Kein Sondertermin bei bevorstehender Volljährigkeit:
1. Allein der Umstand, dass die Referenzperson demnächst volljährig wird, genügt nicht für die Annahme einer besonderen Notlage und rechtfertigt keinen bevorzugten Sondertermin. Auch bei minderjährigen Antragstellenden oder Referenzpersonen sind die Interessen der sonstigen Antragsteller zu berücksichtigen und die Termine zur Vorsprache grundsätzlich in chronologischer Reihenfolge abhängig vom Registrierungsdatum zu vergeben.
2. Sondertermine sind insbesondere bei schweren, nur im Bundesgebiet behandelbaren Krankheiten, der dringenden Gefahr für Leib oder Leben der Antragstellenden oder dem in Kürze bevorstehenden Tod der Referenzperson oder anderen besonderen Umständen des Einzelfalls, die im Verhältnis zu den Interessen anderer Antragstellender eine rasche Terminierung als dringlich erscheinen lassen, zu vergeben.
(Leitsätze der Redaktion, siehe mit gleicher Argumentation: VG Berlin, Beschluss vom 10.09.2024 – 11 L 619/24 V – asyl.net: M32858)
[...]
Nachdem den Antragstellern [...] die Erteilung der begehrten Visa zum Familiennachzug erteilt worden sind und der Rechtsstreit insoweit mit am 15. und 26. August 2024 eingegangenen Erklärungen übereinstimmend für erledigt erklärt worden ist, begehren nunmehr nur noch die Antragsteller zu 1, 3 und 7 die Erteilung von Visa zum Familiennachzug zu ihrem Sohn bzw. Bruder im Wege der einstweiligen Anordnung.
Die Antragsteller zu 1 und 2 sind nach eigenen Angaben die Eltern, die Antragsteller zu 3 bis 7 die Geschwister des am ... September 2006 in Syrien geborenen ..., dem mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - vom 11. Juni 2024 der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde. [...]
Die Antragsteller [...] registrierten sich am 24. Juni 2024 auf der Warteliste des Terminvergabesystems der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Beirut [...].
Am 22. Juli 2024 nahmen die Antragsteller zu 2, 4, 5 und 6 daraufhin einen Sondertermin in Erbil bei der Internationalen Organisation für Migration - IOM - war und stellten dort Anträge auf Familiennachzug, die der Auslandsvertretung in Erbil am 29. Juli 2024 zugingen. [...] Die Antragsteller zu 1, 3 und 7 wurden am 22. Juli 2024 hingegen nicht über die syrisch-irakische Grenze gelassen, sodass sie ihren Termin zur Vorsprache bei IOM in Erbil nicht wahrnehmen konnten. [...]
Der sinngemäße Antrag der Antragsteller zu 1, 3 und 7, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, ihnen Visa zum Familiennachzug zu erteilen, hat keinen Erfolg. [...]
1. Ein Anspruch des Antragstellers zu 1 auf Erteilung des begehrten Visums ergibt sich nicht aus § 6 Abs. 3 i.V.m. § 36a Abs. 1 Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG -. [...]
Zwar ist der am 9. September 2006 geborene Sohn des Antragstellers zu 1, dem infolge der Gewährung subsidiären Schutzes eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG erteilt wurde, im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (noch) minderjährig. Es befindet sich bisher auch kein sorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet. Die Minderjährigkeit der Referenzperson führt darüber hinaus auch zur Annahme des Vorliegens humanitärer Gründe nach § 36a Abs. 2 Nr. 2 AufenthG, die bereits dann vorliegen, wenn eines der Regelbeispiele des § 36a Abs. 2 Satz 1 AufenthG erfüllt ist [...].
Da der Antragsteller zu 1 jedoch weder in Beirut noch in Erbil bei der Botschaft bzw. bei IOM persönlich vorgesprochen hat, fehlt es an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG, wonach die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraussetzt, dass die Identität des Ausländers geklärt ist. Mit Blick auf § 5 Abs. 1 Nr. 1a, § 49 Abs. 5 Nr. 5 AufenthG ist für eine Entscheidung über die Visumserteilung vor diesem Hintergrund grundsätzlich eine vorherige persönliche Vorsprache der Antragsteller zur Gewinnung der erforderlichen Erkenntnisse insbesondere über deren Identität notwendig [...].
Dass von dem Erfordernis der persönlichen Vorsprache ausnahmsweise abzusehen und ein Ausnahmefall von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG anzunehmen ist, ist nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden. Durchgreifende Anhaltspunkte dafür, dass die Vorsprache des Antragstellers zu 1 in der Sache entbehrlich wäre, sind nicht erkennbar. Die mit der Antragstellung durch seine Prozessbevollmächtigte bei der Botschaft in Beirut ausweislich der betreffenden E-Mail für den Antragsteller zu 1 vorgelegte Fotokopie seines Reisepasses lässt eine Echtheitsprüfung etwa anhand der üblichen Sicherheitsmerkmale und damit die erforderliche ausreichende Gewissheit über die Identität nicht ohne Weiteres zu [...]. Selbst für den Fall, dass Identitätsdokumente im Original vorgelegt worden wären, müssten diese im Regelfall einer Plausibilitätskontrolle sowie einer Echtheitsüberprüfung unterzogen werden [...]. Die Identitätsprüfung ist also nicht auf eine bloße Einsichtnahme in die Personaldokumente beschränkt [...].
Ein Ausnahmefall von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG bzw. vom Erfordernis der persönlichen Vorsprache liegt auch nicht im Hinblick auf die den Antragstellern angekündigte lange Wartezeit auf der Terminwarteliste vor. Die Vorsprache zwecks Identitätsnachweises ist nicht deshalb ausnahmsweise entbehrlich, weil ein Zuwarten für den Antragsteller zu 1 unzumutbar wäre [...]. Zwar ist eine kurzfristige Vorsprache bei der Außenstelle der Antragsgegnerin in Beirut angesichts der von der Antragsgegnerin erwähnten immensen Zahl von Antragstellern, die sich auf der Warteliste befinden, und der damit verbundenen durchschnittlichen Wartezeit von 22 Monaten ausgeschlossen; es ist aber nicht objektiv oder subjektiv unmöglich, einen Vorsprachetermin zu erhalten. Eine Ausnahme von einer Regelerteilungsvoraussetzung besteht im Übrigen nur dann, wenn ein atypischer Fall vorliegt, der so weit vom Regelfall abweicht, dass die Versagung des Aufenthaltstitels mit der Systematik des Aufenthaltsrechts oder den grundlegenden Entscheidungen des Gesetzgebers nicht mehr vereinbar ist, was insbesondere dann gilt, wenn die Regelerteilungsvoraussetzung im Einzelfall derart unverhältnismäßig ist, dass es unzumutbar wäre, an ihr festzuhalten [...]. Ein Fall unterscheidet sich nicht bereits deshalb vom Regelfall, weil besondere, außergewöhnliche Umstände und Merkmale zu einer Abweichung von der Vielzahl gleich liegender Fälle führen. Vielmehr ist zusätzlich erforderlich, dass eine solche Abweichung die Anwendung des Regeltatbestandes nach seinem Sinn und Zweck unpassend oder grob unverhältnismäßig oder untunlich erscheinen lässt [...].
Die lange Wartezeit beruht vorliegend ersichtlich auf der von der Antragsgegnerin im gerichtlichen Verfahren plausibel dargelegten erheblichen Anzahl von Personen, die auf Vorsprachetermine warten und damit auf Kapazitätsengpässen der Auslandsvertretung, die der besonderen Situation in Syrien und Beirut geschuldet sind, ohne dass erkennbar wäre, dass ein strukturelles Organisationsdefizit der Antragsgegnerin gegeben ist [...]. Zurzeit befänden sich 85.874 Personen, die einen Antrag auf Familiennachzug zu einem subsidiärer Schutzberechtigten beantragt hätten, auf der bei der Auslandsvertretung in Beirut geführten Warteliste für einen Termin zur Antragstellung. Auf dieser Liste befänden sich 10.208 Fälle, bei denen Minderjährige betroffen seien, und hierunter wiederum 1.392 Fälle, bei denen die Referenzperson oder ein Antragsteller zwischen September 2024 und April 2025 volljährig würden. 1.484 Fälle beträfen Minderjährige unter 14 Jahren. Bei einer derart hohen Anzahl ähnlich gelagerter Fälle, in denen insbesondere wegen alsbaldigen Erreichens der Volljährigkeit der Referenzperson ein Rechtsverlust mit Blick auf einen möglichen Anspruch nach § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG droht, ist eine Atypik bezogen auf den Antragsteller zu 1 nicht auszumachen. Nach Auffassung der erkennenden Kammer ist es nicht unverhältnismäßig, wenn sich der Antragsteller zu 1 in die Reihe der Wartenden einreiht, ohne im Wege des Absehens vom Erfordernis der Klärung seiner Identität in einem persönlichen Vorsprachetermin privilegiert zu werden. Denn gerade im Vergleich zu Fällen anderer Antragsteller, bei denen unter 14 Jahre alte Minderjährige betroffen sind, die der Gesetzgeber als besonders schutzwürdig ansieht [...], ist ein Grund für eine zwingende Privilegierung im vorliegenden Fall mit Blick auf das Kindeswohl der in wenigen Tagen volljährig werdenden Referenzperson nicht erkennbar. Dass die Antragsgegnerin angesichts der in vielen Fällen tangierten Minderjährigen nicht regelmäßig ohne weitere hinzutretende Gründe Ausnahmen von der Regelerteilungsvoraussetzung der grundsätzlich im persönlichen Vorsprachetermin zu klärenden Identität der Antragsteller machen kann, ist angesichts der Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland nachvollziehbar und nicht zu beanstanden.
Ebenso wenig ist es zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin Termine zur Vorsprache grundsätzlich in chronologischer Reihenfolge abhängig vom Registrierungsdatum ergibt und Sondertermine nur einräumt, wenn besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen, die im Verhältnis zu den Interessen anderer Antragsteller eine rasche Terminierung als dringlich erscheinen lassen, insbesondere bei schweren, nur im Bundesgebiet behandelbaren Krankheiten, der dringenden Gefahr für Leib oder Leben der Antragsteller oder dem in Kürze bevorstehende Tod der Referenzperson. Die Antragsgegnerin hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass die Minderjährigkeit allein keine gebundene Terminvergabepraxis bedinge; vielmehr seien auch bei minderjährigen Antragstellern oder Referenzpersonen die Interessen der sonstigen Antragsteller zu berücksichtigen. Da dem Recht des minderjährigen Kindes, von seinen Eltern betreut zu werden, umso dringender Geltung zu verschaffen sei, je jünger der minderjährige Antragsteller bzw. die Referenzperson sei, komme die Priorisierung einer Referenzperson, die in weniger als einem Monat volljährig werde, nicht in Betracht, weil die Vergabe eines Sondertermins in dieser Konstellation die Wartezeit anderer Antragsteller insbesondere auch in denjenigen Fällen verlängere, in denen unter 14-jährige Minderjährige betroffen seien. Die Vergabe eines besonderen Termins zur Vorsprache des Antragstellers zu 1 würde dem Grundsatz einer effektiven, nach rechtsstaatlichen Grundsätzen arbeitenden Verwaltung widersprechen. [...]
Allein der Umstand, dass die Referenzperson demnächst volljährig wird und der Antragsteller zu 1 dann schon aus diesem Grund keinen Anspruch aus § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG mehr wird herleiten können, genügt für die Annahme einer solchen besonderen Notlage nicht. Hierbei darf, wie bereits oben ausgeführt wurde, nicht unberücksichtigt bleiben, das eine Bevorzugung des Antragstellers zu 1 innerhalb des Terminvergabesystems bei den dargelegten begrenzten Kapazitäten der Botschaft in Beirut zu Lasten anderer Visumsantragsteller ausfallen würde, die unter vergleichbaren Umständen die Erteilung von Visa begehren. Woraus der Antragsteller zu 1 einen Anspruch auf Bevorzugung gegenüber anderen auf einen Vorsprachetermin wartenden Personen in ähnlicher Lage herleiten will, ist nicht erkennbar. An dieser Einschätzung vermögen auch Erwägungen des Kindeswohls nichts zu ändern, weil die Referenzperson zwar minderjährig ist, aber in wenigen Tagen volljährig wird. Es ist weder erkennbar noch seitens der Antragsteller vorgetragen, dass die Referenzperson zwingend auf die Anwesenheit des Antragstellers zu 1 angewiesen ist. Aufgrund seines Alters und der Betreuungssituation durch einen Vormund und in Kürze durch seine Mutter ist von einer besonderen Schutzwürdigkeit der Referenzperson nicht auszugehen. [...]
Die Voraussetzungen des § 22 S. 1 AufenthG liegen nicht vor. So sind völkerrechtliche Gründe in Form von internationalen Verpflichtungen weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Ebenfalls ist nicht erkennbar, dass sich die Situation des Antragstellers zu 1 von der Situation anderer syrischer Staatsangehöriger unterscheidet, deren Kinder das Herkunftsland verlassen haben [...]. Ferner ist eine Sondersituation im Sinne von § 22 AufenthG, die eine Einreise des Antragstellers zu 1 zu seinem minderjährigen Sohn im Hinblick auf den grundrechtlichen Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG dringend geboten erscheinen lässt, deshalb nicht gegeben, weil dieser jedenfalls wegen der bevorstehenden Einreise seiner Mutter für die kurze Zeit seiner noch bestehende Minderjährigkeit hinreichend geschützt sein wird. Auch mit Blick auf die anderen minderjährigen Kinder des Antragstellers zu 1 ist eine Unvereinbarkeit mit dem Kindeswohl nicht ersichtlich, da sich sämtliche Kinder unter der Obhut jedenfalls eines Elternteils befinden [...]