die nationalen Behörden angemessen war und dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Marokko nicht zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führen würde.
Urteil des EGMR vom 1.2.2018, Nr. 9373/15 (Art. 3 und 13 EMRK)
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 4/2018:
Der EGMR verurteilte Frankreich in dieser Entscheidung dafür, dass es einen Mann, den es des Terrorismus verdächtigte, nach Algerien abgeschoben hatte.
In diesem Fall war ein algerischer Staatsangehöriger in Frankreich wegen Beteiligung an einer Verschwörung zur Vorbereitung terroristischer Anschläge zu sieben Jahren Haft verurteilt und ausgewiesen worden. Sein Ende 2014 gestellter Asylantrag wurde abgelehnt und seine Abschiebung vorbereitet. Im Februar 2015 gab der EGMR einem Antrag auf Erlass einer vorläufigen Maßnahme nach »Rule 39« seiner Verfahrensordnung statt.1 Frankreich aber ignorierte die Anordnung des Gerichtshofs, den Betroffenen nicht zurückzuführen, und schob ihn nach Algerien ab. Dort wurde er in Polizeigewahrsam genommen.
Der Beschwerdeführer machte vor dem EGMR geltend, dass seine Abschiebung nach Algerien ihn unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK der Gefahr der Folter oder unmenschlicher und erniedrigender Behandlung aussetzte. Durch die Abschiebung entgegen der vorläufigen Maßnahme habe Frankreich zudem sein Recht auf Individualbeschwerde vor dem EGMR entgegen Art. 34 EMRK behindert.
Der Gerichtshof wies zunächst darauf hin, dass es gerechtfertigt sei, dass Staaten entschieden gegen Personen vorgingen, die sich an terroristischen Anschlägen beteiligten. Allerdings würden Personen, die des Terrorismus verdächtigt seien, laut Herkunftslandinformationen in Algerien häufig inhaftiert, misshandelt oder gefoltert. Daher stellte er fest, dass Frankreich durch die Abschiebung des Betroffenen gegen Art. 3 EMRK verstoßen habe.
Der Gerichtshof verurteilte Frankreich zudem wegen Verstoßes gegen seine Verpflichtungen aus Art. 34 EMRK, wonach die Vertragsparteien verpflichtet sind, die wirksame Ausübung der Individualbeschwerde vor dem EGMR nicht zu behindern.
Der EGMR betonte, dass die französische Regierung nun alles in ihrer Macht stehende unternehmen müsse, um von den algerischen Behörden die Zusicherung zu erhalten, dass der Betroffene keiner Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt werden würde.
Urteil des EGMR vom 9.1.2018, Nr. 36417/16 (Art. 3 EMRK), asyl.net: M26114
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 4/2018:
In dieser Entscheidung stellte der EGMR fest, dass im Fall einer Abschiebung eines des Terrorismus verdächtigten Mannes nach Marokko eine Verletzung des Verbots der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nach Art. 3 EMRK zu befürchten wäre.
Das Urteil betrifft einen marokkanischen Staatsangehörigen, der in Schweden einen Asylantrag stellte, nachdem der schwedische Sicherheitsdienst wegen Terrorverdachts seine Ausweisung bei der schwedischen Migrationsbehörde beantragt hatte. Sein Asylantrag wurde abgelehnt und die Ausweisung wurde angeordnet, was später gerichtlich bestätigt wurde. Die schwedische Regierung ging davon aus, dass von dem Betroffenen die Gefahr eines terroristischen Anschlags ausging. Der schwedische Sicherheitsdienst hatte die marokkanischen Behörden über den Betroffenen informiert.
Vor dem EGMR machte der Beschwerdeführer geltend, dass ihm in Marokko Folter und langjährige Inhaftierung drohen würde, da er von Schweden als Terrorist eingestuft worden sei.
Der Gerichtshof wies zunächst darauf hin, dass Staaten im Rahmen des Kampfes gegen den Terrorismus die Möglichkeit haben müssen, Personen abzuschieben, die keine eigenen Staatsangehörigen sind. Allerdings betonte er, dass Art. 3 EMRK ein absolut unveräußerliches Recht darstelle, von dem auch unter den Bedingungen eines Notstands nicht abgewichen werden darf. Zwar seien in Marokko Fortschritte in Bezug auf die menschenrechtliche Situation festzustellen und auch sei der Beschwerdeführer den marokkanischen Behörden bisher nicht aufgefallen. Da aber der schwedische Sicherheitsdienst die marokkanischen Behörden über die Einstufung des Betroffenen als »Terrorverdächtigen« informiert hatte und Herkunftslandinformationen bestätigen, dass weiterhin willkürlicher Inhaftierung und Folter ausgesetzt seien, würde die Abschiebung des Beschwerdeführers zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen. Der EGMR wies zusätzlich darauf hin, dass die schwedischen Behörden es versäumt haben, von Marokko Zusicherungen für eine menschenrechtskonforme Behandlung des Betroffenen einzuholen.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 3/2018:
Der EGMR stellt fest, dass Personen, die zum christlichen Glauben übergetreten sind, bei Rückkehr in den Iran nur dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK zu befürchten haben, wenn sie ihren Glauben so ausüben, dass sie als Bedrohung staatlicher Autorität angesehen werden.
Das Urteil erging im Fall eines jungen Mannes aus dem Iran, der seinen zweiten Asylantrag in der Schweiz mit seiner Konversion zum Christentum begründete. Mehrere Rechtsmittel blieben erfolglos.
Der Beschwerdeführer machte vor dem EGMR geltend, dass seine bevorstehende Abschiebung in den Iran sein Recht auf Leben nach Art. 2 EMRK und das Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nach Art. 3 EMRK verletzen würde.
Der Gerichtshof wies zunächst auf den Unterschied des vorliegenden Falls zur Rechtssache F. G. gegen Schweden vom 23.3.2016 (siehe EGMR-Rechtsprechungsübersicht im Asylmagazin 4–5/2016) hin, in der es auch um die Konversion eines Iraners zum Christentum ging. Bei F. G. gg. Schweden hatte der EGMR nur festgestellt, dass die in Schweden nicht erfolgte Prüfung der Folgen des Glaubenswechsels bei Rückführung in den Iran zur Gefahr der Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK führen würde. Demgegenüber seien im vorliegenden Fall die Konsequenzen der Konversion behördlich und gerichtlich jeweils mehrfach geprüft worden.
Ferner grenzte der Gerichtshof den vorliegenden Fall von seiner Entscheidung in der Rechtssache T. M. und Y. A. gegen die Niederlande vom 5.7.2016 (Nr. 209/16) ab. Im damaligen Fall hatte der EGMR die Zweifel der niederländischen Behörden an der Glaubhaftigkeit des Religionswechsels bestätigt. Auch im vorliegenden Fall hatten die Schweizer Behörden die Glaubhaftigkeit der Konversion bezweifelt, die Antragsablehnung hatten sie aber darauf gestützt, dass gewöhnliche, ihren Glauben diskret ausübende Kirchenmitglieder im Iran nicht verfolgt würden.
Der EGMR befand diese Entscheidung für fehlerfrei. Unter Berücksichtigung einschlägiger Berichte über die Situation von zum Christentum konvertierter Muslime im Iran sei die Einschätzung der Schweizer Behörden adäquat. Die Regierung hatte vorgebracht, dass Konvertiten im Iran nur dann dem Risiko einer Misshandlung ausgesetzt seien, wenn sie die Aufmerksamkeit der iranischen Behörden erregen würden. Der Gerichtshof verwies in diesem Zusammenhang auf den Unterschied der vorliegenden Situation zu dem Fall, der dem EuGH-Urteil vom 5.9.2012 in der Rechtssache Deutschland gegen Y. und Z. (C-71/11 und C-99/11 – asyl.net: M19998) zugrunde lag. Im EuGH-Fall sei für die Betroffenen die öffentliche Ausübung ihres Glaubens essentiell für die Bewahrung ihrer religiösen Identität gewesen. Dies habe der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall nicht dargelegt.
Daher stellte der EGMR fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Iran nicht zu einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK führen würde.
Urteil des EGMR vom 7.12.2017, Nr. 34999/16 (Art. 2 und 3 EMRK), asyl.net: M26033
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 3/2018:
In diesem Fall stellte der EGMR zwar fest, dass keine Auslieferung erfolgen darf, wenn der betroffenen Person im Zielstaat die Ermordung oder eine Misshandlung droht. Im vorliegenden Fall befand er aber, dass ein in den Kosovo ausgelieferter mutmaßlicher Straftäter vom Staat gegen Blutrache geschützt werden könne.
Der Fall betraf einen serbischen Staatsangehörigen, der seit 2001 in Österreich lebt und 2016 aufgrund eines internationalen Haftbefehls festgenommen wurde. Gegen seine Auslieferung an den Kosovo machte er geltend, dass er dort in Haft um sein Leben fürchten müsse, weil er von einer Blutfehde betroffen sei. Österreichische Strafgerichte erklärten die Auslieferung für zulässig, da kosovarische Behörden ihm ausreichend Schutz gewähren könnten.
Der Beschwerdeführer behauptete vor dem EGMR eine Verletzung von Art. 2 und Art. 3 EMRK. Der Gerichtshof gab seinem Antrag auf Erlass einer vorläufigen Maßnahme nach »Rule 39« seiner Verfahrensordnung (ausführlich hierzu siehe Markard in AM 1–2/2012) statt. Im Urteil verneinte er aber, dass die Auslieferung gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßen würde. Zwar dürften grundsätzlich Auslieferungen nicht erfolgen, wenn Betroffenen im Zielstaat EMRK-Verletzungen drohten. Dies gelte auch bei Gefahren, die von nichtstaatlichen Akteuren ausgingen. Der Gerichtshof stellte fest, dass Blutrache im Kosovo nach wie vor praktiziert wird und davon betroffene Personen vom Staat nur wenig Schutz erwarten können. Der Schutz des Beschwerdeführers könne allerdings gewährleistet werden, da er sich in Haft befinden würde. Staatliche Stellen hätten in seinem Fall auch bereits angemessen auf Bedrohungen reagiert.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 1-2/2017:
Die Große Kammer des Gerichtshofs hob in diesem Fall eine Entscheidung einer seiner Kammern auf und verurteilte Belgien, dessen Behörden die Abschiebung eines schwer kranken Mannes nach Georgien angeordnet hatten. Damit änderte der EGMR seine bisher restriktive Anwendung von Art. 3 EMRK in Fällen, in denen schwer erkrankte Personen von Abschiebungen betroffen sind.
Die Entscheidung betraf einen georgischen Mann, der 1998 mit seiner Frau nach Belgien zog, wo sie seitdem mit ihren drei gemeinsamen Kindern lebten. Er wurde innerhalb von zehn Jahren wegen mehrerer schwerer Straftaten verurteilt und in der Haft wurden eine Reihe schwerwiegender Krankheiten, einschließlich Leukämie und Tuberkulose, diagnostiziert. Nachdem ihm mehrfach die Aufenthaltsverfestigung verweigert worden war, wurde 2007 seine Abschiebung angeordnet, zunächst aber nicht ausgeführt weil er sich in medizinischer Behandlung befand. 2010 wurde dann durch eine vorläufige Maßnahme des EGMR nach »Rule 39« seiner Verfahrensordnung (ausführlich hierzu Markard in ASYLMAGAZIN 1–2/2012) die Abschiebung verhindert. Der Beschwerdeführer starb 2016 an seinen Krankheiten, der Gerichtshof setzte das Verfahren aufgrund der Bedeutung der Sache nach Art. 37 Abs. 1 S. 2 EMRK fort.
Vor dem Gerichtshof wurde geltend gemacht, dass die Abschiebung des Betroffenen einer Verletzung seines Rechts auf Leben aus Art. 2 EMRK und des Verbots von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung aus Art. 3 EMRK gleichkommen würde, da sich seine Erkrankungen in Georgien lebensbedrohlich verschlechtern würden. Ferner wäre eine Verletzung seines Rechts auf Familienleben nach Art. 8 EMRK gegeben, da er mit einer zehnjährigen Einreisesperre belegt wurde, seine Familie aber ein Daueraufenthaltsrecht in Belgien hatte.
Eine Kammer des EGMR hatte im April 2014 jegliche Rechtsverletzungen verneint und entsprach damit der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs. In der Entscheidung N. gegen Großbritannien vom 27.5.2008 (asyl. net: M13624) hatte dieser festgestellt, dass die Abschiebung einer schwerkranken Person nur in »besonderen Ausnahmefällen« eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellt, auch wenn im Zielstaat die Verschlechterung der Lebenssituation und der Lebenserwartung droht. Mit dieser Argumentation wurde die Beschwerde einer HIV‑infizierten Frau aus Uganda abgelehnt. Allein im Falle eines Mannes, der aufgrund seiner Erkrankung kurz vor dem Tod stand, nahm der EGMR eine Verletzung von Art. 3 EMRK an (Urteil D. gegen Großbritannien vom 2.5.1997).
Nach Verweisung der vorliegenden Rechtssache an die Große Kammer erklärte diese, dass zu ihrer bisherigenRechtsprechung »eine Klarstellung« erfolgen muss, weil im Sinne der EMRK nicht nur Personen, deren Tod unmittelbar bevorsteht, vor Abschiebungen geschützt werden sollen. »Besondere Ausnahmefälle« seien anzunehmen, wenn schwerkranken Personen bei Abschiebung eine baldige und wesentliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustands droht, die zu starkem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebensdauer führt.
Der Gerichtshof legte darüber hinaus fest, wie die Prüfung dieser Umstände zu erfolgen hat. Insbesondere soll berücksichtigt werden, ob Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung haben. Bei Zweifeln seien entsprechend seiner Entscheidung in Tarakhel gegen die Schweiz vom 4.11.2014 (asyl.net: M22411, Asylmagazin 12/2014) vom Zielstaat der Abschiebung Garantien einzuholen.
Im Fall des Beschwerdeführers stellte die Große Kammer einstimmig fest, dass seine Abschiebung eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde, wenn im Hinblick auf seine Erkrankungen nicht geprüft würde, ob für ihn eine angemessene Behandlung in Georgien verfügbar wäre. Mit ähnlicher Begründung stellte der Gerichtshof fest, dass eine Verletzung von Art. 8 EMRK gegeben wäre, wenn nicht geprüft würde, welche Folgen die Abschiebung im Hinblick auf sein Familienleben hätte. Insbesondere sei zu berücksichtigen, inwiefern die erkrankte Person auf die Unterstützung ihrer Familie angewiesen ist.
Aufgrund der Änderung der bisherigen Rechtsprechung ist diese Entscheidung von großer Bedeutung für Fälle gesundheitsbedingter Abschiebungsverbote. In einem Eintrag im Blog »EU Law Analysis« wird sie als eine der wichtigsten Entscheidungen des EGMR im Jahre 2016 bezeichnet und ihre möglichen Auswirkungen auch auf die Rechtsprechung des EuGH werden analysiert (http://eulawanalysis.blogspot.de/2017/01/expulsion-of-seriously-ill-migrants-new.html).
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 10/2016:
Die Große Kammer des Gerichtshofs hob eine Entscheidung einer seiner Kammern auf und verurteilte Schweden, da seine Behörden in diesem Fall fälschlicherweise von ausreichendem Schutz des irakischen Staates vor nichtstaatlicher Verfolgung ausgegangen waren.
Bei den Beschwerdeführenden handelt es sich um ein irakisches Ehepaar und den gemeinsamen Sohn. Der Familienvater war mit einem eigenen Bau- und Transportunternehmen seit den 1990er Jahren für amerikanische Kunden tätig. Aus diesem Grund verübten Mitglieder des Al-Qaida Netzwerks ab 2004 wiederholt Anschläge auf ihn und töteten 2008 bei einem solchen Attentat seine Tochter. Daraufhin lebte die Familie bis zur Flucht 2010 versteckt an verschiedenen Orten in Bagdad. Die Betroffenen wandten sich nicht an irakische Behörden, da sie davon ausgingen, dass diese sie nicht beschützen könnten. In Schweden stellte die Familie einen Asylantrag, der mit der Begründung abgelehnt wurde, die irakischen Behörden könnten ausreichenden Schutz bieten. Die Entscheidung wurde vom Migrationsgericht aufrechterhalten und ein dagegen eingelegtes Rechtsmittel nicht zugelassen.
Vor dem EGMR brachten die Beschwerdeführenden vor, sie würden angesichts bereits erlittener Verfolgung und der sich verschlechternden Sicherheitslage im Irak im Fall ihrer Abschiebung einer Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) ausgesetzt sein. Eine Kammer des Gerichtshofs verneinte eine solche Gefahr im Juli 2015 (s. Asylmagazin 9/2015, S. 293). Auf Antrag der Beschwerdeführenden wurde die Rechtssache an die Große Kammer verwiesen.
Laut der jetzt ergangenen Entscheidung ergibt sich aus aktuellen Herkunftslandinformationen, dass das irakische Sicherheits- und Rechtssystem zwar grundsätzlich funktioniert, aber sowohl in seiner Leistungsfähigkeit als auch in seiner Integrität Mängel aufweist. Die Sicherheitslage habe sich seit dem Jahr 2010 verschlechtert und weite Teile des Landes befänden sich nicht unter effektiver staatlicher Kontrolle. Der irakische Staat sei zwar eingeschränkt, aber grundsätzlich in der Lage, die allgemeine Bevölkerung zu schützen. Dies gelte allerdings nicht für Personen, die im Fokus der Angriffe bestimmter nichtstaatlicher Gruppen stünden. Daher stellte der EGMR fest, dass eine Abschiebung der Beschwerdeführenden in den Irak eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 7/2016:
Der EGMR erließ in diesem Fall eine vorläufige Maßnahme, um die Abschiebung einer Frau nach Guinea zu verhindern, wo ihr wegen ihrer Ehe mit einem Christen von ihrer muslimischen Familie Verfolgung droht.
Die guineische Beschwerdeführerin heiratete 2012 in Guinea einen Mann christlichen Glaubens gegen den Willen ihres Vaters, eines einflussreichen Imams. Daraufhin wurde sie von ihrem Vater und ihren Brüdern mit dem Tod bedroht und zusammengeschlagen. Durch die Schläge verlor sie ihr ungeborenes Kind. Zunächst versteckte sie sich bei Verwandten, als ihr Vater sie aber entdeckte und ihren Ehemann inhaftieren ließ, floh sie 2014 nach Frankreich. Noch bevor sie Asyl beantragen konnte, erfuhr sie, dass ihr Vater ihr gefolgt sei. Beim Versuch, weiter zu fliehen, wurde sie festgenommen und ihre Abschiebung wurde angeordnet. Ihr daraufhin eingelegtes Rechtsmittel und ihr Asylantrag wurden abgelehnt, letzterer im beschleunigten Verfahren. Ihr Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Asylantrags ist vor einem nationalen Gericht noch anhängig.
Vor dem EGMR machte die Beschwerdeführerin geltend, dass ihr durch das beschleunigte Asylverfahren das Recht auf wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK genommen wurde und ihr bei Vollstreckung ihrer Abschiebung Folter und unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK drohe.
Der Gerichtshof verneinte eine Verletzung von Art. 13 EMRK, da der Beschwerdeführerin trotz des beschleunigten Asylverfahrens auch in Abschiebungshaft ausreichend Informationen und Unterstützung zur Verfügung standen und sie keine Sprachbarrieren geltend machte. Eine drohende Verletzung von Art. 3 EMRK bei Abschiebung bejahte der Gerichtshof hingegen. Er ging davon aus, dass der Beschwerdeführerin bei Rückkehr weiterhin Verfolgung durch ihre Familie drohe und der guineische Staat ihr hiergegen keinen Schutz bieten würde.
Der EGMR wandte »Rule 39« seiner Verfahrensordnung an, die es ihm ermöglicht, vorläufige Maßnahmen zu erlassen (ausführlich hierzu: Nora Markard in Asylmagazin 1–2/2012). Er forderte die französische Regierung auf, die Abschiebung der Beschwerdeführerin auszusetzen, bis er weitere Maßnahmen erlässt oder die Beschwerde abschließend geprüft ist.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 7/2016:
In diesem Fall befand der EGMR, dass einer Frau keine Gefahr der Genitalverstümmelung bei Rückkehr in den Sudan droht, wenn ihre Familie diese Praxis ablehnt. Bei den Beschwerdeführenden handelt es sich um eine sudanesische Familie, bestehend aus Mutter, Vater, zwei Töchtern und einem Sohn, die seit 2001 in den Niederlanden lebten und bereits zwei Asylanträge gestellt hatten. Bei ihrer dritten Asylantragstellung machten sie geltend, dass ihren Töchtern bei Rückkehr in den Sudan Genitalverstümmelung drohe. Das niederländische Innenministerium lehnte den Antrag unter Berufung auf Informationen des niederländischen Außenministeriums ab. Demnach könnten sich Frauen mit höherem Bildungsstand aus städtischen Gebieten der Praxis der Genitalverstümmelung verweigern, ohne dafür sozial stigmatisiert zu werden. Die Betroffenen hätten nicht dargelegt, dass sie einen solchen höheren Bildungsstand nicht besäßen. Dem Rechtsmittel der Betroffenen wurde vom erstinstanzlichen Gericht stattgegeben, auf Berufung des Innenministeriums wurde diese Entscheidung aber von einem Obergericht wieder aufgehoben.
In ihrer Beschwerde an den EGMR machten die Beschwerdeführenden eine Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot der Folter und unmenschlicher Behandlung) geltend. Bezüglich der älteren Tochter wurde das Verfahren eingestellt, da sie wegen zwischenzeitlich in den Niederlanden geborener Kinder einen Aufenthaltstitel erhalten und daraufhin ihre Beschwerde zurückgezogen hatte.
Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass die Genitalverstümmelung eine von Art. 3 EMRK verbotene Behandlung darstelle und verwies auf seine Entscheidungen in den Rechtssachen Collins und Akaziebie gegen Schweden vom 8.3.2007 sowie Izevbekhai u. a. gegen Irland vom 17.5.2011. Obwohl weiterhin die Mehrheit der Mädchen und Frauen im Sudan der Genitalverstümmelung unterworfen werde und keine nationale Regelung die Praxis verbiete, sei deren Verbreitung rückläufig. Insbesondere hätten einige Provinzen, unter anderem diejenige aus der die Betroffenen stammen, die Praxis verboten. Zudem würde die Genitalverstümmelung nicht von Personen veranlasst, die nicht Familienmitglieder sind. Daher habe die Familie die Möglichkeit, die Genitalverstümmelung der betroffenen Frau zu verhindern. Da die betroffene Beschwerdeführerin gemeinsam mit ihrer Familie in den Sudan abgeschoben werden würde, habe sie keine Verletzung ihres Rechts aus Art. 3 EMRK zu fürchten.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 1-2/2016:
Die Beschwerdeführer in diesen Verfahren sind afghanische Staatsangehörige, die Asylanträge in den Niederlanden gestellt hatten. Alle waren hochrangige Mitglieder der afghanischen Armee zu Zeiten des kommunistischen Regimes gewesen. Sie gaben an, dass sie bei Rückkehr Verfolgung durch die Taliban zu fürchten hätten und darüber hinaus in Gefahr einer unmenschlichen Behandlung aufgrund der allgemeinen Sicherheitssituation sein würden.
Die zuständige Behörde entschied, die Beschwerdeführer gemäß Art. 1 F der Genfer Flüchtlingskonvention vom Flüchtlingsschutz auszuschließen, da sie nach einem Bericht des niederländischen Außenministeriums aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Armee für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gewesen seien. Die Behörde sprach den Beschwerdeführern auch keinen anderweitigen Schutzstatus zu, da ihre Abschiebung weder aufgrund ihrer früheren Armeezugehörigkeit noch aufgrund von individuellen Umständen gegen Art. 3 EMRK verstoßen würde.
Der Gerichtshof wies die Beschwerde ab und stellte fest, dass die Beschwerdeführer keine individuellen Gründe vorgebracht hätten, die zeigen würden, dass für sie bei Rückkehr eine reale Gefahr der Verfolgung bestünde. Seit Dezember 2010 sehe UNHCR ehemalige Militärangehörige aus der Zeit des kommunistischen Regimes nicht mehr als gefährdete Personen in Afghanistan an. Die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan würde zudem als solche nicht zu einem derart hohen Risiko führen, dass bei Rückkehr automatisch die Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK bestünde.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 11/2015:
Der Beschwerdeführer ist kirgisischer Staatsangehöriger usbekischer Volkszugehörigkeit. Er lebt seit 2010 in der Russischen Föderation, in die er geflüchtet war, nachdem es in Osch in Kirgisistan zu ethnisch motivierten Ausschreitungen zwischen Kirgisen und Usbeken gekommen war. Anträge des Beschwerdeführers auf Flüchtlingsschutz und vorläufiges Asyl wurden abgelehnt. Im April 2012 wurde er von den kirgisischen Behörden in Osch in Abwesenheit angeklagt. Der Vorwurf bezog sich auf die Teilnahme an Ausschreitungen und weitere Straftaten. Die kirgisischen Behörden richteten ein Auslieferungsbegehren an die Russische Föderation. Im Januar 2013 wurde der Beschwerdeführer in St. Petersburg verhaftet und in Auslieferungshaft genommen. Die Haft wurde mehrmals verlängert. Im Juli 2013 wurde dem Auslieferungsbegehren durch die russische Generalstaatsanwaltschaft zugestimmt. Nachdem der Beschwerdeführer die Entscheidung vor russischen Gerichten erfolglos angefochten hatte, beantragte er vor dem EGMR eine vorläufige Maßnahme gemäß Art. 39 der Verfahrensordnung des Gerichts. Er begründete seinen Antrag damit, dass ihm im Fall der Auslieferung nach Kirgisistan unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohe. Der EGMR erließ die vorläufige Maßnahme, woraufhin der Beschwerdeführer im März 2014 aus der Auslieferungshaft entlassen wurde.
Der Gerichtshof stellt in der nun ergangenen Hauptsacheentscheidung im Hinblick auf Auslieferungen nach Kirgisistan fest, dass ethnische Usbeken im Süden des Landes von staatlichen Bediensteten gefoltert würden und ihnen unmenschliche Behandlung zugefügt werde. Ein solches Vorgehen sei nach Juni 2010 weit verbreitet gewesen und bestehe fort. Die Situation werde dadurch verschlimmert, dass kein staatlicher Akteur für diese Verbrechen zur Rechenschaft gezogen worden sei. Der Gerichtshof betont, dass es im vorliegenden Fall als Nachweis für die individuelle Betroffenheit des Beschwerdeführers ausreicht, wenn er nachweist, dass er der Gruppe angehört, die systematischen Verletzungen von Art. 3 EMRK ausgesetzt sei. Dies gelte vor allem im vorliegenden Fall, da der Beschwerdeführer, ein ethnischer Usbeke, angeklagt worden sei, schwere Straftaten im Rahmen der Unruhen im Juni 2010 begangen zu haben.
Der Gerichtshof setzt sich auch mit der diplomatischen Zusicherung Kirgisistans auseinander. Darin war der Russischen Föderation zugesichert worden, dass der Beschwerdeführer im Fall der Auslieferung keine Verletzungen von Art. 3 EMRK zu befürchten hätte. Zusätzlich wurde russischen Diplomaten die Möglichkeit eingeräumt, den Beschwerdeführer in Untersuchungshaft in Kirgisistan zu besuchen. Der EGMR ließ diese diplomatische Zusicherung nicht gelten. Weder sei Kirgisistan Mitglied des Europarats, noch sei ersichtlich, dass ein effektives System bestehe, welches Schutz vor Folter und unmenschlicher Behandlung gewährleiste. Auch sei keine Garantie dafür gegeben worden, dass der Beschwerdeführer ohne Zeugen mit russischen Diplomaten sprechen könnte. Auch gebe es kein praktikables Verfahren, wie der Beschwerdeführer sich bei Verstößen in Haft gerichtlich zur Wehr setzen könnte. Da der Beschwerdeführer damit vor Verletzungen von Art. 3 EMRK nicht geschützt sei, verurteilte der Gerichtshof die Russische Föderation wegen einer Verletzung des Verbots von Folter und unmenschlicher Behandlung.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 11/2015:
Hierbei handelt es sich um das erste Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Bezug auf die Lebens- und Misshandlungsgefahren im Fall einer drohenden Abschiebung nach Syrien.
In dem Fall geht es um zwei syrische Staatsangehörige und einen staatenlosen Palästinenser aus Syrien. Sie waren 2014 in Russland verhaftet worden, da sie gegen Aufenthaltsrechtsbestimmungen verstoßen hatten und ohne Erlaubnis gearbeitet hatten. Sie beantragten Asyl mit der Begründung, dass sie um ihr Leben in Syrien fürchteten. Ein russisches Gericht ordnete die Ausweisung, Abschiebung und Abschiebungshaft an. Ihre Berufung wurde in letzter Instanz in Russland abgelehnt. Durch eine vorläufige Maßnahme des EGMR nach Art. 39 der Verfahrensordnung des Gerichts wurde ihre Abschiebung ausgesetzt.
Da die meisten Europäischen Staaten keine Abschiebungen nach Syrien durchführen und zumeist Flüchtlingsschutz gewährt wird, befasste sich der Gerichtshof nach eigener Aussage hier erstmals mit einer drohenden Abschiebung nach Syrien. Der Gerichtshof bestätigte die Auffassung der Beschwerdeführer, dass eine Abschiebung ihr Recht auf Leben gefährden und einen Verstoß gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung darstellen würde. Zur Begründung stützte sich der Gerichtshof auf internationale Berichte und auf die individuellen Informationen der Beschwerdeführer. Jüngere UN-Berichte beschrieben die Situation in Syrien als »humanitäre Krise« verbunden mit »unermesslichem Leid«.
Die Beschwerdeführer stammen aus Aleppo und Damaskus, wo derzeit schwere Kämpfe stattfänden. M. A. berichtete von Tötungen seiner Verwandten durch bewaffnete Milizen, die den Bezirk übernommen hätten, in dem er lebte. Er befürchtete ebenfalls, getötet zu werden. L. M. ist staatenloser Palästinenser. Nach dem UNHCR sind »nahezu alle Gebiete, in denen eine größere Zahl von palästinesischen Flüchtlingen leben, direkt durch den Konflikt betroffen«. Die Gruppe benötigt nach Aussage des UNHCR internationalen Schutz.
Der EGMR kritisierte an der Entscheidung des russischen Gerichts insbesondere, dass es nicht untersucht habe, ob ein Risiko für eine unmenschliche Behandlung in Syrien bestehe. Stattdessen hätte sich das Gericht allein mit dem unrechtmäßigen Aufenthalt in Russland auseinandergesetzt.
Zusätzlich stellte der Gerichtshof eine Verletzung des Rechts auf Freiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Bst. f) EMRK fest. Die Haft der Beschwerdeführer wurde im Mai 2014 un rechtmäßig, nachdem feststand, dass keine Massnahmen zur Abschiebung nach Syrien getroffen werden konnten. Erschwerend stellte der Gerichtshof fest, dass es nach nationalem russischen Recht keine Möglichkeit gebe, die Rechtmäßigkeit der Haft anzufechten (Art. 5 Abs. 4 EMRK).
In Bezug auf die Beschwerde nach Art. 34 (Individualbeschwerderecht) stellte der Gerichtshof fest, dass den Beschwerdeführern untersagt wurde, sich mit ihren Rechtsanwälten und ihren Vertretern zu treffen. Weiter hatten die Beschwerdeführer angegeben, dass sie gezwungen worden waren, russischsprachige Erklärungen zu unterschreiben, mit denen sie ihre Asylanträge zurücknahmen, ohne den Inhalt zu kennen. Später hatten sie diese Erklärungen widerrufen.
Der Gerichtshof kritisierte, dass keine erkennbare Reaktion bezüglich dieser Vorwürfe erfolgt sei. Der EGMR stellte fest, dass die genannten Restriktionen eine Verletzung des Rechts auf ein Individualverfahren gemäß Art. 34 EMRK darstellten. Der Gerichtshof verfügte die sofortige Entlassung der Beschwerdeführer aus der Haft. Zum Zeitpunkt des Urteils des EGMR waren die Beschwerdeführer seit nahezu 18 Monaten inhaftiert.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 10/2015:
In der Sache M. K. geht es um einen algerischen Staatsangehörigen, der 2009 zu neun Jahren Haft für die Tötung eines algerischen Landsmanns in Frankreich verurteilt worden war. Seine Ausweisungsentscheidung wurde damit begründet, dass er eine ernste Gefahr für die (französische) öffentliche Ordnung darstellen würde. Nachdem er erfolglos gegen die Ausweisung vorgegangen war, stellte er einen Asylantrag. Diesen begründete er vor allem damit, dass er im Fall seiner Rückkehr nach Algerien mit Vergeltungsmaßnahmen vonseiten der Familie der getöteten Person rechnen müsse. Der Antrag wurde im März 2013 von den französischen Behörden mit der Begründung abgelehnt, dass die drohenden Gefahren nicht ausreichend seien, um von einer Verfolgungsgefahr bei Rückkehr nach Algerien auszugehen. Auch wenn der Beschwerdeführer möglicherweise unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein könnte, sei er vom subsidiären Schutz in Frankreich ausgeschlossen, da er eine ernste Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle. Gegen diese Entscheidung ging der Beschwerdeführer nach Ende seiner Strafhaft weiter vor, indem er unterstützende Aussagen von Freunden und Verwandten in Algerien beibrachte. Diese wurden allerdings vom französischen Gericht zurückgewiesen. Der Beschwerdeführer hatte sich zwischenzeitlich an den EGMR gewandt. Dieser erließ im Dezember 2013 eine vorläufige Maßnahme nach Art. 39 seiner Verfahrensordnung, sodass der Beschwerdeführer bis zur Entscheidung des Gerichtshofs nicht abgeschoben werden durfte.
In der Hauptsacheentscheidung urteilt der EGMR, dass die nationalen Gerichte die Fakten und Beweise in Bezug auf das Asylbegehren grundsätzlich am besten beurteilen können. Zwar gesteht der Gerichtshof dem Beschwerdeführer zu, dass es schwierig für ihn sei, neben den Aussagen von Freunden und Verwandten weitere Beweise zu erhalten, durch die er die Drohungen gegen ihn nachweisen könnte. Dennoch teilt der Gerichtshof die Zweifel der nationalen Stellen über den Wert dieser Aussagen, da sie von Personen verfasst worden seien, die dem Beschwerdeführer nahestünden. Der Gerichtshof stellt zudem maßgeblich darauf ab, dass die algerischen Stellen einen angemessenen Schutz für den Beschwerdeführer bereitstellen könnten oder er sich innerhalb Algeriens einen anderen Wohnort auswählen könnte, um möglichen Gefahren auszuweichen. Dementsprechend urteilte der Gerichtshof, dass keine ausreichende Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK im Fall der Abschiebung nach Algerien vorliege.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 9/2015:
Die Angelegenheit betrifft die drohende Abschiebung einer Familie in den Irak. Die Familie hatte im Jahr 2011 in Schweden Flüchtlingsschutz beantragt. Den Antrag hatte sie damit begründet, dass sie von al-Qaida verfolgt worden sei. Der Ehemann habe in Bagdad ein Geschäft besessen, bei seiner Kundschaft habe es sich ausschließlich um US-Amerikaner gehandelt. Die Familie sei Ziel zahlreicher Anschläge gewesen, darunter ein Bombenanschlag, der im Jahr 2006 verübt worden sei. Dabei seien ihr Haus und das Geschäft zerstört worden. 2008 seien der Vater und seine Tochter beschossen worden. Die Tochter sei an den Verletzungen gestorben. Seitdem seien sie ständig auf der Flucht innerhalb des Iraks gewesen und hätten deswegen auch keine Drohungen mehr erhalten. Die schwedischen Behörden und das erstinstanzliche schwedische Gericht hielten das Vorbringen für glaubhaft, wiesen den Asylantrag jedoch ab, da die Anschläge bereits einige Jahre zurücklagen und der Ehemann die Geschäfte mit amerikanischen Kunden bereits 2008 beendet habe. Daraufhin hätte die Familie zwei Jahre in Bagdad gelebt, ohne weiterhin Opfer von Anschlägen geworden zu sein. Sollten sie weiterhin Drohungen ausgesetzt sein, könnten sie um Schutz bei den irakischen Stellen nachsuchen. Gegen die angekündigte Abschiebung in den Irak erließ der EGMR im September 2012 eine vorläufige Maßnahme nach Art. 39 seiner Verfahrensordnung.
Im nun ergangenen Urteil bestätigte der EGMR die Sicht der schwedischen Behörden, dass keine Verletzung von Art. 3 EMRK bei Abschiebung drohe. Zwar hielt er die Schilderungen der Beschwerdeführer bezüglich der Anschläge und Drohungen bis 2008 für glaubhaft, jedoch stellte der Gerichtshof in seiner Begründung darauf ab, dass erhebliche Zweifel am Vorbringen der Beschwerdeführer bezüglich der Verfolgungssituation nach 2008 bestünden. So hätten sie vor der schwedischen Asylbehörde noch angegeben, dass sie seit dem Jahr 2008 keine persönlichen Drohungen von al-Qaida mehr erhalten hätten. Demgegenüber hätten sie im Verfahren beim EGMR vorgebracht, dass es noch im Jahr 2011 Anschläge von al-Qaida auf sie gegeben habe. Der Gerichtshof stellte vor allem darauf ab, dass den Beschwerdeführern in diesem Punkt nicht zu glauben sei. Dementsprechend folgte der Gerichtshof der Einschätzung der schwedischen Behörden und Gerichte, dass es keine ausreichenden Hinweise auf eine weiterhin bestehende Bedrohung gebe. Somit bestünde keine konkrete Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK bei Rückkehr. Der Gerichtshof ordnete jedoch an, dass die vorläufige Maßnahme nach Art. 39 bis zur Rechtskraft des Urteils in Kraft bleibt.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 9/2015:
In diesem Fall musste der Gerichtshof darüber entscheiden, ob die Auslieferung eines Marokkaners aus Belgien gegen Art. 3 EMRK verstoßen würde. Marokko hatte mit internationalem Haftbefehl im April 2005 seine Auslieferung beantragt. Die belgischen Behörden stimmten dem Ersuchen zu, der Beschwerdeführer ging daraufhin gerichtlich gegen die Auslieferung vor. Zwischenzeitlich wurde er im Jahr 2007 in Belgien wegen der Teilnahme an Aktivitäten einer terroristischen Organisation zu einer sechsjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.
Der Beschwerdeführer brachte vor den belgischen Gerichten vor, dass Folterungen von Terrorverdächtigen in Marokko üblich seien. Seine Beschwerde wurde vom belgischen Conseil d’État zurückgewiesen, da die Dokumente, auf die sich der Antragsteller berufen hatte, veraltet gewesen seien und nicht den Schluss erlauben würden, dass die Situation in Marokko für ihn gefährlich wäre.
Am 30. Juli 2010 erließ der EGMR eine vorläufige Maßnahme gemäß Art. 39 seiner Verfahrensordnung mit der Maßgabe, den Beschwerdeführer bis zur Entscheidung über seine Beschwerde nicht nach Marokko abzuschieben. Daraufhin wurde der Antragsteller aus der Haft entlassen, da das belgische Gericht die Länge seiner Haft für unverhältnismäßig hielt.
Der EGMR urteilte nun, dass die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Marokko einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellen würde. Im Fall der Abschiebung bestehe die konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung. Die vorläufige Maßnahme des Gerichtshofs bleibt bis zur Rechtskraft des Urteils bestehen. Dies ist von Bedeutung, da Belgien in einem früheren Auslieferungsfall in die USA eine vorläufige Maßnahme des EGMR missachtet hatte.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 6/2015:
Das Urteil betrifft die Beschwerde eines ehemaligen usbekischen Staatsangehörigen, der nach Ausbürgerung staatenlos ist und zuletzt in Russland lebte. Er hatte sich wegen seiner drohenden Auslieferung an Usbekistan an den EGMR gewandt. Die usbekischen Behörden werfen ihm vor, einer religiösen Terrororganisation anzugehören. Der EGMR hatte eine Maßnahme nach »Rule 39« seiner Verfahrensordnung verhängt, wonach der Beschwerdeführer vorläufig nicht ausgeliefert werden durfte. Die russischen Behörden hatten ihm daraufhin vorläufigen Schutz gewährt. Sein aktueller Aufenthaltsort ist aber unklar, es wird vermutet, dass er gewaltsam nach Usbekistan verbracht wurde.
Der Beschwerdeführer brachte vor, dass für ihn bei einer Rückkehr nach Usbekistan die tatsächliche Gefahr bestünde, einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die gegen Art. 3 EMRK verstößt. Der Gerichtshof stellte fest, dass es zahlreiche Berichte über Folter in Usbekistan gibt, ebenso wie über unmenschliche Haftbedingungen und die Verfolgung von politisch Andersdenkenden. Die russischen Behörden hätten die Risiken einer Auslieferung erkennbar nicht geprüft. Dementsprechend urteilte der Gerichtshof, dass die Auslieferung eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde. Eine weitere Verletzung von Art. 3 EMRK sah der Gerichtshof in Zusammenhang mit einer Verletzung von Art. 34 (Missachtung vorläufiger Maßnahmen). Der Gerichtshof stellte fest, dass Russland, unabhängig von einer Beteiligung bei der möglichen Entführung, die Verpflichtung hatte, den Beschwerdeführer vor solchen Handlungen zu schützen.
Russland wurde weiterhin verurteilt, gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) verstoßen zu haben, da der Beschwerdeführer acht Monate in Auslieferungshaft saß. Die Auslieferungshaft für mittelschwere Straftaten beträgt in Russland maximal sechs Monate. Die entsprechende Beschwerde wurde von den russischen Behörden erst 70 Tage nach Ablauf der maximalen Haftdauer behandelt.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 5/2015:
Die Große Kammer des EGMR hat in diesem Fall keine inhaltliche Entscheidung getroffen, weil der Antragsteller, ein homosexueller Mann aus Libyen, zwischenzeitlich einen Daueraufenthalt in Schweden erhalten hatte. Aus diesem Grund wurde der Fall aus dem Register des Gerichts gestrichen, obwohl sowohl der Antragsteller als auch die schwedische Regierung eine Entscheidung angestrebt hatten. Die Behörden hatten den Antragsteller, der nach schwedischem Recht mit einem Mann verheiratet ist, ursprünglich aufgefordert, nach Libyen auszureisen und von dort ein Einreisevisum zum Ehegattennachzug zu beantragen. Dass er während des Aufenthalts in Libyen gezwungen sein würde, seine sexuelle Orientierung zu verbergen, hielten die schwedischen Behörden für zumutbar. Ihre Rechtsauffassung war in der Vorinstanz von einer Kammer des EGMR bestätigt worden. Die Große Kammer sah nun aufgrund der Erteilung eines Aufenthaltsrechts in Schweden die Gefahr einer Verletzung von Art. 3 der EMRK (Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) als nicht mehr gegeben an.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 4/2015:
Der EGMR entschied in diesem Fall, dass eine Abschiebung eines dialysepflichtigen Antragstellers nach Kirgisistan keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK (Verbot der Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) darstellt. Der Antragsteller, ein Uigure aus Kirgisistan, hatte in Schweden einen Asylantrag gestellt und diesen unter anderem damit begründet, dass es ihm in Kirgisistan nach seiner Rückkehr nicht gelingen würde, eine Behandlungsmöglichkeit zu finden, bei der die notwendigen Blutdialyse gewährleistet wäre. Zusätzlich begründete er die Gefahr für ihn damit, dass er keine familiäre Unterstützung hätte und dass ihm deshalb aufgrund der mangelnden Notfallversorgung nach einer kurzen Zeit Todesgefahr drohen würde.
Der Gerichtshof stellte unter Berufung auf die Entscheidung »Pretty gegen Großbritannien« (Nr. 2346/02) fest, dass die Leiden, die von körperlichen oder mentalen Krankheiten ausgehen, tatsächlich eine Verletzung von Art. 3 EMRK begründen können, jedenfalls dann, wenn durch eine staatliche Maßnahme eine Verschlimmerung droht. Beispiele für solche Maßnahmen seien schlechte Haftbedingungen oder auch die Abschiebung einer Person. Allerdings müssten für die Festellung einer Verletzung von Art. 3 in diesen Fällen außergewöhnliche Umstände vorliegen, etwa besondere humanitäre Gründe.
Im vorliegenden Fall stellte der Gerichtshof fest, dass der Name des Antragstellers auf eine Warteliste für Dialysepatienten aufgenommen wurde, die für fünf Jahre gelte. Daher sei es unwahrscheinlich, dass ihm die Behandlung in Kirgisistan nach seiner Rückkehr verweigert werde. Die schwedischen Behörden versicherten, dass bei der Abschiebung die besonderen Bedürfnisse des Antragstellers berücksichtigt würden und dass ihnen gegenüber versichert worden sei, dass der Antragsteller nach seiner Rückkehr die notwendige medizinische Hilfe erhalten würde. Der Gerichtshof bezog sich auf die Versicherungen der schwedischen Behörden und stellte fest, dass die Abschiebung keine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
In einem abweichenden Votum stellte Richter de Geatano fest, dass die Abschiebung aus seiner Sicht eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde. Art. 3 EMRK sei absoluter Natur, daher sei eine Einschränkung des Grundsatzes, dass die Staaten Verletzungen dieser Norm unter allen Umständen zu verhindern hätten, nicht möglich. Entsprechend sieht der Richter keinen logischen Grund, warum eine Abschiebung nicht ausgeschlossen sein soll, wenn die Verletzung von Art. 3 durch eine natürlich auftretende Krankheit entstanden ist und in dem Staat, in den der Betroffene abgeschoben werden soll, keine adäquate Versorgung für die Erkrankung besteht. Die Mehrheit der Kammer des EGMR habe nicht ausreichend analysiert, ob der Antragsteller nach seiner Rückkehr tatsächlichen Zugang zu einer Blutdialyse habe. In Bezug auf die Zusagen, die Schweden für die Abschiebung gegeben habe, verweist der Richter auf den Fall »Tarakhel gegen die Schweiz« (Nr. 29217/12, Asylmagazin 12/2014, S. 424 ff.). Dort habe der Gerichtshof individuelle Sicherheitsgarantien von dem an die Europäische Menschenrechtskonvention gebundenen Staat verlangt. Hingegen würden im vorliegenden Fall diese individuellen Garantien nicht verlangt, obwohl der Staat, in den abgeschoben werden soll, nicht an die Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention gebunden sei.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 1-2/2015:
In zwei Kammerentscheidungen stellte der EGMR fest, dass in beiden Fällen eine Verletzung von Art. 3 EMRK bei Abschiebung in den Sudan drohen würde. Die Fälle betrafen zwei sudanesische Staatsangehörige, AA, Zugehöriger eines nicht-arabischen Stammes aus Darfur, und AF, aus Süd-Darfur (Volkszugehöriger der Tunjur), die sich beide seit 2010 in Frankreich aufhielten. Der Gerichtshof stellte fest, dass die Menschenrechtssituation im Sudan alarmierend sei, insbesondere für politische Oppositionelle, und dass bereits die Zugehörigkeit zu einem nicht-arabischen Stamm aus Darfur eine Verfolgungsgefahr darstelle. Seit 2014 habe sich die Situation im Sudan noch einmal verschlechtert. Eine drohende Abschiebung stellt daher in beiden Fällen ein Verstoß gegen Art. 3 dar.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 1-2/2015:
Der EGMR verurteilte in dieser Entscheidung die Russische Föderation wegen der drohenden Auslieferung eines Verdächtigen nach Usbekistan. Der Antragsteller ist ein usbekischer Staatsangehöriger, der in der Russischen Föderation in Auslieferungshaft geraten war. Usbekistan hatte das an Russland gerichtete Auslieferungsersuchen damit begründet, dass der Betroffene Mitglied einer extremistischen Organisation sei. Der Antragsteller hatte dann versucht, in Russland gerichtlich gegen die Entscheidungen vorzugehen. Sein Vorgehen war jedoch erfolglos, da Russland davon ausging, dass ihm keine reale Gefahr einer Misshandlung in Usbekistan drohen würde.
Der EGMR stellte zunächst fest, dass Personen, für die Usbekistan Auslieferungsanträge wegen der Anklage religiöser oder politischer Straftaten stellt, zu einer besonders schutzbedürftigen Gruppe zählen, da sie der Gefahr von Misshandlungen ausgesetzt seien. Weiter hätten die Behörden eine Untersuchungspflicht, um das Risiko von Misshandlungen zu bestimmen. Im vorliegenden Fall sei eine solche Einschätzung durch den Russischen Staat unterlassen worden. Der Gerichtshof zog internationale Berichte heran, in denen systematische und willkürliche Misshandlungen von Untersuchungshäftlingen in Usbekistan festgestellt wurden und stellte fest, dass die angebliche Mitgliedschaft in einer extremen religiösen Gruppe ein besonderes Risiko von Misshandlungen oder Folter nach Rückkehr darstellt. Dementsprechend sah der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot der Folter undder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung) im Fall der Abschiebung des Antragstellers. Im Hinblick auf Art. 5 Abs. 4 EMRK (Recht auf Überprüfung der Freiheitsentziehung) stellte der Gerichtshof fest, dass der Antragsteller keine Möglichkeit hatte, die Rechtmäßigkeit seiner Inhaftierung gerichtlich überprüfen zu lassen. Eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (Unschuldsvermutung) sah der Gerichtshof in der Ausweisungsentscheidung, da darin von der Schuld des Antragstellers ausgegangen wurde und damit die Entscheidung der usbekischen Gerichte vorweggenommen wurde.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 6/2015:
Der Beschwerdeführer stammt aus dem Iran. Er wurde während seines Asylverfahrens in der Schweiz zweimal zu seinen Fluchtgründen befragt. Wegen Abweichungen zwischen den beiden Aussagen wurden seine Angaben als unglaubhaft eingestuft und der Asylantrag wurde abgelehnt. Im Klageverfahren wurden zudem Kopien einer Vorladung und eines Urteils eines Teheraner Gerichts mit dem pauschalen Hinweis abgelehnt, dass ihnen kein Beweiswert zukäme.
Der EGMR entschied, dass die Unstimmigkeiten zwischen den Aussagen dadurch erklärt werden könnten, dass die erste Befragung nur summarischen Charakter hatte und dadurch, dass zwischen den beiden Befragungen etwa zwei Jahre lagen. Die durch den Asylsuchenden vorgelegten Kopien hätten außerdem näher überprüft werden müssen. Insgesamt habe der Beschwerdeführer in geeigneter Weise dargelegt, dass seine Abschiebung in den Iran eine Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) darstellen würde.
Hinweis: Eine auszugsweise Übersetzung dieser Entscheidung finden Sie in der Rechtsprechungsdatenbank bei www.asyl.net.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 12/2014:
Dieses Urteil betraf die drohende Abschiebung einer 72-jährigen russischen Staatsangehörigen. Sie machte geltend, in Russland keinen Zugang zu medizinischer Versorgung zu haben, da es für sie unmöglich sei, einen Platz in einem Pflegeheim zu erhalten. Zudem würde sie durch die Abschiebung von ihrer Tochter, einer finnischen Staatsangehörigen, getrennt.
Der EGMR entschied, dass eine Abschiebung von Frau Senchishak keine Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) darstellen würde. Weder die generelle Situation in Russland noch ihre persönlichen Umstände würden sie in die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bringen. Sie habe keine Beweise vorgebracht, die ihre Annahme rechtfertigen würden, dass sie keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung in Russland haben würde. In Russland gebe es neben der staatlichen Gesundheitsversorgung auch private Anbieter und es könne eine private Pflegekraft beschäftigt werden. Der Gerichtshof ging auch davon aus, dass ihr Gesundheitszustand bei ihrer Abschiebung berücksichtigt werde und dass eine angemessene Überstellung organisiert würde.
Darüber hinaus wies der Gerichtshof die finnische Regierung an, Frau Senchisak so lange nicht abzuschieben, bis das Urteil rechtskräftig geworden ist.
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Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 4/2015:
Die Große Kammer des EGMR entschied in diesem Fall, dass aufgrund einer außergerichtlichen Einigung kein Urteil ergeht und er »von der Liste gestrichen« wird (»struck out«). Es erfolgte daher keine Befassung mit den inhaltlichen Fragen. Belgien hatte zuvor der HIV‑infizierten Mutter und ihren drei minderjährigen Kindern einen Daueraufenthalt erteilt.
In der Sache ging es um die angeordnete Abschiebung einer HIV‑infizierten Frau und ihrer drei Kinder nach Nigeria. Die dem EGMR vorgelegten Fragen betrafen zum einen die Möglichkeit, effektiven Rechtsschutz in Belgien gegen die Abschiebungsanordnung zu erhalten, zum anderen aber auch die mögliche Verletzung von Art. 3 EMRK aufgrund von medizinischen Gründen. In einer Kammerentscheidung hatte der EGMR am 27. Februar 2014 noch entscheiden, dass eine Abschiebung der HIV‑kranken Frau nach Nigeria keine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde. Die Antragsteller und die belgische Regierung hatten daraufhin Rechtsmittel eingelegt und eine Befassung der Großen Kammer des EGMR beantragt.
Die Entscheidung der Großen Kammer wurde von einer abweichenden Meinung des Richters Pinto de Albuquerque begleitet. Er kritisierte die Entscheidung vehement, da nach seiner Meinung der Fall eine gute Gelegenheit geboten hätte, um das Urteil »N gegen Großbritannien« aus dem Jahr 2008 (Nr. 26565/05) zu korrigieren. In diesem Urteil hatte der EGMR hohe Hürden für den Schutz von schwer kranken Personen aufgestellt. Demnach würde allein die Verschlechterung der Lebenssituation und der Lebenserwartung keine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen, sondern es müssten außergewöhnliche Gefahren hinzukommen.
Richter Pinto de Albuquerque merkt hierzu an, dass die Antragstellerin im Verfahren »N gegen Großbritannien«, die an AIDS erkrankt war, kurz nach ihrer Abschiebung nach Uganda starb. Der Richter wirft der Rechtsprechung des EGMR Widersprüchlichkeit vor. Auf der einen Seite werde eine äußerst restriktive Auslegung des substanziellen Schutzes von Art. 3 EMRK in Krankheitsfällen vertreten. Dem stehe eine weite Auslegung der prozessualen Rechte für effektiven Rechtsschutz bei Asylsuchenden entgegen, wie etwa in Hirsi Jamaa u. a. gegen Italien (Nr. 27765/09).