OVG Mecklenburg-Vorpommern

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Zitieren als:
OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 20.11.2023 - 4 LB 82/19 OVG - asyl.net: M32041
https://www.asyl.net/rsdb/m32041
Leitsatz:

Unzumutbarkeit internen Schutzes in der Russischen Föderation wegen erlittener Folter:

1. Wird eine Person von tschetschenischen Sicherheitsbehörden gefoltert, weil diese Informationen über eine*n Bekannte*n der Person erlangen wollen, fehlt es an der Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und einem Verfolgungsgrund gemäß § 3b AsylG, insbesondere einer, ggf. nur zugeschriebenen, politischen Überzeugung gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG.

2. Eine Person, die keinen Wehrdienst geleistet hat, über keine militärischen Fähigkeiten verfügt und über 30 Jahre alt ist, droht in der Russischen Föderation nicht die Einberufung zum Wehrdienst oder die zwangsweise Rekrutierung für den Krieg in der Ukraine. Zwar erfolgt die Rekrutierung in Tschetschenien teilweise auch durch Zwangsmaßnahmen, es ist aber nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der militärisch nicht ausgebildete Kläger einer solchen Zwangsrekrutierung unterliegen würde.

3. Hat eine Person in Tschetschenien Folter und damit einen ernsthaften Schaden gemäß § 4 Abs. 1 AsylG erlitten, ist gemäß Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie zu vermuten, dass ihr bei Rückkehr erneut entsprechende Handlungen drohen. Insbesondere liegen angesichts der äußerst besorgniserregenden Menschenrechtslage in Tschetschenien und der weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Akteure keine stichhaltigen Gründe vor, die gegen die Wiederholung der erlittenen Behandlung sprechen.

4. Personen aus Tschetschenien können in anderen Teilen der Russischen Föderation grundsätzlich internen Schutz gemäß § 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG finden, solange sie nicht in besonderer Weise politisch in Erscheinung getreten sind und daher kein landesweites Verfolgungsinteresse der föderalen Sicherheitsbehörden anzunehmen ist und solange keine greifbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die tschetschenischen Sicherheitsbehörden ein besonderes Interesse an ihrer Ergreifung haben und deshalb ihre Festnahme und Überstellung durch föderale oder lokale Behörden in der übrigen Russischen Föderation veranlassen oder sie auch außerhalb ihres örtlichen Zuständigkeitsbereichs inoffiziell verfolgen werden.

5.  Die Niederlassung am Ort des internen Schutzes gemäß § 3e Abs. 1 AsylG kann im Einzelfall jedoch unzumutbar sein, wenn sie für den Betroffenen aus anderen Gründen als der Verletzung von Grund- und Menschenrechten eine unerträgliche Härte bedeuten würde. Eine unerträgliche Härte ist hier anzunehmen, weil die betroffene Person im Herkunftsland gefoltert wurde und deshalb psychisch schwer erkrankt ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: interne Fluchtalternative, unerträgliche Härte, Härte, subsidiärer Schutz, Folter, Russische Föderation, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Militärdienst, Tschetschenien, Tschetschenen, ernsthafter Schaden,
Normen: AsylG § 3b Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4, AsylG 3e Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

21 5. Dem Kläger zu 1. ist die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen. [...]

25 5.2.1. Wenn der Kläger eine Wiederholung der von den tschetschenischen Sicherheitsbehörden gegen ihn gerichteten Verfolgungsmaßnahmen (§ 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylG) befürchtet, die zu seiner Ausreise geführt haben, fehlt es an der notwendigen Verknüpfung dieser Handlungen mit einem Verfolgungsgrund. Das Gericht konnte nicht feststellen, dass die Gewaltanwendung gegen den Kläger wegen einer bei ihm tatsächlichen bestehenden (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG) oder ihm zugeschriebenen (§ 3b Abs. 2 AsylG) politischen Überzeugung erfolgte. Der Kläger hat selbst nicht vorgetragen, in einer politisch gegnerischen Haltung zur tschetschenischen Regierung zu stehen oder sich oppositionell betätigt zu haben. Zwar genügt es für die Annahme einer ursächlichen Verbindung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund, wenn dem Ausländer die verfolgungsbegründenden Merkmale von den Verfolgungsakteuren lediglich zugeschrieben werden. Entscheidend ist die Kausalität im Sinne der erkennbaren Gerichtetheit der Verfolgung (BVerwG, Beschluss vom 30. Mai 2018 – 1 B 13.18 – juris Rn. 5). Nach dem Vortrag des Klägers erfolgte seine Vernehmung unter Anwendung von Gewalt und Folter jedoch nicht deshalb, weil die tschetschenischen Sicherheitsbehörden ihn für einen Regimegegner hielten, sondern weil sie in Erfahrung bringen wollten, ob er Informationen über einen Bekannten habe, den die Behörden für oppositionelle Handlungen verantwortlich machten. Andernfalls wäre auch nicht zu erwarten gewesen, dass der Kläger nach wiederholten Verhören freigelassen worden wäre und die Russische Föderation hätte verlassen können.

26 5.2.2. Der Kläger bringt weiterhin vor, er fürchte bei Rückkehr in die Russische Föderation eine Strafverfolgung und Bestrafung i.S.v. § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 5 AsylG. Er würde einer Einberufung zum Militärdienst oder einer zwangsweisen Rekrutierung nicht nachkommen, da er den Krieg gegen die Ukraine ablehne. Die Furcht des Klägers vor Verfolgung ist jedoch auch in dieser Hinsicht nicht begründet.

27 Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Einberufung in den Wehrdienst. In der Russischen Föderation ist der einjährige Wehrdienst für alle russischen Männer im Alter von 18 bis 27 Jahren obligatorisch [...]. Zum 1. Januar 2024 ist die Altersgrenze für die Wehrpflicht auf 30 Jahre angehoben worden [...]. Der Kläger unterliegt danach in der Russischen Föderation nicht der allgemeinen Wehrpflicht, da er sich nicht mehr im wehrpflichtigen Alter befindet.

28 Es lässt sich auch nicht feststellen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Mobilisierung in den Reservedienst zu befürchten hat. Der von Präsident Putin am 21. September 2022 unterzeichnete "Erlass über die Teilmobilmachung in der Russischen Föderation" sollte nur für russische Staatsangehörige gelten, die bereits in den russischen Streitkräften gedient und bestimmte herausragende militärische Fähigkeiten erworben haben oder über Kampferfahrungen verfügen. [...] Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes dürfen nach den geltenden  Durchführungsbestimmungen nur Personen mit militärischer Vorerfahrung im Wege der teilweisen Mobilmachung eingezogen werden (Auswärtiges Amt, 10.02.2023, Auskunft an Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, S. 2). Zu dieser Personengruppe rechnet der Kläger nicht, da er nach eigener Auskunft bisher keinen Wehrdienst geleistet hat. Der Umstand, dass auch Personen, die bis zur Vollendung des 27. bzw. 30. Lebensjahres wegen ihres Studiums oder ohne gesetzliche Grundlage nicht zum Pflichtwehrdienst herangezogen wurden, zur sog. passiven Reserve zählen und damit grundsätzlich zum Reservedienst herangezogen werden können [...], ändert nichts daran, dass sie von der bestehenden Teilmobilmachung, die nur einen kleinen Bruchteil der potenziellen Reservisten erfasst, nicht betroffen sind. Auch Berichte über irreguläre Einberufungen im Rahmen der Teilmobilmachung und eine verdeckte Mobilmachung durch Zwangsrekrutierung und finanzielle Anreize für einen freiwilligen Wehrdienst [...] begründen noch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Einberufung des Klägers zum Reservedienst, da sie kein flächendeckendes und unausweichliches System erkennen lassen, zumal das Erfordernis militärischer Vorkenntnisse für den Reservedienst in der gegenwärtigen Kriegssituation nachvollziehbar erscheint. [...] Dies gilt auch für die Situation in Tschetschenien, wo die Teilmobilmachung vom 21. September 2022 offiziell gar nicht zur Anwendung kam, weil Tschetschenien nach Ansicht des tschetschenischen Präsidenten Kadyrow zu diesem Zeitpunkt bereits überproportional viele Kämpfer in die Ukraine entsandt hatte. Die Rekrutierung von Soldaten aus Tschetschenien für die Gruppe Wagner, die Nationalgarde und für sog. Freiwilligenbataillone erfolgte bis dahin vor allem durch Anreize und Zwangsmaßnahmen [...]. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für den militärisch nicht ausgebildeten Kläger, in Tschetschenien zwangsrekrutiert zu werden, vermag das Gericht danach nicht zu erkennen. [...]

30 6. Dem Kläger zu 1. ist allerdings der subsidiäre Schutz zuzuerkennen. [...]

37 6.2. Der Kläger hat bereits in seinem Herkunftsstaat einen ernsthaften Schaden erlitten. Er hat zur Überzeugung des Gerichts die Gründe für seine Ausreise zutreffend dargelegt. [...]

38 Die Misshandlungen des Klägers sind als Folter zu qualifizieren. [...]

39 Zugunsten des Klägers ist deshalb zu vermuten, dass sich entsprechende Handlungen bei einer Rückkehr in die Russische Föderation wiederholen werden. Dabei ist zunächst auf die Tschetschenische Republik abzustellen. Bezugspunkt für die Gefahrenprognose ist der tatsächliche Zielort bei einer Rückkehr. [...]

40 Die Vermutung ist hinsichtlich der Herkunftsregion des Klägers auch nicht widerlegt. Es bestehen keine stichhaltigen Gründe, die die Gefahr einer Wiederholung der erlittenen Behandlung entkräften. Die Menschenrechtslage in Tschetschenien ist nach wie vor äußerst besorgniserregend. Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Akteure sind weit verbreitet. [...]

41 6.3. Die Zuerkennung von subsidiärem Schutz scheidet für den Kläger schließlich nicht deshalb aus, weil er gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG auf die Rückkehr in einen außerhalb der Tschetschenischen Republik liegenden Ort innerhalb der Russischen Föderation als einen Ort des internen Schutzes verwiesen werden könnte. [...]

42 6.3.1. Das Gericht geht allerdings davon aus, dass dem Kläger an einem Ort der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden droht. [...]

43 Die Macht der tschetschenischen Sicherheitskräfte ist außerhalb der Tschetschenischen Republik formal und faktisch durch den Herrschaftsanspruch der föderalen Sicherheitsbehörden eingeschränkt, die sich zum Teil weigern, mit den tschetschenischen Behörden zusammenzuarbeiten. Ein beträchtlicher Teil der tschetschenischen Bevölkerung hat Tschetschenien verlassen und lebt legal in anderen Teilen Russlands. [...]

44 Die Rechtsprechung geht daher überwiegend davon aus, dass Personen aus Tschetschenien in anderen Teilen der Russischen Föderation grundsätzlich verfolgungsfreien internen Schutz (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG) haben können, solange sie nicht in besonderer Weise politisch in Erscheinung getreten sind und daher kein landesweites Verfolgungsinteresse der föderalen Sicherheitsbehörden anzunehmen ist und solange ferner keine greifbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die tschetschenischen Sicherheitsbehörden ein besonderes Interesse an ihrer Ergreifung haben und deshalb ihre Festnahme und Überstellung durch föderale oder lokale Behörden in der übrigen Russischen Föderation veranlassen oder sie auch außerhalb ihres örtlichen Zuständigkeitsbereichs inoffiziell verfolgen werden (vgl. OVG Magdeburg, Urteil vom 28. Mai 2020 – 2 L 25/18 – juris Rn. 47; VGH München, Urteil vom 16. Juli 2019 – 11 B 18.32129 – juris Rn. 46 ff. und VG Potsdam, Urteil vom 7. November 2022 – VG 6 K 650/16.A – juris Rn. 16). [...]

45 6.3.2. Der Kläger kann auch sicher und legal in einen anderen Landesteil außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation reisen und wird dort aufgenommen. [...]

46 6.3.3. Vom Kläger kann jedoch nicht vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich an einem anderen Ort in der Russischen Föderation niederlässt. Die Niederlassung in einem sicheren Landesteil ist in diesem Sinne zumutbar, wenn bei umfassender wertender Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen persönlichen Verhältnisse am Ort des internen Schutzes nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit andere Gefahren oder Nachteile drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer für den internationalen Schutz relevanten Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen, und auch sonst keine unerträgliche Härte droht. Das wirtschaftliche Existenzminimum am Ort des internen Schutzes muss dabei nur auf einem Niveau gewährleistet sein, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt. Darüber hinausgehende Anforderungen sind keine notwendige Voraussetzung der Zumutbarkeit einer Niederlassung (BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2021 – 1 C 27.20 – juris Rn. 15 m.w.N.). Die Niederlassung am Ort des internen Schutzes kann aber im Einzelfall ausnahmsweise auch dann unzumutbar sein, wenn sie für den Betroffenen aus anderen Gründen als der Verletzung von Grund- und Menschenrechten eine unerträgliche Härte bedeutete (BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 – BVerwGE 171, 300 Rn. 32).

47 Im konkreten Einzelfall ist davon auszugehen, dass eine Rückkehr in die Russische Föderation für den Kläger aus persönlichen Gründen eine unerträgliche Härte darstellen würde. Zur Ausfüllung dieses Rechtsbegriffs kann die Richtlinie des UNHCR vom 23. Juli 2003 zum internationalen Schutz "Interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative" im Zusammenhang mit Art. 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge herangezogen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 – BVerwGE 171, 300 Rn. 32 zu Nr. 25 der Richtlinie und VGH Mannheim, Urteil vom 29. November 2019 – A 11 S 2376/19 – juris Rn. 35 zu Nr. 25, 26 der Richtlinie), auch wenn den Veröffentlichungen des UNHCR keine völkerrechtliche Bindungswirkung zukommt (BVerfG, Beschluss vom 28. September 2006 – 2 BvR 1731/04 – juris Rn. 13). Der UNHCR hat in Nr. 26 dieser Richtlinie die Auffassung vertreten, dass bei der Beurteilung der Zumutbarkeit einer Neuansiedlung im räumlichen Bereich des internen Schutzes eine durch Verfolgung im Herkunftsland erlittene psychische Traumatisierung eine wesentliche Rolle spielen kann. Insbesondere psychologische Gutachten, die eine erneute psychische Traumatisierung im Falle einer Rückkehr als wahrscheinlich erscheinen lassen, sprechen nach dieser Auslegung gegen die Entscheidung, das Gebiet als zumutbare Fluchtalternative anzusehen.

48 Ein solcher Fall liegt hier zur Überzeugung des Gerichts vor. Der Kläger hat nach Einschätzung seines behandelnden Facharztes aufgrund der erlittenen psychischen und physischen Folter eine schwere posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, die stationär und ambulant behandelt wurde bzw. wird. Er befindet sich nach wie vor in einer labilen psychischen Situation mit wiederkehrender Suizidalität und verbindet mit dem Gedanken an eine Rückkehr in die Russische Föderation Todesängste. Diese fachärztliche Einschätzung deckt sich mit dem Eindruck, den das Gericht in der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewonnen hat. Dort wurde auch deutlich, dass der Kläger in psychischer Hinsicht mit der Erwartung überfordert ist, seine ihrerseits hilfsbedürftige Familie unter den Lebensbedingungen in der Russischen Föderation ohne die Unterstützung seiner Großfamilie und auf sich allein gestellt außerhalb Tschetscheniens versorgen zu müssen, während er gleichzeitig dem Versuch ausgesetzt ist, als Vertragssoldat für die russische Armee rekrutiert zu werden. Selbst wenn man die Befürchtungen des Klägers bei objektiver Betrachtung als unbegründet ansieht, kommt es hierauf in diesem Ausnahmefall rechtlich nicht an, weil es dem Kläger aufgrund seiner verfolgungsbedingten Erkrankung nicht zumutbar ist, sich in der Russischen Föderation auch außerhalb seiner Herkunftsregion niederzulassen und diesen psychischen Belastungen standzuhalten. [...]