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VG Chemnitz

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Zitieren als:
VG Chemnitz, Beschluss vom 17.06.2024 - 1 L 165/24.A - asyl.net: M32627
https://www.asyl.net/rsdb/m32627
Leitsatz:

Aufenthaltsgestattung des Kindes steht Abschiebungsandrohung entgegen

1. Das Kindeswohl der minderjährigen Tochter steht einer Abschiebungsandrohung gegen die Eltern auch dann entgegen, wenn die Tochter lediglich Inhaberin einer Aufenthaltsgestattung auf Grund der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage im Asylverfahren ist. Ein "dauerhaftes" oder "gefestigtes" Aufenthaltsrecht des Kindes ist insofern keine Voraussetzung.

(Leitsätze der Redaktion. Beschluss unter Bezug auf EuGH, Beschluss vom 15.02.2023 - C-484/22 - asyl.net: M31329; entgegen OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 20.11.2023 - 4 LB 82/19 OVG - asyl.net: M32041; VG Minden, Urteil vom 15.03.2023 - 1 K 7619/17.A - juris; VG Karlsruhe, Beschluss vom 18.12.2023 - A 4 K 5016/23 - juris.)

 

Schlagwörter: offensichtlich unbegründet, Suspensiveffekt, Kindeswohl, Abschiebungsandrohung, Bleiberecht, Aufenthaltsgestattung,
Normen: AsylG § 34 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Zwar richtet sich die vorliegende Abschiebungsandrohung nicht gegen die minderjährige Tochter der Antragsteller. Das Kindeswohl ist aber auch in der Konstellation zu berücksichtigen, wenn die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung gegen die Eltern zu beurteilen ist [...]. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob das Kind bereits eine gefestigte Aufenthaltsposition innehat oder ob das Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist und das Kind somit lediglich im Besitz einer Aufenthaltsgestattung ist [...].

Das Bundesamt hat im vorliegenden Fall nicht hinreichend berücksichtigt, dass die Antragsteller aufgrund der Ablehnung ihrer Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf subsidiären Schutz durch den Bescheid des Bundesamtes vom .03.2024 als offensichtlich unbegründet grundsätzlich vollziehbar ausreisepflichtig sind, ihre minderjährige Tochter, deren Anträge durch den Bescheid vom .10.2023 jedoch nur einfach abgelehnt worden sind und deren Klageverfahren bei Gericht noch anhängig ist, aber nicht. Denn der minderjährigen Tochter der Antragsteller ist auch während des laufenden (gerichtlichen) Asylverfahrens der Aufenthalt im Bundesgebiet gestattet. Zwar handelt es sich bei der Aufenthaltsgestattung gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG um ein asylspezifisches verfahrensabhängiges Aufenthaltsrecht, das eigenständiger Natur ist und keinen Aufenthaltstitel i.S.v. § 4 AufenthG darstellt. Dem Asylsuchenden wird bis zur Klärung seiner Statusberechtigung von Verfassung wegen grundsätzlich - bis auf die Fälle des Art. 16a Abs. 4 Grundgesetz (GG) i.V.m. §§ 30, 36 AsylG - der Schutz zuteil, der nötig ist, damit das ihm möglicherweise zustehende Recht nicht gefährdet oder vereitelt wird. Deshalb kann er den verfassungsrechtlich garantierten Verfolgungsschutz im selben Maße beanspruchen wie ein Asylberechtigter [...]. Diese Aufenthaltsgestattung erlischt unter anderem, wenn die Entscheidung des Bundesamtes unanfechtbar geworden ist (§ 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AsylG). Der minderjährigen Tochter der Antragsteller ist demnach der Aufenthalt im Bundesgebiet bis zu einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung über ihre Klage gestattet [...]. Damit verfügt sie über ein, zwar auf die Dauer des Klageverfahrens beschränktes und vorläufiges, aber dennoch vor jedweder Überstellung in einen möglichen Verfolgerstaat schützendes Aufenthaltsrecht [...].

Die Antragsteller könnten - im Unterschied zu ihrer Tochter - dagegen grundsätzlich abgeschoben werden. Die Androhung ihrer Abschiebung nach Georgien lässt sich daher nicht mit dem Wohl des Kindes und den familiären Bindungen vereinbaren. Die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Antragsgegnerin, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Verbleib begehrenden Ausländers an Personen, die sich im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen [...]. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen [...]. Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu beiden Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in aller Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dient und das Kind beide Eltern braucht [...]. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen [...]. Zudem ist zu berücksichtigen, dass auch nur eine vorübergehende Trennung sehr kleine Kinder erheblich belasten würde, weil sie den (möglicherweise) nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung von einem Elternteil nicht begreifen können und diese rasch als endgültigen Verlust erfahren [...].

Hier kann die Lebensgemeinschaft zwischen den Antragstellern und ihrer minderjährigen Tochter aufgrund des dieser nach den obigen Ausführungen für eine heute unbestimmte Zeit zustehenden asylspezifischen verfahrensabhängigen Aufenthaltsrechts nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG jedenfalls derzeit und bis auf Weiteres nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden. Das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen zu seinen Eltern i. S. v. Art. 5 lit. a) und b) Rückführungsrichtlinie sind daher durch eine Abschiebung der Antragsteller nicht nur betroffen, sondern gebieten einen durchgehenden Aufenthalt der Antragsteller für die Dauer des Klageverfahrens ihrer minderjährigen Tochter [...]. Auf das nachträgliche Verfahren zur Erteilung einer Duldung durch die Ausländerbehörde müssen sich die Antragsteller nach der oben zitierten Rechtsprechung nicht verweisen lassen. Somit muss das öffentliche Interesse an einer wirksamen Vollstreckung der Ausreisepflicht (vgl. Erwägungsgrund Nr. 4 und 6 Satz 1 der Rückführungsrichtlinie) im konkreten Fall hinter dem Schutz des Kindeswohls und der familiären Bindungen zurückbleiben.

Soweit in der Rechtsprechung teilweise auf ein feststehendes "dauerhaftes Aufenthaltsrecht" [...], "gefestigtes Bleiberecht" [...] oder einen "in Aussicht stehenden" Aufenthaltstitel [...] abgestellt wird, vermag dem das Gericht daher nicht zu folgen. Der oben zitierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs lässt sich nicht entnehmen, dass im Rahmen der Prüfung des Wohls des Kinders und seiner familiären Bindungen nach Art. 5 Buchst. a) und b) RFRL ein in Aussicht stehender Aufenthaltstitel, ein gefestigtes oder gar dauerhaftes Bleiberecht der Eltern erforderlich ist. Im Gegenteil hat der Europäische Gerichtshof ausdrücklich ausgeführt, dass Art. 5 der Rückführungsrichtlinie im Hinblick auf seinen Zweck im Rahmen des mit der Richtlinie eingeführten Rückkehrverfahrens die Wahrung mehrerer Grundrechte - unter anderen die in Art. 24 der Charta verankerten Grundrechte des Kindes - zu gewährleisten, nicht eng ausgelegt werden darf [...]. Demzufolge genügt wie im vorliegenden Fall auch eine Aufenthaltsgestattung der minderjährigen Tochter der Antragsteller aufgrund ihres laufenden Asyl(klage)verfahrens, um die sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung als Verstoß gegen Art. 5 Buchst. a) und b) RFRL und damit als rechtswidrig anzusehen [...].

Auf die Frage, ob und inwieweit den Antragstellern tatsächlich akut eine Abschiebung nach Georgien droht, kann es nach den obigen Ausführungen nicht ankommen. Denn der europäische Gerichtshof hat ausdrücklich entschieden, dass Art. 5 Buchst. a und b RFRL einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, nach der die Verpflichtung, beim Erlass einer Abschiebungsandrohung das Wohl des Kindes und dessen familiäre Bindungen zu berücksichtigen, als erfüllt gilt, solange die Abschiebung nicht vollzogen wird (EuGH, Beschl. v. 15.02.2023 - C-484/22 -, juris Rn. 27). [...]