Familiäre Bindungen im Inland begründen kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG:
"1. § 60 Abs. 5 AufenthG ist in seinem gegenwärtigen Norminhalt nicht unionsrechtlich fundiert, sondern findet seine Grundlage in den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland bezüglich den Garantien der EMRK.
2. Die unionsrechtliche Anforderung, das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen aus Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG in jeder Lage des Verfahrens zu beachten, führt nicht über das unionsrechtlich vorgesehene Abwehrrecht (status negativus) im Hinblick auf eine gegen Unionsrecht verstoßende Rückkehrentscheidung hinaus zur Begründung eines (neuen) Anspruchs (status positivus), der zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes (entsprechend § 60 Abs. 5 AufenthG) und in der Folge (§ 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) regelmäßig eines positivrechtlichen Aufenthaltsrechts führte.
3. Die Maßgaben aus Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG setzen den illegalen Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat voraus, beanspruchen aber nicht, diesen durch Begründung eines internationalen Schutzstatus oder nationalen Aufenthaltsrechts zu beseitigen.
4. Die unterbliebene Berücksichtigung von familiären Bindungen entgegen Art. 5 Buchst. b der Richtlinie 2008/115/EG vor Erlass der Abschiebungsandrohung begründet keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes unter Rückgriff auf Art. 7 EUGRCh, weil der sachliche Anwendungsbereich der Charta für diese inlandsbezogene Frage nicht eröffnet ist."
(Amtliche Leitsätze; unter Bezug auf: EuGH, Beschluss vom 15.2.2023 - C-484/22 BR Deutschland gg. GS - asyl.net: M31329)
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2. Die Abschiebungsandrohung und das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). [...]
Die Abschiebungsandrohung ist rechtswidrig, weil das Bundesamt vor ihrem Erlass die familiären Belange der Kläger entgegen Art. 5 Buchst. b der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, sog. Rückführungsrichtlinie, (nachfolgend: Richtlinie 2008/115/EG) nicht berücksichtigt hat. [...]
Das Wohl des Kindes, die familiären Bindungen und der Gesundheitszustand des betreffenden Drittstaatsangehörigen sind jeweils – jeder Belang für sich – als notwendige Bedingung für den Erlass einer Rückkehrentscheidung zu prüfen. [...]
Die im Wege des Familiennachzugs am 15. November 2017 in die Bundesrepublik Deutschland eingereisten Kläger leben zur Überzeugung des Einzelrichters aufgrund der Feststellungen in der mündlichen Verhandlung (§ 108 Abs. 1 VwGO) seit sechs Jahren im Bundesgebiet mit ihren vier weiteren Kindern bzw. Geschwistern zusammen. Sie bewohnen eine Wohnung und nutzen gemeinsam eine Küche. Sie unterstützen sich gegenseitig in den Dingen des täglichen Lebens. Der Kläger zu 1. fährt seine aufenthaltsberechtigte Tochter C. zur Schule, die Klägerin zu 2. kocht für alle und versorgt alle Familienmitglieder mit ihren Haushaltsleistungen. Die aufenthaltsberechtigten Kinder, insbesondere die zwei in Beschäftigung stehenden Söhne, unterstützen die Kläger zu 1. und 2. auch finanziell und mit ihren Sprachkenntnissen auf B1-Niveau in behördlichen Angelegenheiten. Der Kläger zu 3. hat zwar ebenso seine Bindung in seiner Schulklasse sowie seines Fußballvereins angeführt, aber ebenso glaubhaft dargelegt, sich ein Leben ohne seine aufenthaltsberechtigten Geschwister nicht vorstellen zu können. [...]
3. Aus Unionsrecht folgt in diesem Zusammenhang jedoch weder die Berechtigung noch die Verpflichtung zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG. [...]
Nach Auffassung der Kammer, die sich der vorerwähnten anderslautenden Instanzrechtsprechung nicht anzuschließen vermag, kann aus den Ausführungen des EuGH in Randnummer 52 seines Urteils vom 14. Januar 2021 – C-441/19 – keine Verpflichtung eines mitgliedstaatlichen Gerichts abgeleitet werden, über die Aufhebung einer gegen einen Drittstaatsangehörigen erlassenen Rückkehrentscheidung (hier: Abschiebungsandrohung) wegen Nichtberücksichtigung seiner Belange nach Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG hinaus, ein nationales Abschiebungsverbot festzustellen bzw. die nationalen Behörden insoweit zu verpflichten. [...]
Vor Erlass einer – erneuten – Rückkehrentscheidung sind die Gerichte nicht gehalten, im Hinblick auf Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis festzustellen oder den Mitgliedstaat hierzu zu verpflichten. Das Unionsrecht verlangt in diesem Verfahrensstadium zwingend, aber auch nicht mehr als dies, die Berücksichtigung der Belange aus Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG, bevor der Mitgliedstaat eine (erneute) Rückkehrentscheidung erlässt. Erst diese wäre, im Fall eines zulässigen Rechtsschutzersuchens, gerichtlich zu überprüfen. [...]
Daraus ist jedoch kein status positivus abzuleiten, der über die unionsrechtlich vorgegebenen Schutzstatus des internationalen Schutzes hinaus (Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/95/EU) aus Gründen des Unionsrechts die Feststellung eines positiv rechtlichen Aufenthaltsrechtes erforderte. Das Unionsrecht kennt nur die Status der Flüchtlingseigenschaft (Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95/EU) und des subsidiären Schutzstatus (Art. 2 Buchst. g der Richtlinie 2011/95/EU).
Demgegenüber ist § 60 Abs. 5 AufenthG in seinem gegenwärtigen Norminhalt nicht unionsrechtlich fundiert, sondern findet seine Grundlage in den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland bezüglich den Garantien der EMRK. [...]
Vor diesem Hintergrund führt die unionsrechtliche Anforderung, das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen aus Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG in jeder Lage des Verfahrens zu beachten, nicht über den dargestellten status negativus hinaus zur Begründung eines (neuen) status positivus, der zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes (§ 60 Abs. 5 AufenthG) und in der Folge (§ 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) regelmäßig eines positivrechtlichen Aufenthaltsrechts führte. [...]