VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 03.04.2024 - 14a L 239/24.A - asyl.net: M32327
https://www.asyl.net/rsdb/m32327
Leitsatz:

Eilrechtsschutz aus familiären Gründen bei Ablehnung als offensichtlich unbegründet:

1. Gemäß 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AsylG [neue Fassung seit 24.02.2024] ist für den Erlass einer Abschiebungsandrohung nunmehr Voraussetzung, dass weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen der Abschiebung entgegenstehen. Diese Regelung ist auch auf solche Bescheide anzuwenden, die noch vor Inkrafttreten der Gesetzesänderungen erlassen wurden.

2. Die Abschiebungsandrohung ist voraussichtlich rechtswidrig, weil die Person mit ihrem minderjährigen Sohn in familiärer Lebensgemeinschaft lebt und dieser über eine Aufenthaltsgestattung verfügt, sodass seine Ausreise ausscheidet. Die Abschiebung des Elternteils würde seine grund- und europarechtlich geschützten, familiären Belange unangemessen beeinträchtigen.

(Leitsätze der Redaktion; Anmerkung der Redaktion: § 34 Abs. 1 AsylG wurde mit dem sog. Rückführungsverbesserungsgesetz der Rechtsprechung des EuGH angepasst, wonach vor Erlass einer Abschiebungsandrohung zu prüfen ist, ob zugunsten der betroffenen Person schutzwürdige Belange gemäß Artikel 5 Rückführungsrichtlinie [RL 2008/115/EG] greifen, siehe: EuGH, Beschluss vom 15.02.2023 - C-484/22 BR Deutschland gg. GS - asyl.net: M31329. Die bis dahin übliche Praxis, wonach solche familiären, das Kindeswohl betreffende oder gesundheitliche Belange nicht bei Erlass der Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, sondern erst durch Ausländerbehörden im Hinblick auf einen etwaigen Duldungsanspruch geprüft wurden, ist damit auch gesetzlich überholt.)

Schlagwörter: Asylverfahren, Abschiebungsandrohung, Rückführungsverbesserungsgesetz, Kindeswohl, Schutz von Ehe und Familie, vorläufiger Rechtsschutz,
Normen: AsylG § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, AsylG § 36 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung bestehen jedoch, soweit das Bundesamt das Vorliegen eines inländischen Abschiebungshindernisses ablehnt.

Vorliegend stehen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) die in § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG genannten Belange nicht nur einer Abschiebung der Antragstellerin zu 1., sondern bereits dem Erlass der Abschiebungsandrohung entgegen.

Die erst nach Bekanntgabe des Ablehnungsbescheides vom 1. Februar 2024 am 27. Februar 2024 in Kraft getretene Fassung der Bestimmung ist anzuwenden, da die Übergangsvorschriften der § 87ff AsylG - anders als zu § 30 AsylG - keine abweichende Regelung treffen. [...]

Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG in der zum jetzigen, für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung regelt, dass das Bundesamt nach den §§ 59 und 60 Absatz 10 des Aufenthaltsgesetzes eine schriftliche Abschiebungsandrohung erlässt, wenn der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen.

Die Änderung des § 34 Abs. 1 Satz 1 durch das Gesetz zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz) vom 21. Februar 2024 [...] dient der Anpassung an die durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs festgestellten unionsrechtlichen Anforderungen in Art. 5 a) und b) Rückführungsrichtlinie an die Abschiebungsandrohung. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind familiäre Bindungen oder Kindeswohlbelange nach Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) bereits bei der Entscheidung des Bundesamtes über den Erlass einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen (vgl. EuGH, Beschluss vom 15. Februar 2023 – C-484/22 –; VG Aachen, Urteil vom 17. Mai 2023 – 4 K 1665/20.A –; VG Düsseldorf, Urteil vom 3. April 2023 – 23 K 8471/21.A, sämtlich juris).

Dies hat der Gesetzgeber aufgegriffen, denn in der Begründung des Regierungsentwurfs des Rückführungsverbesserungsgesetzes heißt es:

"Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) muss vor Erlass einer Abschiebungsandrohung prüfen, ob zugunsten eines Antragstellers überwiegend schutzwürdige Belange im Sinne des Artikel 5 Halbsatz 1 Buchstabe a bis c der Rückführungsrichtlinie eingreifen. Liegen solche schutzwürdigen Belange vor, erlässt das BAMF keine Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung." (Begründung des Regierungsentwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung, BT-Drucksache 209463, S. 23 = BR-Drucksache 563/23, Seite 20).

Dieser gesetzgeberische Wille kommt in der Vorschrift hinreichend zum Ausdruck, denn aus dem Wortlaut lässt sich vor dem systematischen und historischen Hintergrund der Regelung zweifellos folgern, dass  das Bundesamt die Abschiebungsandrohung nicht erlässt, wenn die genannten Voraussetzungen nicht vorliegen.

Die nicht geänderte Bestimmung des § 43 Abs. 3 AsylG steht dem nicht entgegen. Auch wenn ihr Anwendungsbereich durch die Änderung des § 34 Abs. 1 AsylG eingeschränkt wird, läuft sie nicht vollständig ins Leere, sondern erfasst z.B. Fälle, in denen der Asylantrag des Familienangehörigen erst nach Abschluss des Asylverfahrens, aber vor Vollzug der Abschiebungsandrohung gestellt wurde.

Die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG sind vorliegend nicht erfüllt und stehen damit dem Erlass der Abschiebungsandrohung hinsichtlich der Antragstellerin zu 1. entgegen, weil sie unstreitig mit ihren minderjährigen Kindern, den Antragstellern zu 2. und 3. sowie dem minderjährigen Sohn ..., dessen abgetrenntes Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist, in einer häuslichen Gemeinschaft lebt.

Vor diesem Hintergrund spricht nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung Überwiegendes dafür, dass durch eine Abschiebung der Antragstellerin zu 1. die grundrechtlich und europarechtlich geschützten familiären Belange aller Antragsteller und des weiteren Sohnes unangemessen beeinträchtigt würden. [...]

Der Annahme eines inlandsbezogenen Abschiebungshindernisses steht ferner nicht entgegen, dass der Sohn der Antragstellerin ... soweit ersichtlich keinen dauerhaften Aufenthaltstitel hat. Denn jedenfalls verfügt er im entscheidungserheblichen Zeitpunkt und bis zum Abschluss seines Asylverfahrens über eine Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 Satz 1, § 67 AsylG und somit über ein, zwar auf die Dauer des Asylverfahrens beschränktes und vorläufiges, aber dennoch vor jedweder Überstellung in einen möglichen Verfolgerstaat schützendes Aufenthaltsrecht. [...]