VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Beschluss vom 14.11.2023 - A 7 K 72/21 - asyl.net: M31984
https://www.asyl.net/rsdb/m31984
Leitsatz:

Vorlagebeschluss an EuGH zu Familieneinheit und Bindungswirkung bei Anerkennung in EU-Staat: 

1. Wurde einer Person, die mit einem Kind und dem anderen Elternteil zusammenlebt, in einem anderen EU-Staat internationaler Schutz zuerkannt, der Asylantrag deshalb gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt und droht der Familie bei Rückkehr des Familienmitglieds in den EU-Staat die Trennung, ist eine entsprechende Abschiebungsandrohung gemäß der Rechtsprechung des EuGH aufzuheben. Denn der Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung steht Art. 5 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie entgegen, weil weder Kindeswohl noch familiären Bindungen berücksichtigt wurden.

2. Nicht geklärt ist hingegen die Frage, ob in dieser Konstellation neben der Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung auch die Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG aufzuheben ist. Es drängt sich auf, dass die Unzulässigkeitsentscheidung, wie bei einem drohenden Verstoß gegen Art. 4 GR-Charta, wegen eines drohenden Verstoßes gegen Art. 7 GR-Charta, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, aufzuheben ist. 

3. Ferner ist ungeklärt, inwieweit die Zuerkennung internationalen Schutzes in einem anderen EU-Staat die hiesigen Behörden an diese Feststellung binden würde, wenn eine Unzulässigkeitsentscheidung aufgrund Art. 7 GR-Charta ausscheiden würde. Ebenso ist ungeklärt, inwiefern die hiesigen Behörden an die Zuerkennung subsidiären Schutzes eines anderen EU-Staats gebunden sind und sie ggf. dazu verpflichtet, aufgrund dessen eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. 

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Beschluss vom 15.02.2023 - C-484/22 BR Deutschland gg. GS - asyl.net: M31329; VG Stuttgart, Beschluss vom 02.05.2023 - A 7 K 6645/22 - asyl.net: M31730)

Schlagwörter: Zulässigkeit, Familieneinheit, Bindungswirkung, internationaler Schutz in EU-Staat, subsidiärer Schutz, Schutz von Ehe und Familie, familiäre Lebensgemeinschaft, Anerkannte,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, RL 2008/115/EG Art. 5 Abs. 1, GR-Charta Art. 7, EMRK Art. 8, GG Art. 6 Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

15 Der Rechtsstreit ist auszusetzen, weil sein Ausgang von einer vorab einzuholenden Entscheidung des Gerichtshofs über die Auslegung der Verträge abhängt (Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV -). [...]

19 1. Mit der ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU nicht nur dann nicht ergehen darf, wenn im ursprünglich für die Bearbeitung des Asylantrags zuständigen Staat Zustände drohen, die eine Verletzung von Art. 4 GRCh (Art. 3 EMRK) mit sich brächten (EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 - C-540/17 und C-541/17 - ECLI:EU:C:2019:964), sondern auch dann, wenn aufgrund der Rückkehrentscheidung sowie der Unzulässigkeitsentscheidung eine Trennung der Familie drohen würde, die Art. 7 GRCh (Art. 8 EMRK) zuwiderliefe sowie gegen das Kindeswohl gem. Art. 5 Abs. 1 lit. a) Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG verstieße.

20 Die Frage ist entscheidungserheblich, weil der Kläger glaubhaft in der mündlichen Verhandlung am 12.05.2023 vorgetragen hat, dass er mit seinem Sohn und seiner Lebensgefährtin in Ulm zusammenwohnt. Demnach genießt die familiäre Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger und seinem Sohn den unionsrechtlichen Schutz von Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 GRCh. Der Kläger kann mit seinem Sohn die familiäre Lebensgemeinschaft auch nicht in Nigeria führen, weil ihm eine Rückkehr dorthin aufgrund des von Italien zuerkannten subsidiären Schutzes nicht zugemutet werden kann. Einem solchen Ansinnen steht bereits Ziff. 4 Satz 4 des streitgegenständlichen Bundesamtsbescheids) entgegen. Nachdem die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens des Sohnes des Klägers nach den Bestimmungen der Dublin III-Verordnung zuständig ist, kommt auch keine Familienzusammenführung nach Art. 11 Dublin III-VO 2013/604/EU in Italien nicht in Betracht. Es bliebe für ein Zusammenleben der Familie in Italien lediglich die Möglichkeit über das nationale italienische Ausländerrecht. Insoweit kann nicht (weder rechtlich, erst recht nicht tatsächlich) abgeschätzt werden, ob eine solche Familienzusammenführung in Italien möglich wäre. Mithin drohte der Familie die Trennung, sollte die Rückkehrentscheidung aufrechterhalten bleiben und führt in jedem Fall dazu, dass die Abschiebungsandrohung nach Italien als Rückkehrentscheidung aufgehoben werden muss, weil sie Art. 5 Abs. 1 lit. a) Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG zuwiderläuft. Dies erscheint nach der zuletzt ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs als geklärt (EuGH, Beschluss vom 15.02.2023 - C-484/22 - ECLI:EU:C:2023:122).

21 Demgegenüber erscheint ungeklärt, welche Auswirkungen diese Rechtsprechung des Gerichtshofs auf die Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU hat. Hier drängt sich eine Parallelwertung eines Verstoßes gegen Art. 4 GRCh (bezogen auf die humanitären Bedingungen im ursprünglich zuständigen Mitgliedstaat) und Art. 5 Rückführungsrichtlinie 2008/115/EU (bezogen auf die Wahrung der Familieneinheit) auf. Die Frage ist allerdings - soweit ersichtlich - vom Gerichtshof noch nicht endgültig geklärt.

22 2. Mit der zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht eine weitere Klärung dahingehend erreichen, ob die bereits verschiedentlich dem Gerichtshof vorgelegte Frage der Bindungswirkung einer Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates für den Fall, dass die Rücküberstellung des Betroffenen dorthin eine Verletzung in Art. 4 GRCh aufgrund der dortigen humanitären Verhältnisse bedeuten würde [...], auf die vorliegende Konstellation übertragbar ist, in der die Rücküberstellung aus Gründen der Wahrung der Familieneinheit (Art. 5 Abs. 1 lit. a) Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG) unzulässig wäre. Die Frage erweist sich als Anschlussfrage für den Fall, dass eine Parallelwertung zwischen Art. 4 GRCh und Art. 7 GRCh (bzw. Art. 5 Abs. 1 lit. a) Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG) im Sinne der ersten Vorlagefrage anzunehmen ist.

23 3. Frage 3 ist als Anschlussfrage zur zweiten Vorlagefrage zu verstehen und betrifft die bislang - soweit ersichtlich - ebenfalls noch nicht entschiedene Sachverhaltskonstellation, dass einem Antragsteller von dem ursprünglich zuständigen Mitgliedstaat nicht die Flüchtlingseigenschaft, sondern der subsidiäre Schutz zuerkannt worden ist. Hier erscheint klärungsbedürftig, ob auch bei bestehender Bindungswirkung dieser ursprünglichen Statusentscheidung ein Antrag auf "Aufstockung" dergestalt zulässig ist, dass über den - mittels Bindungswirkung feststehenden - subsidiären Schutz hinaus auch noch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragt werden kann. [...]

24 4. Frage 4 betrifft die in der nationalen Rechtsprechung [...] bislang abschlägig entschiedene Frage, ob es das Unionsrecht gebietet, einen Drittstaatsangehörigen, der im ursprünglich zuständigen Mitgliedstaat als subsidiär Schutzberechtigter anerkannt wurde, zumindest ausländerrechtlich so zu behandeln, als wäre diese Entscheidung durch die innerstaatlich zuständige Behörde getroffen worden. [...]

26 5. Mit der fünften Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine § 60 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3, Satz 3 AufenthG [...] vergleichbare Regelung unionsrechtlich geboten ist, d. h. ob die asylrechtliche Statusentscheidung aus dem ursprünglich zuständigen Mitgliedstaat zumindest dazu führt bzw. führen muss, dass eine Abschiebung in den Drittstaat, die dieser ursprünglich getroffenen Statusentscheidung zuwiderlaufen würde, unzulässig ist [...]. Ebendies könnte Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG verlangen.

27 In der logischen Konsequenz hierzu stellte sich sodann die bereits vorgelegte Frage [...], ob es nach Art. 6 Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG unionsrechtlich geboten ist, dem Antragsteller als ausländerrechtliche Folge eines solchen Abschiebungsaufschubes auch einen Aufenthaltstitel zu erteilen oder ob es genügt, dass im Sinne eines "Zwischenstatus" der Aufenthalt im zuständigen Mitgliedstaat lediglich geduldet wird. [...]