VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Beschluss vom 15.05.2024 - 22 L 764/24.A - asyl.net: M32459
https://www.asyl.net/rsdb/m32459
Leitsatz:

Keine systemischen Mängel für gesunde Schutzsuchende in Ungarn:

1. Schutzsuchende, die in Ungarn Asyl bzw. internationalen Schutz beantragen wollen, müssen grundsätzlich ein sog. "Botschaftsverfahren" durchlaufen, bevor sie ihr Schutzgesuch registrieren lassen können. Hierfür müssen sie zunächst bei der ungarischen Botschaft in Belgrad oder Kiew eine Absichtserklärung abgeben, Asyl beantragen zu wollen, die die ungarische Asylbehörde innerhalb von 60 Tagen prüft und dann eine Einreisegenehmigung für das Asylverfahren in Ungarn erteilen kann. Nach welchen Kriterien über die Erteilung einer solchen Einreisegenehmigung entschieden wird, ist nicht geregelt. Ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung ist nicht vorgesehen. Hinzu kommen praktische Erschwernisse für Schutzsuchende, wie etwa das Erfordernis, den Antrag in Englisch oder Ungarisch auszufüllen. Von diesem Verfahren sind nur wenige Personengruppen ausgenommen, insbesondere Familienangehörige von international Schutzberechtigten.

2. In dem von der Europäischen Kommission vor dem EuGH eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn (C-823/21) stellte dieser mit Urteil vom 22. Juni 2023 fest, dass Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus Art. 6 Asylverfahrensrichtlinie verstößt, indem es den Zugang zum Asylverfahren derart beschränkt. Gleichwohl wendet Ungarn das Botschaftsverfahren unverändert an.

3. Dublin-Rückkehrende sind von diesem Botschaftsverfahren aber nicht unbedingt betroffen. Nach aktueller Erkenntnislage besteht für sie die realistische Möglichkeit, den in einem anderen Mitgliedstaat gestellten Asylantrag zur Durchführung eines Asylverfahrens in Ungarn aufrechtzuerhalten.

4. Trotz der schwierigen Bedingungen für Migranten auf dem Arbeitsmarkt in Ungarn und fehlender Sprachkenntnisse erscheint es im Falle der 41-jährigen, alleinerziehenden Antragstellerin und ihres 15-jährigen Kindes nicht aussichtslos, dass sie nach einer Anerkennung Erwerbsarbeit finden können, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, wenn auch eventuell nur in Form kurzfristiger Arbeitsgelegenheiten oder körperlich anstrengender Tätigkeiten.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 22.06.2023 - C-823/21 - curia.europa; anderer Ansicht: VG Saarland, Beschluss vom 18.10.2023 - 5 L 837/23 - asyl.net: M31916; VG Aachen, Urteil vom 12.01.2023 - 5 K 2768/22.A (Asylmagazin 7-8/2023, S. 266 ff.) - asyl.net: M31467; VG Arnsberg, Beschluss vom 13.09.2022 - 1 L 827/22.A - asyl.net: M30912)

Schlagwörter: Ungarn, Dublinverfahren, Asylverfahrensrichtlinie, Botschaftsverfahren, systemische Mängel, Zugang zum Asylverfahren, alleinerziehend, Kindeswohl, Existenzgrundlage, Obdachlosigkeit,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/203 Art. 3 Abs. 2, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

Unter Anwendung dieser Maßstäbe fehlt es an hinreichenden Anhaltspunkten dafür, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen in Ungarn mit systemischen Mängeln behaftet wären, die für eine auf Grundlage der Dublin III-VO überstellte Person in der konkreten Situation der Antragsteller die beachtliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-GRCh bzw. Art. 3 EMRK zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss nach sich ziehen könnten.

Den Antragstellern, die bislang noch keinen Asylantrag in Ungarn gestellt haben, droht nach gegenwärtiger Erkenntnislage keine Abschiebung in einen Drittstaat ohne Gelegenheit, in Ungarn das Verfahren zur Prüfung ihrer Schutzanträge einzuleiten.

Dies gilt trotz des weiterhin geltenden sogenannten "Botschaftsverfahrens", das am 18. Juni 2020 (zunächst bis zum 31. Dezember 2020 befristet) in Kraft trat und später mehrfach verlängert wurde. Kernstück des "Botschaftsverfahrens" ist die Vorgabe, ein Schutzgesuch in Ungarn erst nach der Abgabe einer "Absichtserklärung" ("declaration of intent" - DoI) bei der ungarischen Botschaft in Belgrad/Serbien oder Kiew/Ukraine stellen zu dürfen. Personen, die in Ungarn Asyl bzw. internationalen Schutz beantragen wollen, müssen danach (mit Ausnahme einiger weniger Fallgruppen) zunächst folgende Schritte durchlaufen, bevor sie ihr Schutzgesuch registrieren lassen können: Zuerst ist die persönliche Einreichung eines "DoI" bei der ungarischen Botschaft in Belgrad oder in Kiew erforderlich. Dann wird das "DoI" an die Asylbehörde, die NDGAP (National Directorate-General for Aliens Policing), weitergeleitet, die es innerhalb von 60 Tagen prüft. Ggfs. wird dann eine Einreisegenehmigung für das Asylverfahren in Ungarn (und eine Vielzahl weiterer Schritte vor Antragstellung) erteilt. Nach welchen Kriterien über die Erteilung einer solchen speziellen Einreisegenehmigung entschieden wird, ist nicht geregelt. Ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung ist nicht vorgesehen. Hinzu kommen praktische Erschwernisse für Antragsteller wie etwa das Erfordernis, den Antrag in Englisch oder Ungarisch auszufüllen [...].

Von der vorstehenden Einleitung des Schutzgesuchs durch das Botschaftsverfahren sind nach diesen Bestimmungen lediglich die Folgenden Personengruppen ausgenommen: Personen, denen subsidiärer Schutz gewährt wurde und die sich in Ungarn aufhalten; Familienangehörige von anerkannten Flüchtlingen und Personen mit subsidiärem Schutzstatus, die sich in Ungarn aufhalten; Personen, die Zwangsmaßnahmen, Maßnahmen oder Strafen unterworfen sind, die die persönliche Freiheit beeinträchtigen, außer wenn sie Ungarn auf "illegale" Weise durchquert haben. Wer nicht zu diesen Gruppen zählt, kann in Ungarn keinen Antrag auf internationalen Schutz stellen [...].

In dem von der Europäischen Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn (C-823/21) stellte dieser mit Urteil vom 22. Juni 2023 fest, dass Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus Art. 6 der Richtlinie 2013/32/EU [...] verstoßen hat, indem es für bestimmte Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die sich in seinem Hoheitsgebiet oder an seinen Grenzen befinden, die Möglichkeit, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, von der vorherigen Abgabe einer Absichtserklärung bei einer ungarischen Botschaft in einem Drittstaat und von der Erteilung eines Reisedokuments für die Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet abhängig gemacht hat [...].

Dennoch ist das Botschaftsverfahren weiterhin in Kraft [...].

Von diesen Regelungen werden die Antragsteller als Dublin-Rückkehrer, die noch keinen Asylantrag in Ungarn gestellt haben, jedoch nicht unabhängig von ihrem Willen betroffen sein. [...]

Jedoch besteht für Dublin-Rückkehrer nach aktueller Erkenntnislage die realistische Möglichkeit, den in einem anderen Mitgliedstaat gestellten Asylantrag zur Durchführung eines Asylverfahrens in Ungarn aufrecht zu erhalten.

Nach der Auslegung und Praxis der ungarischen Asylbehörde (OIF) Antragsteller, müssen Personen, die in Ungarn noch keinen Asylantrag gestellt haben und im Rahmen des Dublin-Verfahrens zurückgeführt werden, bei ihrer Ankunft erklären, ob sie beabsichtigen, ihren im überstellenden Land gestellten Asylantrag aufrechtzuerhalten. Ist dies der Fall, wird das Asylverfahren eingeleitet. In der Darstellung der ungarischen Behörden ist der Ablauf folgendermaßen: Nach einer Dublin-Überstellung nach Ungarn kann der Antragsteller den Wunsch äußern, dass Ungarn das (aufgrund seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat eingeleitete) Asylverfahren durchführt. Der Antragsteller wird bei seiner Ankunft von der Fremdenpolizeibehörde danach befragt. Erklärt er, dass er seinen Antrag von Ungarn prüfen lassen möchte, wird  er von der Asylbehörde unverzüglich als Asylwerber registriert und ihm gegebenenfalls eine Unterkunft für die Dauer des Verfahrens zugewiesen [...]. Dies haben die ungarischen Behörden auch dem BMI-Verbindungsbeamten gegenüber nochmals bestätigt: im Falle einer positiven Entscheidung gemäß Artikel 12 der Dublin-III-Verordnung wird von Ausländern, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Ungarn zurückgeführt werden, eine Erklärung verlangt, dass sie ihren Antrag auf internationalen Schutz im Gebiet der Europäischen Union nach ihrer Rückkehr aufrechterhalten. Im Falle einer solchen Erklärung wird ihr Asylverfahren nach den geltenden Vorschriften durchgeführt. Der Antragsteller hat das Recht auf Aufenthalt, Unterbringung und Versorgung in Ungarn [...].

Dass den Antragstellern im weiteren Verlauf des Asylverfahrens oder im Falle einer Anerkennung eines internationalen Schutzstatus in Ungarn ein Verstoß gegen Art. 4 EU-GRCh bzw. Art. 3 EMRK ernsthaft droht, lässt sich ebenfalls nicht feststellen. [...]

Nach diesen Vorgaben ist in Bezug auf Ungarn nach aktuellem Kenntnisstand nicht davon auszugehen, dass der gesunden erwerbsfähigen Antragstellerin zu 1. sowie ihrem gesunden derzeit 15 Jahre alten Sohn, dem Antragsteller zu 2. im Falle einer Überstellung nach Ungarn eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung im beschriebenen Sinne droht. [...]

Die materielle Versorgung umfasst Unterbringung und Verpflegung (drei Mahlzeiten am Tag oder Essensgeld, Hygieneartikel oder entsprechenden Geldersatz sowie Kleidung) und medizinische Versorgung in den Unterbringungszentren [...].

Asylwerber haben nach neun Monaten ein Recht auf Arbeit. Dazu muss der potenzielle Arbeitgeber eine Arbeitserlaubnis für ein Jahr für den Asylwerber beantragen. Jedoch sind in der Praxis Arbeitgeber abgeneigt, Jobs an Asylwerber zu vergeben, die eine unsichere Aufenthaltsperspektive haben [...].

Im Falle der Zuerkennung internationalen Schutzes haben Schutzberechtigte den gleichen Zugang zu Sozialleistungen wie ungarische Staatsbürger, erfüllen jedoch in der Regel nicht den für den Zugang zur kommunalen öffentlichen Wohnungsversorgung vorausgesetzten längeren lokalen Voraufenthalt sowie die für die Gewährung von Arbeitslosengeld erforderte Dauer der vorangegangenen Erwerbstätigkeit (Arbeitnehmertätigkeit oder selbständige Erwerbstätigkeit von mindestens 365 Tagen in den letzten drei Wochen) [...].

Nach der Asylentscheidung dürfen Schutzberechtigte noch für 30 Tage in der Unterbringung bleiben und werden dort in dieser Zeit mit Mahlzeiten versorgt. Ende 2022 hielten sich 163 Personen in der Einrichtung Balassagyarmat auf [...].

Die NGO Menedék weist jedoch darauf hin, dass es nicht realistisch ist, innerhalb von 30 Tagen nach Erhalt des internationalen Schutzstatus eine Wohnmöglichkeit zu finden. In den letzten Jahren berichteten NGOs und Sozialarbeiter über extreme Schwierigkeiten für Personen mit internationalem Schutzstatus beim Auszug aus den Unterbringungszentren und bei der Integration in lokale Gemeinden. [...]

In Ermangelung staatlicher/kommunaler Unterbringungsangebote stehen für Personen mit internationalem Schutzstatus nur Obdachlosenunterkünfte (z. B. die vorübergehende Obdachlosenunterkunft des Baptistischen Integrationszentrums) und einige wenige Wohnprogramme von NGOs und kirchlichen Organisationen (z.B. Evangelisch-Lutherische Kirche, Jesuitischer Flüchtlingsdienst) zur Verfügung. Diese können jedoch nicht den kompletten Bedarf decken. [...]

Anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte haben in Ungarn Zugang zum Arbeitsmarkt im selben Ausmaß wie ungarische Staatsbürger. Zur Beschäftigung dieser Gruppen gibt es aber keine Statistiken. Auch hier ist die Sprachbarriere das größte Zugangshindernis. [...]

Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse stellen sich die Lebensverhältnisse für international Schutzberechtigte in Ungarn nicht allgemein als unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK dar [...].

Dies gilt auch für die Antragsteller unter Berücksichtigung ihrer individuellen Umstände. Die Antragsteller gehören als gesunde Personen im Alter von 41 bzw. 15 Jahren keiner besonders vulnerablen Gruppe an. Es fehlt auch im Übrigen an hinreichenden Anhaltspunkten dafür, dass es der Antragstellerin zu 1. und dem Antragsteller zu 2., der im ... 2024 das 16. Lebensjahr vollenden wird, unabhängig von ihrem Willen unmöglich oder unzumutbar wäre, während und nach Abschluss des Asylverfahrens (im Falle der Zuerkennung internationalen Schutzes) gemeinsam in Ungarn die zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz auf einem Mindestniveau erforderlichen Mittel zu erlangen, indem sie – unter vorbereitender und begleitender Inanspruchnahme der für sie zugänglichen Unterstützung durch staatliche Stellen und NGOs – Einkünfte durch eigene Erwerbstätigkeit erzielen. Trotz des schwierigen Arbeitsmarkts für Migranten in Ungarn erscheint es im Falle der Antragsteller nicht aussichtslos, dass sie Erwerbsarbeit finden, wenn auch eventuell nur in Gestalt kurzfristiger Arbeitsgelegenheiten oder körperlich anstrengender Tätigkeiten.

Die von der Antragstellerin zu 1. gegenüber dem Bundesamt geäußerten Gründe für ihren Wunsch, in Deutschland bleiben zu können (Frauen und Kinder hätten in der Bundesrepublik Deutschland mehr Rechte, der Antragsteller zu 2. besuche die Realschule in Deutschland und beherrsche aufgrund des Voraufenthalts der Familie in Deutschland vom 2016 bis 2021 auch schon die deutsche Sprache), vermögen kein anderes Ergebnis zu begründen. Vielmehr könnten Deutsch- und evtl. auch vorhandene Englischkenntnisse des Antragstellers zu 2. hilfreich bei der Kommunikation mit Behörden und NGOs in Ungarn sein. [...]