VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Beschluss vom 02.05.2023 - A 7 K 6645/22 - asyl.net: M31730
https://www.asyl.net/rsdb/m31730
Leitsatz:

Vorlagebeschluss zur Bindungswirkung der Flüchtlingsanerkennung in anderem EU-Mitgliedstaat und Rückkehrentscheidungen:

1. Aussetzung des Verfahrens und Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu der Frage, ob das BAMF den Asylantrag einer Person, der in einem anderen EU-Mitgliedstaat bereits internationaler Schutz zuerkannt worden ist, ergebnisoffen prüfen kann, wenn eine Ablehnung als unzulässig wegen drohender Verletzungen von Art. 4 GR-Charta ausscheidet.

2. Weiter soll der EuGH darüber entscheiden, ob eine Person, deren Asylantrag wegen einer drohenden Verletzung von Art. 4 GR-Charta im anerkennenden Mitgliedtstaat nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden kann, gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 1 Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG) gleichwohl dazu verpflichtet ist, sich in den anerkennenden Mitgliedstaat zu begeben.

3. Sollte die Frage zu 2. zu verneinen sein, soll der EuGH auch darüber entscheiden, ob eine Rückkehrentscheidung ins Herkunftsland angesichts der Zuerkennung internationalen Schutzes in einem anderen EU-Mitgliedstaat gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstößt.

4. § 60 Abs. 1 S. 2 AufenthG, wonach eine Person, die im Ausland als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben werden darf, ist teleologisch zu reduzieren und nicht anzuwenden, wenn der Asylantrag wie hier wegen drohender Menschenrechtsverletzung entgegen Art. 4 GR-Charta nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden kann.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BVerwG, Beschluss vom 07.09.2022 - 1 C 26.21 - asyl.net: M30943; siehe auch: VG Stuttgart, Urteil vom 18.02.2022 - A 7 K 3174/21 - asyl.net: M30921)

Schlagwörter: internationaler Schutz in EU-Staat, Vorlagebeschluss, Refoulement, Bindungswirkung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Unzulässigkeit, Rückkehrentscheidung, Rückführungsrichtlinie,
Normen: GR-Charta Art. 4, GR-Charta Art. 18, GR-Charta Art. 19 Abs. 2, GFK Art. 33, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, RL 2008/115/EG Art. 6 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 50 Abs. 3 S. 2
Auszüge:

[...]

Der Rechtsstreit ist auszusetzen, weil sein Ausgang von einer vorab einzuholenden Entscheidung des Gerichtshofs über die Auslegung der Verträge abhängt (Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV -). [...]

2.Die Vorlagefrage zu 1 ist entscheidungserheblich und klärungsbedürftig. Am innerstaatlichen Recht gemessen steht dem Kläger nach § 3 Abs. 4 Halbs. 1 i.V.m. Abs. 1 AsylG kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu (a). [...]

Ein solcher Anspruch ergibt sich zunächst im Hinblick auf die individuelle Situation des Klägers nicht aus § 3 Abs. 4 Halbs. 1 i.V.m. Abs. 1 AsylG. [...]

Nach dem nationalen Recht steht dem Kläger der geltend gemachte Anspruch auch nicht bereits wegen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Griechenland zu. Die hiervon ausgehenden Rechtswirkungen sind nationalrechtlich in § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG abschließend geregelt. Danach schließt die für einen bestimmten Staat ausgesprochene ausländische Anerkennung als Flüchtling die Abschiebung in diesen Staat auch für Deutschland aus. Durch diese nationale Regelung hat der deutsche Gesetzgeber eine auf den Abschiebungsschutz begrenzte Bindungswirkung der ausländischen Flüchtlingsanerkennung angeordnet, aus der aber kein Anspruch auf neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft folgt (vgl. BVerwG, Urteile vom 17.06.2014 - 10 C 7.13 -, juris Rn. 29, und vom 30.03.2021 - 1 C 41.20 [ECLI:DE:BVerwG:2021:300321U1C41.20.0] -, juris Rn. 32). [...]

b) Mit der Vorlagefrage zu 1 hält das vorlegende Gericht für klärungsbedürftig, ob die im Tenor des Beschlusses genannten Vorschriften des Unionsrechts in Fällen wie dem vorliegenden einer ergebnisoffenen Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz durch die Beklagte entgegenstehen.

Die Vorlagefrage zu 1 entspricht der durch das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 07.09.2022 - 1 C 26.21 [ECLI:DE:BVerwG:2022:070922B1C26.21.0] - vorgelegten Frage. [...]

3. Mit den Vorlagefragen zu 2 bis 5 möchte das vorlegende Gericht weitere Klärung hinsichtlich der Rückkehrentscheidung für den Fall herbeiführen, dass der Gerichtshof auf die Vorlagefrage zu 1 antwortet, dass keine Bindungswirkung des Mitgliedstaats an die bereits erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat besteht und der Mitgliedstaat den bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz ergebnisoffen prüft. [...]

a) Die Vorlagefragen zu 2 bis 5 sind entscheidungserheblich, weil dem Kläger gemäß nationalem Recht über den fehlenden Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (siehe oben) hinaus auch kein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter, Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus oder Feststellung des Vorliegens eines nationalen Abschiebungsverbots zusteht. [...]

Das Bundesamt hat den Kläger jedoch nicht gemäß § 50 Abs. 3 Satz 2 AufenthG, welcher der Umsetzung des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 RL 2008/115/EG dient, aufgefordert, sich unverzüglich nach Griechenland zu begeben. Hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung in das Herkunftsland des Klägers stellt sich somit entscheidungserheblich die Frage, ob eine vorherige Ausreiseaufforderung des Klägers nach Griechenland notwendig gewesen wäre.

Der im vorliegenden Fall erlassenen Abschiebungsandrohung in den Herkunftsstaat des Klägers steht aus Sicht des vorlegenden Gerichts jedenfalls § 60 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG als Ausfluss des Grundsatzes der Nichtzurückweisung nicht entgegen. Danach darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit aus einem der dort benannten asylrelevanten Verfolgungsgründe bedroht ist. Dies gilt u.a. auch für Ausländer, die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist nach Ansicht des vorlegenden Gerichts in dem hier vorliegenden Fall, in dem trotz der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Griechenland dem Bundesamt die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig unter Durchbrechung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG verwehrt und eine materielle Prüfung geboten ist, teleologisch zu reduzieren und nicht anwendbar. [...]

b) Im Zusammenhang mit dieser nach nationalem Recht zu erlassenden Rückkehrentscheidung stellen sich die klärungsbedürftigen Vorlagefragen zu 2 bis 5 zur Vereinbarkeit einer Rückkehrentscheidung in das Herkunftsland des Klägers mit den Vorgaben von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 RL 2008/115/EG und Art. 6 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 RL 2008/115/EG sowie dem Grundsatz der Nichtzurückweisung (Art. 18, 19 Abs. 2 GRC, Art. 5 RL 2008/115/EG, Art. 21 Abs. 1 RL 2011/95/EU).

aa) Klärungsbedürftig ist dabei zunächst die Frage, ob vor Erlass der Rücklehrentscheidung eine Verpflichtung des Antragstellers, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet des anderen, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkennenden Mitgliedstaats zu begeben, nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 RL 2008/115/EG ergehen muss oder ob diese unterbleiben kann, wenn – wie hier – Umstände in dem anerkennenden Mitgliedstaat vorliegen, die den Antragsteller einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC aussetzen würden. [...]

bb) Wenn die Vorlagefrage zu 2 dahin beantwortet wird, dass der Antragsteller nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 RL 2008/115/EG zu verpflichten ist, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet des anerkennenden Mitgliedstaates zu begeben, stellt sich im Anschluss daran die Frage, ob es möglich ist, die Verpflichtung nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 RL 2008/115/EG und die Rückkehrentscheidung nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 RL 2008/115/EG in einer einzigen behördlichen Entscheidung zu erlassen oder ob diese zeitlich getrennt erfolgen müssen (Vorlagefrage zu 3).

Diese Frage ist klärungsbedürftig, weil es in der Gesetzesbegründung des deutschen Gesetzgebers zu § 50 Abs. 3 Satz 2 AufenthG, welcher Art. 6 Abs. 2 Satz 1 RL 2008/115/EG in nationales Recht umsetzt, undifferenziert heißt, dass "mit der Aufforderung zur Ausreise in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates oder Schengen-Staates […] zugleich gemäß § 59 Absatz 1 [AufenthG] die Abschiebung angedroht werden [kann]" (vgl. BT-Drs. 17/5470, Seite 22). [...]

cc) Wenn die Vorlagefrage zu 2 dahin beantwortet wird, dass der Antragsteller nicht nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 RL 2008/115/EG zu verpflichten ist, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet des anerkennenden Mitgliedstaates zu begeben, stellt sich im Anschluss daran die Frage, ob eine Rückkehrentscheidung nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 RL 2008/115/EG in das Herkunftsland des Antragstellers erlassen werden darf oder ob dem der Grundsatz der Nichtzurückweisung (Art. 18, 19 Abs. 2 GRC, Art. 5 RL 2008/115/EG, Art. 21 Abs. 1 RL 2011/95/EU) entgegensteht, weil ein anderer Mitgliedstaat dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat (Vorlagefrage zu 4). [...]