Es ist nicht ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende in Ungarn systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der nach dort überstellten Asylbewerber erwarten lassen.
(Amtlicher Leitsatz)
Ein subjektives Recht auf Durchführung des Asylverfahrens im zuständigen Mitgliedstaat besteht zwar grundsätzlich nicht, Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO stellt jedoch eine Ausnahme von diesem Grundsatz dar, da diese Norm darauf abzielt, dem schutzwürdigen Interesse des Flüchtlings, dass sein Schutzgesuch in angemessener Zeit in der Sache geprüft wird, Geltung zu verschaffen.
(Leitsätze der Redaktion)
Anhaltspunkte dafür, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn derartige systemische Mängel aufwiesen, sind für den Senat nicht ersichtlich.
Ungarn unterliegt als Mitgliedstaat der EU dessen Recht und ist den Grundsätzen einer gemeinsamen Asylpolitik sowie den Mindeststandards eines gemeinsamen Asylsystems verpflichtet und somit ein sicherer Drittstaat im Sinne von Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG. Es ist demnach im Grundsatz davon auszugehen, dass in Ungarn die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention (GK) und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) sichergestellt ist. Das ungarische Asylrecht steht im Allgemeinen im Einklang mit den internationalen und europäischen Standards und enthält die wichtigsten Garantien. Für die im Eilverfahren nur mögliche summarische Prüfung ist dabei davon auszugehen, dass trotz möglicher Mängel in der Durchführung des Asylverfahrens durch die ungarischen Behörden diese Verpflichtungen jedenfalls soweit eingehalten werden, dass eine Rückführung nach Ungarn als zuständigen Staat zumutbar ist. Zwar ergibt sich aus den vorliegenden Quellen (Bericht des ungarischen Helsinki-Komitees vom April 2011) durchaus, dass Aufnahme- und Lebensbedingungen sowie die Unterbringungsbedingungen beanstandenswert und teilweise unzureichend waren. Ebenso wurden in der Vergangenheit regelmäßige Inhaftierungen von Asylbewerbern geschildert. Auch in der Anwendungspraxis zeigten sich einige Mängel (UNHCR, Ungarn als Asylland, Bericht zur Situation für Asylsuchende und Flüchtlinge in Ungarn, April 2012 - im Folgenden: UNHCR-Bericht - S. 6). Unregelmäßigkeiten tauchten vermehrt bei Flüchtlingen auf, die im Rahmen der Dublin II-VO nach Ungarn rücküberstellt wurden. Der UNHCR bewertete den Zugang zum ungarischen Asylverfahren für Dublin II-Rückkehrer als problematisch (UNHCR-Bericht S. 9). Diese hätten nur eingeschränkt Zugang zu einem Asylverfahren, weil sie nicht automatisch als Antragsteller behandelt würden. Ihr Asylantrag würde nach der Rücküberstellung als Folgeantrag gewertet (UNHCR-Bericht S. 9; Amnesty International, Positionspapier zu Rücküberstellungen nach Ungarn, 22.10.2012, S. 1). In den meisten Fällen folge bei einer Rückkehr nach Ungarn die Verhängung von Verwaltungshaft (UNHCR-Bericht, S. 10). Die Asylsuchenden hätten im Verfahren zur Prüfung von Folgeanträgen keinen Anspruch auf dieselben Leistungen wie Personen, die einen Erstantrag gestellt haben, selbst wenn ihre Anträge inhaltlich noch nicht geprüft worden seien (UNHCR-Bericht, S. 14).
In einem aktuelleren Bericht vom Dezember 2012 führt der UNHCR aber aus, dass das ungarische Parlament im November 2012 umfassende Gesetzesänderungen verabschiedet habe, denen zufolge Asylbewerber nicht ohne sachliche Prüfung des Asylantrags nach Serbien oder die Ukraine zurückgeschoben und nicht inhaftiert werden, wenn sie den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise einreichen. Dublin-Rückkehrer werden nicht inhaftiert und erhalten die Möglichkeit, ein noch nicht in der Sache geprüftes Asylverfahren zu Ende zu bringen. Diese Erkenntnisse decken sich mit den Angaben von Liaisonmitarbeitern des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge beim Ungarischen Amt für Staatsbürgerschaft und Einwanderung, die sowohl vom OVG Magdeburg (Beschluss vom 31.05.2013 - 4 L 169/12 - juris) als auch vom VG Augsburg (Beschluss vom 22.04.2013 - Au 6 S 13.3009 - juris) angeführt werden. Ausgehend von der Äußerung des UNHCR ist im konkreten Fall der Antragsteller nicht zu erkennen, dass derart eklatante Missstände vorliegen, die derzeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erwarten lassen, dass sie in Ungarn der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt würden (ebenso: OVG Magdeburg, Beschluss vom 31.05.2013, a.a.O.; VG Augsburg, Beschluss vom 22.04.2013, a.a.O.; Beschluss vom 27.03.2013 - Au 6 S 13.30051 - juris; Urteil vom 27.02.2013 - Au 7 K 12.30299 - juris; VG Regensburg, Urteil vom 08.02.2013 - RO 4 K 11.30204 - juris; Beschluss vom 12.04.2013 - RO 9 S 13.30114 - juris; VG Potsdam, Beschluss vom 26.02.2013 - 6 L 50/13.A - juris; VG Trier, Beschluss vom 15.01.2013 - 5 L 51/13.Tr - juris; VG Saarlouis, Beschluss vom 19.02.2013 - 3 L 397/13 - juris m.w.N.; VG Ansbach, Urteil vom 08.07.2011 - AN 11 K 30215 - juris Rn. 31 ff. m.w.N.).
Diese neuerliche Rechtsentwicklung verkennt das VG Ansbach, das in seinem Beschluss vom 07.01.2013 (- AN 11 E 13.30011 -) das Vorliegen systemischer Mängel in Ungarn bejaht. Auch das VG Magdeburg irrt, indem es in seinem Beschluss vom 11.04.2013 (- 9 B 140/13 - juris) unter Berufung auf den Beschluss des VG Hannover vom 18.03.2013 (- 1 B 2448/13 - asyl.net), der im Übrigen den genannten Beschluss des VG Ansbach wortwörtlich übernommen hat, von Rechtsänderungen ausgeht, die lediglich in Aussicht genommen seien. Demgegenüber wird in der Erkenntnis des (österreichischen) Asylgerichtshofs vom 09.07.2013 (S21 436096-1/2013 - abrufbar bei RIS) ausdrücklich festgehalten, dass in Ungarn am 01.01.2013 ein überarbeitetes Asylgesetz in Kraft getreten sei, das die nötigen Verbesserungen gebracht habe, weshalb nicht erkannt werden könne, "dass im Hinblick auf Asylwerber, die von Österreich im Rahmen der Dublin-Verordnung nach Ungarn rücküberstellt werden, aufgrund der ungarischen Rechtslage oder Vollzugspraxis systematische Verletzungen von Rechten nach der EMRK erfolgen würden, sodass diesbezüglich eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit im Sinne einer realen Gefahr für den Einzelnen bestehen würde." Der Asylgerichtshof gelangt deshalb, die ständige Spruchpraxis des Bundesasylamtes bestätigend, zu dem eingehend begründeten Schluss, "dass in Ungarn von einer unbedenklichen asylrechtlichen Praxis, der Beachtung des Non-Refoulement-Schutzes, der Existenz einer Grund- und Gesundheitsversorgung, sowie einer unbedenklichen Sicherheitslage ausgegangen werden kann. Ebenso vertritt Ungarn in Bezug auf die Auslegung der GFK, der Status-, Verfahrens- und Aufnahmerichtlinie, sowie der Beurteilung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat des BF keine relevanten Sonderpositionen innerhalb der Europäischen Union" (Erkenntnis vom 09.07.2013, a.a.O.). U.a. wird in dieser Entscheidung zu Recht darauf hingewiesen, dass kein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 f. AEUV eingeleitet sei, die Kommission und die Mitgliedstaaten mithin offenkundig davon ausgingen, dass Ungarn seine unionsrechtlichen Pflichten erfülle.
All dem setzen die Antragsteller nichts Substantiiertes entgegen, was auch nur im Ansatz geeignet wäre, Ungarn als "unsicheres" Asylland erscheinen zu lassen, in welches keine Rückführungen nach der Dublin-Verordnung vorgenommen werden sollten. Denn soweit sie auf Zeitungsberichte über die "Ungarische Garde", den Film "Just the Wind" und die Aktivitäten des Europäischen Parlaments bzw. seines Rechtsausschusses Bezug nehmen, ist ein Zusammenhang mit dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem und darauf beruhenden Rückführungen nach Ungarn nicht erkennbar. Dass der vorliegende Fall nur dies und die beschleunigende Wirkung einer gewissen "Zuständigkeitsautomatik" im Regelwerk der Dublin-Verordnung betrifft, verkennen die Antragsteller auch mit ihrem weiteren Vorbringen, das sich mit ihrer angeblich guten Integration in die deutsche Gesellschaft und den Sympathien, die die Antragstellerin zu 5 genießt, befasst und letztlich den Beitrag zum Wohlergehen der deutschen Gesellschaft hervorheben will, den die Antragsteller angeblich leisten.
2. Das Verwaltungsgericht hat aber deshalb die (sofortige) Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung im Hinblick auf den Zielstaat Ungarn zu Recht ausgesetzt, weil dieser Staat nicht mehr als für die Prüfung der Schutzanträge der Antragsteller zuständig anzusehen ist.
Dies folgt allerdings wohl nicht aus Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO (zukünftig: Art. 13 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO), wonach die Zuständigkeit zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts endet. Denn nach Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO ist bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats von der Situation auszugehen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt (VG Ansbach, Beschluss vom 16.04.2009 - AN 3 K 09.30012 - juris Rn. 17; Urteil vom 08.04.2009 - AN 3 K 08.30139 - juris Rn. 31; so wohl auch: NdsOVG, Beschluss vom 02.08.2012 - 4 MC 133/12 - juris Rn. 9). Als die Antragsteller am 10.04.2012 in Österreich um Schutz nachsuchten, war seit dem illegalen Überschreiten der ungarischen Grenze aber erst ein Tag verstrichen.
Der Wegfall der Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des Schutzgesuchs der Antragsteller ergibt sich aber aus Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO (= Art. 29 Abs. 2 Dublin IIIVO), wonach die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat übergeht, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Diese Frist ist längst verstrichen, unabhängig davon, ob man für den Fristbeginn auf die Asylantragstellung in Österreich am 10.04.2012, die Zustimmung der ungarischen Dublinbehörde zur Rückübernahme der Antragsteller am 23.04.2012, die Bescheide des (österreichischen) Bundesasylamtes vom 23.06.2012, mit denen das Schutzgesuch der Antragsteller als unzulässig zurückgewiesen und sie in den für die Prüfung zuständigen Mitgliedstaat Ungarn ausgewiesen wurden, oder die sie betreffende Entscheidung des (österreichischen) Asylgerichtshofs vom 12.07.2012 abstellt. Die Frist kann zwar nach Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Dublin II-VO (= Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO) auf bis zu einem Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung - was hier nicht zutrifft - aufgrund einer Inhaftierung nicht erfolgen konnte, und auf höchstens achtzehn Monate, wenn der Asylbewerber flüchtig ist. Auf diese Maximalfrist, kann sich der Antragsgegner jedoch nicht berufen. Denn zum einen dürften die Antragsteller nicht als flüchtig zu betrachten sein, denn ihr Aufenthalt ist seit ihrer Einreise nach Deutschland am 09.08.2012 bekannt und war wohl auch während ihres (zweiten) Aufenthalts in Österreich im Jahre 2012 nie unbekannt. Zum anderen tritt eine Fristverlängerung nach Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO nicht automatisch ein, denn die Bestimmung stellt darauf ab, dass die Frist "verlängert werden kann" und nicht darauf, dass "sich die Frist verlängert" (VG Hamburg, Urteil vom 15.03.2012 - 10 A 227/11 - juris Rn. 21 m.w.N.). Es ist deshalb - auch im Hinblick auf Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO, wo von einer "Abstimmung zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten" die Rede ist - davon auszugehen, dass es einer einvernehmlichen Regelung zwischen den betroffenen Mitgliedstaaten bedarf (VG Hamburg, a.a.O., m.w N.; NdsOVG, Beschluss vom 02.08.2012 - 4 MC 133/12 - juris Rn. 12). Ein solches Einvernehmen wurde mit Ungarn bisher nicht hergestellt, vielmehr fand nach Aktenlage keinerlei Kontakt zwischen den deutschen und den ungarischen Behörden statt, weshalb auch eine konkludente Zustimmung aufgrund eventuell vorhandener Übung (vgl. dazu VG Freiburg, Beschluss vom 04.10.2010 - A 4 K 1705/10 - juris Rn. 2 m.w.N.) ausscheidet. Da die Antragsteller somit mangels Zuständigkeit Ungarns aus rechtlichen Gründen jedenfalls derzeit nicht nach dort abgeschoben werden können, spricht alles dafür, dass auch die hierauf abzielende Androhung rechtswidrig ist.
Dadurch dürften die Antragsteller auch in ihren eigenen Rechten im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO verletzt sein. Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Dublin II-VO dem Flüchtling kein subjektives Recht darauf einräumt, dass sein Asylantrag in einem bestimmten Mitgliedstaat geprüft wird. Denn die Rechtsstellung des Einzelnen wird durch das Zuständigkeitssystem der Dublin II-VO lediglich insoweit geschützt, als jedenfalls ein zuständiger Vertragsstaat für die Prüfung des Asylbegehrens eines Drittstaatsangehörigen gewährleistet sein muss. Demgemäß sind die im Dubliner Übereinkommen (und dementsprechend in der Dublin II-VO) niedergelegten Zuständigkeitsregeln an die Mitgliedstaaten adressiert und sehen Rechte und Pflichten für die EU-Mitgliedstaaten vor. Ein subjektives Recht auf Durchführung des Asylverfahrens im zuständigen Mitgliedstaat besteht daher grundsätzlich nicht (VG Freiburg, Beschluss vom 04.10.2010,
a.a.O., juris Rn. 12 m.w.N.; Hailbronner, AuslR, Band 3, § 27a AsylVfG Rn. 26 ff. m.w.N.; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, § 27a Rn. 25 ff., 123 ff. und 263). Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO stellt aber eine Ausnahme von diesem Grundsatz dar. Diese Norm zielt darauf ab, dem schutzwürdigen Interesse des Flüchtlings, dass sein Schutzgesuch - nach Ablauf eines gewissen Zeitraums, welcher der Klärung von Zuständigkeitsfragen vorbehalten ist - in angemessener Zeit in der Sache geprüft wird (Funke-Kaiser, a.a.O.). Insoweit steht ihm ein Anspruch auf sachliche Prüfung seines Asylantrags zu mit der Folge, dass er - und so auch die Antragsteller - gegen eine (Rück-)Überstellung deren Rechtswidrigkeit wegen Zuständigkeitsübergangs infolge Fristablaufs als eigene Rechtsverletzung geltend machen kann (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 15.03.2012, a.a.O., m.w.N.). [...]
Einsender: RA Manfred Weidmann, Tübingen, RBK, mit Mail vom 07.09.2013