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VGH Baden-Württemberg: Keine Dublin-Überstellung nach Ungarn wegen „systemischer Mängel“

In einem Urteil vom 5. Juli 2016 hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg entschieden, dass Deutschland einen Schutzsuchenden nicht im Rahmen des sogenannten Dublin-Systems nach Ungarn überstellen darf. Er ändert damit seine bisherige Bewertung der Situation für Asylsuchende in Ungarn.

Im konkreten Fall war ein alleinstehender junger syrischer Mann im Jahr 2014 über Griechenland, die sogenannte Balkanroute, Ungarn und Österreich nach Deutschland eingereist. Seinen hier gestellten Asylantrag lehnte das BAMF als unzulässig ab und ordnete seine Abschiebung nach Ungarn an. Gemäß der Bestimmungen der Dublin-Verordnung hatte Ungarn dem deutschen Ersuchen, den Betroffenen aufzunehmen zugestimmt. Mit seiner Klage gegen den BAMF Bescheid hatte der Betroffene bereits in erster Instanz beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Erfolg. Dieses hob den Bescheid mit der Begründung auf, dass im ungarischen Asylsystem sogenannte systemische Mängel bestünden, aufgrund derer zu erwarten sei, dass nach Ungarn überstellte Asylsuchende dort schwere Menschenrechtsverletzungen zu befürchten hätten. Doch das BAMF legte gegen diese Entscheidung des VG Berufung ein.

Der VGH wies die Berufung zurück, da er wegen systemischer Schwachstellen im ungarischen Asylsystem und insbesondere aufgrund drohender Inhaftierung ebenfalls davon ausgeht, dass der Schutzsuchende in Ungarn der Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung ausgesetzt sein würde. Anders als das VG stellte der VGH allerdings auf die Situation im Jahr 2014 ab, da bei der Zuständigkeitsbestimmung nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO vom Zeitpunkt der Asylantragstellung auszugehen sei. Der VGH bezieht sich dabei auf das Urteil des EuGH vom 07.06.2016 in der Rechtssache Ghezelbash gegen die Niederlande (C‑63/15, asyl.net: M23883). Für die Bewertung der Situation in Ungarn wertete der VGH zahlreiche aktuelle Länderinformationen aus und zog dabei auch Schlüsse für den gegenwärtigen Zeitpunkt. Obwohl die seit 2015 geltenden ungarischen Gesetzesnormen für die Anordnung von "Asylhaft" mit Art. 8 Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU) vereinbar seien, schätzte er deren praktische Anwendung als problematisch ein.

Laut VGH wurde Deutschland im vorliegenden Fall mit der Einreise und Asylantragstellung des Schutzsuchenden gem. Art. 3 Abs. 3 UA 2 und 3 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, da kein weiterer Mitgliedstaat (vorrangig) zuständig gewesen sei: In Griechenland herrschten seinerseits systemische Mängel und durch Österreich sei der Betroffene nur durchgereist. Damit sei die Unzulässigkeitsentscheidung des BAMF rechtswidrig gewesen.

Daneben finden laut dem VGH tatsächlich so wenige Abschiebungen nach Ungarn statt, dass er von einer „verschwindend geringen Überstellungsquote“ ausging. Entsprechend sei auch die vom BAMF verfügte Abschiebungsanordnung rechtswidrig gewesen, da eine zeitnahe Überstellung des Betroffenen nach Ungarn unter anderem aufgrund Ungarns Weigerung, Schutzsuchende zu übernehmen, nicht möglich gewesen sei.

Unabhängig von der Situation in Ungarn war die Entscheidung des BAMF aber laut VGH noch aus einem weiteren Grund fehlerhaft: Aufgrund des sogenannten Beschleunigungsprinzips der Dublin-Verordnung sei bereits prognostisch davon auszugehen, dass die Zuständigkeit für ein Asylverfahren auf Deutschland übergeht, wenn absehbar ist, dass die Überstellung nicht innerhalb von sechs Monaten erfolgen kann (vgl. Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO). Daher sei das BAMF verpflichtet, in derartigen Fällen ohne Ermessensspielraum sofort das sogenannte Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben.

Die Frage, ob Dublin-Überstellungen nach Ungarn rechtmäßig sind, bewerten deutsche Gerichte uneinheitlich. Eine Reihe von Gerichten geht wie der VGH aufgrund der aktuellen Auskunftslage von systemischen Mängeln in Ungarn aus. Zu der Frage sind bislang aber nur wenige obergerichtliche Entscheidungen ergangen. Das OVG Niedersachsen bestätigte zwar kürzlich eine Entscheidung des VG Oldenburg (asyl.net: Dublin M24073), welches ebenfalls systemische Mängel in Ungarn angenommen hatte, äußerte sich aber nicht abschließend zu der Frage, da es den Antrag des BAMF auf Berufungszulassung als nicht ausreichend begründet ablehnte. (OVG Niedersachsen, Beschluss vom 25.05.2016, 13 LA 7/16, asyl.net: M24072).

Andere Gerichte können keine Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung für Schutzsuchende in Ungarn feststellen, obwohl sie zugestehen, dass „nicht unerheblicher Mängel“ bestehen. So entschied zuletzt das VG Osnabrück in seinem Urteil vom 18.05.2016 (5 A 75/16, asyl.net: M23853), dass auch die ungarische Einstufung Serbiens als „sicherer Drittstaat“ nicht als Verstoß gegen das sogenannte Refoulement-Verbot der Genfer Flüchtlingskonvention zu werten sei. Der VGH Baden-Württemberg selbst hatte noch im Jahr 2013 keine Anhaltspunkte für systemische Mängel im ungarischen Asylsystem gesehen (Beschluss vom 06.08.2013,12 S 675/13, asyl.net: M21089 (Asylmagazin 10/2013).

Das Bundesverfassungsgericht hat diesbezüglich kürzlich vorgegeben, dass an eine ablehnende Eilrechtsentscheidung im Dublin-Verfahren erhöhte Anforderungen zu stellen seien und eine aktuelle Gesamtwürdigung der Situation im Zielstaat der Dublin-Überstellung erforderlich sei. Dabei käme regelmäßig übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen besondere Bedeutung zu. (Beschluss vom 21.04.2016, 2 BvR 273/16, asyl.net: M23800 (Asylmagazin 6/2016).

Unabhängig vom Dublin-System rügte der EGMR am gleichen Tag wie der VGH Baden-Württemberg die ungarische Praxis Asylsuchende zu inhaftieren. In seinem Urteil O.M. gegen Ungarn vom 05.07.2016 (Nr. 9912/15, asyl.net: M24024 (englisch)) stellte der EGMR eine Verletzung von Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) durch die Inhaftierung eines Schutzsuchenden fest, in dessen Fall keine individuelle Prüfung der Haft erfolgt war und dessen besondere Verletzlichkeit in Haft aufgrund seiner sexuellen Orientierung nicht berücksichtigt worden war. (Eine deutsche Zusammenfassung des Urteils erscheint in Asylmagazin 8/2016.)

  • Link zur Dublin III-Verordnung (EU 604/2013) auf asyl.net unter Gesetzestexte