Abschiebungsverbot für Kind wegen familiärer Beziehung im Inland:
1. Unter Berücksichtigung der jüngsten Rechtsprechung des EuGH zur Rückführungsrichtlinie [RL 2008/15/EG] ist § 60 Abs. 5 AufenthG unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass auch die im Inland bestehenden familiären Beziehungen und das Kindeswohl durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF] zu berücksichtigen sind. Laut EuGH ist das Kindeswohl nämlich nicht allein bei der Rückkehrentscheidung als solcher, sondern zwingend in allen Stadien des zu der Rückführungsentscheidung führenden Verfahrens zu berücksichtigen.
2. Ergibt die Würdigung der familiären Bindungen gemäß Art. 5 Bst. a, b der Rückführungsrichtlinie, dass eine Abschiebung dem Kindeswohl oder dem Recht auf Schutz familiärer Bindung gemäß Art. 8 EMRK widerspricht, ist das BAMF verpflichtet festzustellen, dass für die betroffene Person ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht.
3. Die bloße Aufhebung der Abschiebungsandrohung würde demgegenüber den unionsrechtlichen Anforderungen nach Art. 5 Bst. a, b der Rückführungsrichtlinie nicht gerecht. Entfiele lediglich die Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung, ohne dass ein Aufenthaltsrecht besteht, stünde dies der Pflicht entgegen, in jedem Stadium des Verfahrens und damit auch bei der Entscheidung über Abschiebungsverbote das Wohl des Kindes und den Schutz der familiären Bindungen zu berücksichtigen. Im Übrigen läge ein Verstoß gegen Art. 5 Bst. a, b Rückführungsrichtlinie vor, weil die bloße Aufhebung der Abschiebungsandrohung ohne ein Recht auf Aufenthalt für das betroffene Kind eine Situation großer Unsicherheit bedeuten würde und das Wohl des Kindes insofern nicht hinreichend berücksichtigt werden würde.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Beschluss vom 15.02.2023 - C-484/22 BR Deutschland gg. GS - asyl.net: M31329; anderer Ansicht: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 26.01.2024 - 15a K 4469/22.A - asyl.net: M32223; so auch: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 13.06.2023 - 9a K 250/21.A - justiz.nrw.de)
[...]
3. Für den Kläger ist jedoch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen.
Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsyiG) hat der Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK. Denn unter Berücksichtigung des Beschlusses des EuGH vom 15.02.2023 (Az.: C-484/22) ist § 60 Abs. 5 AufenthG unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass auch die im Inland bestehenden familiären Beziehungen des Klägers und sein Wohl als Kind durch das Bundesamt zu berücksichtigen sind. Der EuGH hat im Rahmen des Beschlusses festgestellt, dass Art. 5 Buchst, a und b der Richtlinie 2008/115/EG [...] dahingehend auszulegen ist, dass die Vorschrift verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken (EuGH, Beschluss vom 15.02.2023, C-484/22, juris, Rn. 28.).
Es gilt insoweit Folgendes: Das durch das Bundesamt geführte Asylverfahren führt zum Erlass einer Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie. Gem. § 34 Abs. 2 S. 1 AsylG soll die Abschiebungsandrohung mit der Entscheidung über den Asylantrag verbunden werden. Die Abschiebungsandrohung stellt eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4, Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 Rückführungsrichtlinie dar (vgl. BVerwG, Beschluss vom 08.06.2022, 1 C 24.21, juris Rn. 18) und hat somit unionsrechtlichen Anforderungen zu genügen. Indem der EuGH jedoch nicht allein die Rückkehrentscheidung als solche, sondern das gesamte zu dieser Entscheidung führende Verfahren in den Blick nimmt und festgestellt hat, dass ein Mitgliedstaat, der den Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen einen Minderjährigen in Betracht zieht, in allen Stadien des Verfahrens zwingend das Wohl des Kindes zu berücksichtigen hat, wird deutlich, dass nicht nur im Rahmen der Entscheidung über die Abschiebungsandrohung, sondern während des zu dieser Entscheidung führenden gesamten Asylverfahrens vor dem Bundesamt auch im Rahmen weiterer Entscheidungen die Garantien der Rückführungsrichtlinie zu berücksichtigen sind.
Insoweit hat das Bundesamt nunmehr die Aufgabe, auch inländische Sachverhalte entsprechend zu würdigen und über diese zu entscheiden. Das Bundesamt darf daher Gesichtspunkte des Familienschutzes nicht unberücksichtigt lassen. Dagegen spricht auch nicht die Gewährung eines mitgliedstaatlichen Spielraums zur Ausgestaltung des Verfahrens nach Art. 6 Abs. 6 Rückführungsrichtlinie [...]. Das Bundesamt ist nicht gehindert, sein Entscheidungsprogramm nach § 34 Abs. 2 AsylG aufrechtzuerhalten die Abschiebungsandrohung mit der Entscheidung über den Asylantrag zu verbinden, jedoch hat es dabei - bereits vor dem Erlass der Rückkehrentscheidung - eine umfassende und eingehende Beurteilung der familiären Situation des Betroffenen vorzunehmen und dabei das Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen.
Nach geltendem Unionsrecht ist es nicht zulässig, Belange des Kindeswohls und familiäre Bindungen erst in einem gesonderten Verfahren gegen die für den Vollzug der Abschiebung zuständige Ausländerbehörde zu berücksichtigen. Daraus folgt, dass neben zielstaatsbezogenen Gründen, die einer Abschiebung entgegenstehen, nunmehr auch inlandsbezogene Sachverhalte, durch das Bundesamt zu berücksichtigen sind. [...]
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Der minderjährige Kläger lebt in einer nach Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK schützenswerten Lebens- und Erziehungsgemeinschaft mit seinen Eltern, insbesondere auch mit seinem Vater. Der Vater des Klägers verfügt - wie oben ausgeführt - über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG. Eine Ausreise des Vaters ist nicht absehbar. [...]
Insoweit ist das Gericht davon überzeugt, dass im Fall der Abschiebung des Klägers und der damit einhergehenden Trennung zu seinem Vater dieser einen endgültigen Verlust erleiden würde, der entsprechende nachteilige Folgen für seine Entwicklung darstellen würde. Dabei ist auch das sehr junge Alter des Klägers (1 Jahr alt) besonders zu berücksichtigen.
Eine bloße Aufhebung der Abschiebungsandrohung würde den unionsrechtlichen Anforderungen nach Art. 5 lit. a und b der Rückführungsrichtlinie nicht gerecht. Entfiele gegenüber dem Kläger lediglich die Abschiebungsandrohung (und damit unionsrechtlich die Rückkehrentscheidung), ohne dass ein Aufenthaltsrecht für ihn besteht, stünde dies nicht nur der oben ausgeführten Pflicht entgegen, in jedem Stadium des Verfahrens - und damit auch bei der Entscheidung über Abschiebungsverbote - das Wohl des Kindes und den Schutz seiner familiären Bindungen und somit auch die innerstaatlichen familiären Bindungen zu berücksichtigen, sondern es läge zusätzlich ein Verstoß gegen die Verpflichtung zum Schutz des Kindeswohls und der familiären Bindungen nach Art. 5 lit. a und b der Rückführungsrichtlinie dadurch vor, dass der Kläger in eine Situation großer Unsicherheit hinsichtlich seiner Rechtsstellung und seiner Zukunft versetzt würde, ins besondere in Bezug auf seine (Schul-)Ausbildung, seine Verbindung zu seiner Familie oder die Möglichkeit, im Bundesgebiet zu bleiben (VG Gelsenkirchen, Urteil vom 13.06.2023, 9a K 250/21.A, juris Rn. 53). Die reine Aufhebung der Abschiebungsandrohung würde den Kläger in einen Schwebezustand bringen, weil er weder ein Recht zu bleiben hätte, noch verpflichtet wäre, das Bundesgebiet zu verlassen. [...]