VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Beschluss vom 17.05.2023 - 1 L 1029/23.GI.A - asyl.net: M31726
https://www.asyl.net/rsdb/m31726
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Zweitantragsbescheid wegen Zweifeln an Vereinbarkeit von § 71a AsylG mit Unionsrecht:

1. Gibt die Übersetzung der Rechtsbehelfsbelehrung fälschlicherweise an, dass die Klagefrist zwei Wochen beträgt und klärt sie auch nicht darüber auf, dass der Klage keine aufschiebende Wirkung zukommt, so wirkt sich die Fehlerhaftigkeit der Übersetzung der Rechtsbehelfsbelehrung nur auf die Dauer der Klagefrist aus, nicht aber auf den Umstand, dass die Klage keine aufschiebende Wirkung hat.

2. Auch wenn das erkennende Gericht der Auffassung zuneigt, dass die Regelung des § 71a AsylG unionsrechtskonform ist, ist mit Blick auf die insofern anderslautende obergerichtliche Rechtsprechung und den Umstand, dass das VG Schleswig-Holstein dem EuGH die Frage der Vereinbarkeit von § 71a AsylG mit Unionsrecht zur Entscheidung vorgelegt hat, die aufschiebende Wirkung anzuordnen. Denn es ist davon auszugehen, dass der EuGH diese Frage vor Abschluss der Hauptsache geklärt haben wird.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VGH Bayern, Beschluss vom 26.01.2023 - 6 AS 22.31155 (Asylmagazin 4/2023, S. 115 f.) - asyl.net: M31306; VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 16.08.2021 - 9 A 178/21 (Asylmagazin 3/2022, S. 97 ff.) - asyl.net: M29953; anderer Ansicht: VG Trier, Urteil vom 13.06.2023 - 7 K 1153/23.TR - asyl.net: M31659)

Schlagwörter: Zweitantrag, Asylfolgeantrag, Unzulässigkeit, Suspensiveffekt, Asylverfahrensrichtlinie, Rechtsmittelbelehrung, Übersetzung,
Normen: AsylG § 71a Abs. 1, RL 2013/33/EU Art. 33 Abs. 2 Bst. d, RL 2013/33/EU Art. 33 Abs. 2 Bst. q, AEUV Art. 267
Auszüge:

[...]

Klarzustellen ist in diesem Zusammenhang, dass die Klage des Antragstellers entgegen dessen Auffassung nicht deshalb aufschiebende Wirkung entfaltet, weil die Rechtsbehelfsbelehrung der französischen Übersetzung des angegriffenen Bescheids (Bundesamtsakte [BA], Dokument lfd. Nr. 76) unzutreffend eine Klagefrist von zwei Wochen - statt einer Woche, vgl. §§ 36 Abs. 3 Satz 1 1. Hs., § 74 Abs. 1 2. Hs. AsylG - ausweist. Ist eine zu lange Frist angegeben, hat dies allein Auswirkungen auf die Länge der Frist, innerhalb derer der Rechtsbehelf zulässigerweise erhoben werden kann (vgl. Meissner/Schenk in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 43. Ergänzungslieferung August 2022, § 58 VwGO Rn. 42 m. w. N.). Über die in § 58 Abs. 2 VwGO vorgesehene Rechtsfolge - eine Jahresfrist zur Einlegung des Rechtsbehelfs - hinaus zeitigt das Fehlen einer ordnungsgemäßen Belehrung keine weiteren unmittelbaren Wirkungen (Kimmel in: BeckOK/VwGO, 65. Edition, Stand: 01.07.2022, § 58 VwGO Rn. 30).

Auch dass die französische Rechtsbehelfsbelehrung des Bundesamts - als Folgefehler - nicht darüber aufklärt, dass eine Klage vorliegend keine aufschiebende Wirkung hat, verleiht dem Antrag eine solche Wirkung nicht. Da der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Fall 1 VwGO in diesem Fall nach § 36 Abs. 3 Satz 1 1. Hs AsylG fristgebunden ist, dürfte zwar § 58 VwGO zur Anwendung gelangen. Auf das Auslösen dieser Rechtsfolge beschränkt sich die insoweit unrichtige Belehrung aber wiederum [...].

Der Antrag ist auch begründet. Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der im Bescheid des Bundesamts enthaltenen Abschiebungsandrohung (§ 71a Abs. 4, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG). Dies ist der Fall, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 - 2 BvR 1516/93, NVwZ 1996, 678). So liegen die Dinge hier. [...]

Ein Zweitantrag im Sinne des § 71a Abs. 1 AsylG liegt hier vor. Der Antragsteller hat in Frankreich - einem sicheren Drittstaat gemäß § 26 AsylG, in welchem die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-VO) Anwendung findet - erfolglos ein Asylverfahren durchgeführt. [...]

Der beschließende Einzelrichter hält gleichwohl im Anschluss an jüngere obergerichtliche Rechtsprechung (OVG NRW, Beschluss vom 09.12.2021 - 17 B 1728/21.A; Beschluss vom 31.03.2022 - 1 B 375/22.A; Bay. VGH, Beschluss vom 26.01.2023 - 6 AS 22.31155, jeweils juris) die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers für gerechtfertigt. Zwar neigt auch er - nach wie vor - der überwiegenden Judikatur zu, die die mitgliedstaatsübergreifende Anwendung des unionsrechtlich ermöglichten Folgeantragskonzepts und damit die (generelle) Vereinbarkeit des § 71a AsylG bejaht [...].

Im hiesigen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kann indes nicht unberücksichtigt bleiben, dass die vom Antragsteller aufgeworfene Frage der Vereinbarkeit von § 71a AsylG mit Art. 40 Abs. 1 RL 2013/32/EU nicht nur bislang vom Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 14.12.2016 - 1 C 4.16, juris Rn. 26) wie Europäischem Gerichtshof (Urteil vom 20.05.2021 - C-8/20, juris Rn. 28-30, 40) ausdrücklich offengelassen, sondern letzterem darüber hinaus nunmehr vom Verwaltungsgericht Schleswig mit Beschluss vom 16.08.2021 (a.a.O.) nach Art. 267 AEUV zur Vorabentscheidung vorgelegt, von der Europäischen Kommission in einer Stellungnahme beim Europäischen Gerichtshof (EuGH vom 20.05.2021, a.a.O., Rn. 29, abgerufen am 17.05.2023 unter ec.europa.eu/dgs/legal_service/submissions/c2020-8-obs_de.pdf) verneint und schließlich, wie zitiert, obergerichtlich zuletzt als zur Annahme ernstlicher Sinne des § 71a Abs. 4 i. V. m. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG genügend erachtet wurde. [...]

Dies gilt nicht nur unter Verweis auf den gegenwärtigen Stand der (deutschen) Rechtsprechung, sondern umso mehr mit Blick auf eine vor Abschluss des hiesigen Hauptsacheverfahrens zu erwartende klärende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. [...]