Aktuell berichten Beratungsstellen, Anwältinnen und Initiativen zur Unterstützung Geflüchteter von Bescheiden des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), in denen bei Schutzsuchenden aus Syrien nur noch ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt wurde (siehe Moabit Hilft Meldung vom 9.4.2019). Bisher war es Praxis des BAMF, syrischen Schutzsuchenden den Flüchtlingsschutz oder zumindest subsidiären Schutz zu gewähren.
Auf Fragen aus den Bundestagsfraktionen von Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen gab das Bundesinnenministerium (BMI) an, das BAMF habe seine internen Leitsätze hinsichtlich des Herkunftslands Syrien Mitte März "aktualisiert" (Antwort vom 3.4.2019 auf mündliche Frage von MdB Jelpke und vom 5.4.2019 auf schriftliche Frage von MdB Amtsberg). Es wurde allerdings angemerkt, dass eine Billigung der Änderung durch das BMI noch nicht erfolgt sei.
Die Praxisänderung wird angesichts der weiterhin gravierenden Sicherheitslage in Syrien heftig kritisiert. In ihrer schriftlichen Frage hatte MdB Luise Amtsberg (Die Grünen) ausdrücklich auf die Diskrepanz zwischen der Sichtweise des BAMF, welches von sicheren Zonen in Syrien ausgeht, und dem letzten Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 13. November 2018 hingewiesen. Aus diesem gehe hervor, dass es in keinem Teil Syriens Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Folter gebe. Zudem würden Berichten zufolge Rückkehrende in Syrien befragt, inhaftiert oder seien „verschwunden“ (siehe asyl.net Meldung vom 14.2.2019). Aufgrund der Lage in Syrien forderte MdB Ulla Jelpke (Die Linke) das BMI auf, den geänderten Leitsätzen nicht zuzustimmen.
Die Versagung des subsidiären Schutzes hat weitreichende Folgen. So ist der Familiennachzug, der schon bei subsidiär schutzberechtigten Personen erheblich eingeschränkt wurde (siehe familie.asyl.net), zu Personen mit Abschiebungsverbot in der Praxis beinahe ausgeschlossen. Auf die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis haben Personen bei Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots keinen Rechtsanspruch mehr, sie erfolgt nur im Regelfall. Gehen sie gegen den Bescheid des BAMF vor, um einen internationalen Schutzstatus zu erhalten (sogenannte Upgrade-Klage), behalten sie den Status von Asylsuchenden (Aufenthaltsgestattung), anstatt einen regulären Aufenthaltstitel ausgestellt zu bekommen.
Seine Entscheidungspraxis zu Asylsuchenden aus Syrien hatte das BAMF bereits Anfang 2016 unter erheblicher Kritik geändert und gewährte in vielen Fällen nur noch subsidiären Schutz statt des Flüchtlingsschutzes. Da gleichzeitig der Familiennachzug zu subsidiär Geschützten ausgesetzt wurde, führte die geänderte BAMF-Praxis zu einer großen Zahl an Klagen, die immer noch alle Ebenen der Verwaltungsgerichtsbarkeit beschäftigen (siehe asyl.net Meldung vom 24.2.2017).
VGH Baden-Württemberg: Subsidiärer Schutz bei Wehrdienstentziehung
In diesem Zusammenhang traf der VGH Baden-Württemberg Ende März eine Entscheidung, die bemerkenswert ist, da der Gerichtshof trotz bereits erfolgter subsidiärer Schutzgewährung durch das BAMF ausdrücklich betont, dass die Gewährung lediglich von Abschiebungsverboten bei Wehrdienstentziehung nicht infrage kommt (asyl.net: M27123). In Bezug auf die Flüchtlingseigenschaft folgte der 4. Senat des VGH zwar dem 3. Senat (asyl.net: M26715), der in Abkehr von der Rechtsprechung des 11. Senats (asyl.net: M25209) bei Wehrdienstentziehung keine Verfolgung aus politischen Gründen annahm.
Jedoch enthält das Urteil umfassende Ausführungen dazu, dass zumindest Männern, die sich vom Wehrdienst entziehen, grundsätzlich subsidiärer Schutz gewährt werden müsse. Ihnen drohe weiterhin unmenschlicher Behandlung und daher die zweite Alternative des drohenden "ernsthaften Schadens", der Voraussetzung für den subsidiären Schutz ist (§ 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Subsidiärer Schutz sei aufgrund der besonderen Schwere der drohenden Rechtsgutsverletzung zu gewähren. Der VGH sieht „derzeit keinen Raum“ für Erwägungen, aufgrund der Machtkonsolidierung des Assad-Regimes dieser Personengruppe nur noch Abschiebungsverbote zuzusprechen. Unter Bezug auf den neuesten Lagebericht des Auswärtigen Amts zu Syrien vom 13.11.2018 stellt der VGH fest, dass sich die Gefährdungssituation für wehrdienstflüchtige Männer nicht rechtserheblich abgeschwächt habe. Der Bericht führe aus, dass trotz Abflauens der Bürgerkriegskämpfe nach wie vor eine tatsächliche Gefahr für Leib und Leben bestehe. Auch heute gebe es in keinem Teil Syriens Sicherheit vor willkürlicher Verhaftung und Folter durch die syrischen Sicherheits- und Geheimdienste, was insbesondere für Gebiete unter Regimekontrolle gelte.
Laut VGH unterscheiden geheimdienstliche Verhaftungskampagnen nicht zwischen „Dissidenten und neutralen Bürgern“. Von der Bundesanwaltschaft aufgenommene Ermittlungen könnten dazu führen, dass Rückkehrende gerade aus Deutschland vom syrischen Regime tatsächlich als Oppositionelle wahrgenommen werden könnten. Diese Erwägung des Gerichtshofs würde dann wiederum für eine flüchtlingsrelevante Verfolgung sprechen. Als sicher stellt der VGH jedenfalls fest, dass mit dem Rückgang der Kampfhandlungen der Einfluss der Sicherheits- und Geheimdienste wieder steigt.
BAMF-Bescheide: Abschiebungsverbot bei Wehrdienstentziehung
Das BAMF jedoch stellt in Bescheiden, die nunmehr auch in der Entscheidungsdatenbank abrufbar sind, nur noch Abschiebungsverbote bei Wehrdienstentziehung in Syrien fest. So erkannte etwa die BAMF-Außenstelle im Ankunftszentrum Gießen einem jungen Syrer christlichen Glaubens aus der Hafenstadt Tartus, der angab, erst nach seiner Flucht zum Wehrdienst aufgefordert worden zu sein, weder die Flüchtlingseigenschaft noch den subsidiären Schutz zu (asyl.net: M27158). Die Sanktionierung der Wehrdienstentziehung durch den syrischen Staat knüpfe nicht generell an eine vermutete oder vorhandene politische Überzeugung an, daher sei der Betroffene nicht als Flüchtling anzuerkennen. Dies befand auch die BAMF-Außenstelle im Ankunftszentrum Berlin im Fall eines 19jährigen Syrers aus der ostsyrischen Stadt Deir ez-Zor, der vor seiner Flucht noch nicht einberufen worden war (asyl.net: M27167). Nur bei Deserteuren oder bereits erfolgter Einberufung könne unter Umständen Verfolgung wegen der politischen Überzeugung drohen.
Im Gegensatz zur oben zitierten Entscheidung des VGH Baden-Württemberg wird in den Bescheiden in Bezug auf den subsidiären Schutz festgestellt, den wehrdienstentziehenden Männern drohe in Syrien weder Folter noch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung i.S.d. § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Der Gießener Bescheid enthält hier auch Ausführungen dazu, dass aufgrund der längerfristigen Ausreise und Asylantragstellung im Ausland keine Regimegegnerschaft durch den syrischen Staat unterstellt werde. Dass an dieser Stelle auf diese Frage eingegangen wird, ist allerdings verwunderlich, da die Frage einer (tatsächlichen oder unterstellten) politischen Gesinnung im Rahmen der Definition des subsidiären Schutzes irrelevant ist.
Auch die dritte Alternative des ernsthaften Schadens (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG), individuelle Bedrohung durch willkürliche Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts, verneinte das BAMF in beiden Fällen. Das syrische Regime habe 2018 weite Teile des Landes zurückerobert, daher herrsche nicht mehr in allen Landesteilen ein bewaffneter Konflikt. Das BAMF Gießen gab an nur noch Idlib, Teile Aleppos, Raqqas und Deir ez-Zors sowie die Kurdengebiete seien von Kampfhandlungen unterschiedlichen Umfangs betroffen. In Berlin wurde festgestellt im Gebiet um Deir ez-Zor fänden weiterhin vereinzelte Angriffe statt, diese würden aber Zivilpersonen nicht in dem Ausmaß wie in der Vergangenheit gefährden. Zwischenzeitlich gebe es in Syrien weitgehend befriedete Gebiete in denen Zivilpersonen weitgehend gefahrlos leben könnten. In zwei weiteren Bescheiden des BAMF Gießen wurde davon ausgegangen, dass in der Provinz Idlib noch ein „bewaffneter Konflikt mit einer Gefahrenverdichtung für alle Zivilpersonen“ herrsche (asyl.net: M27159).
Das BAMF stellte in beiden Fällen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG fest. Im Gegensatz zur Auffassung des VGH Baden-Württemberg wird in den hier zitierten Bescheiden darauf verwiesen, dass den Betroffenen in Syrien keine individuelle Gefahr der Verletzung von Art. 3 EMRK durch einen konkret handelnden Akteur drohe. Eine Verletzung von Art. 3 EMRK drohe allerdings bei einer Rückkehr aufgrund der allgemein herrschenden humanitären Bedingungen. Angesichts der schlechten humanitären Verhältnisse sei davon auszugehen, dass Ausnahmefälle im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vorlägen (unter Bezug auf EGMR, Urteil vom 21.11.2011, Nr. 11449/07 Sufi und Elmi gg. das Vereinigte Königreich).