Keine Flüchtlingsanerkennung für syrischen Wehrdienstentzieher aus Idlib:
"1. Ohne Hinzutreten besonderer risikoerhöhender individueller Umstände folgt eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit aus den Gründen des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG für syrische Asylkläger auch weiterhin nicht allein aus der Zugehörigkeit zu einer durch den UNHCR benannten Risikogruppe, hier: Wehrdienstentziehung, Herkunft aus dem (ehemals) von Oppositionellen beherrschten Gouvernement Idlib und sunnitische Religionszugehörigkeit.
2. Eine solche Verfolgungswahrscheinlichkeit aus den Gründen des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG droht in Idlib auch nicht seitens der durch die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestuften Hayat Tahrir al-Sham (HTS) - früher Al-Nusra-Front / Jabhat Fatah al-Sham - (allein) wegen der Zugehörigkeit syrischer Zivilpersonen zum sunnitischen Glauben.
3. Gleiches gilt für die Furcht vor einer Zwangsrekrutierung durch die HTS; es fehlt insoweit an der gemäß § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und einem Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG.
4. Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit aus dem Gesichtspunkt der Sippenhaft oder Reflexverfolgung besteht auch weiterhin nicht für nahe Familienangehörige von Wehrpflichtigen, die sich dem Wehrdienst in Syrien entzogen haben."
(Amtliche Leitsätze; unter Bezug auf: OVG Niedersachsen, Urteil vom 22.04.2021 - 2 LB 147/18 - asyl.net: M29702; anderer Ansicht: OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.01.2021 - 3 B 109.18 (Asylmagazin 5/2021, S. 168 ff.) - asyl.net: M29482)
[...]
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG. [...]
a. Der Kläger ist nicht vorverfolgt ausgereist, sodass ihm die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU nicht zugutekommt.
Eine Vorverfolgung ergibt sich - auch unter Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 (- C-238/19 -, juris) - nicht im Hinblick darauf, dass sich der Kläger bereits zum Zeitpunkt seiner Ausreise dem Wehrdienst auf Seiten des syrischen Staats entzogen hat. Dies gilt auch im Hinblick auf eine mögliche Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG. Eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes, wie sie der Tatbestand dieser Bestimmung zunächst voraussetzt, hat der Kläger vor seiner Ausreise aus Syrien seinen eigenen Angaben zufolge nicht erlitten. Die Annahme einer bei der Ausreise unmittelbar drohenden Strafverfolgung oder Bestrafung (vgl. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU) wegen Verweigerung des Militärdienstes i. S. d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG kann nach der Senatsrechtsprechung nur dann in Betracht kommen, wenn sich ein im militärdienstpflichtigen Alter befindlicher Mann aus Sicht des syrischen Staates bereits vor dem Moment seiner Ausreise erkennbar dem Militärdienst entzogen hatte und er gerade aus diesem Grund der beachtlich wahrscheinlichen Gefahr unterlag, Verfolgungsmaßnahmen der Sicherheitskräfte erleiden zu müssen (vgl. im Einzelnen Senatsurt. v. 22.4.2021 - 2 LB 147/18 und 408/20 -, juris Rn. 32 ff. bzw. 31 ff.).
Von vornherein ausscheiden muss eine Vorverfolgung danach dann, wenn der Betroffene vor der Ausreise seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem nicht unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehenden Landesteil hatte und daher eine Strafverfolgung oder Bestrafung von Seiten der syrischen Sicherheitskräfte mangels Unterworfenseins unter eine effektive Herrschaftsgewalt des syrischen Regimes nicht zu befürchten war. Das ist hier der Fall. Denn der Kläger hat sich zuletzt in der Stadt Idlib aufgehalten und diese sowie das gleichnamige Gouvernement standen nach seinem eigenen Vorbringen zum Zeitpunkt seiner Ausreise nicht unter der Herrschaftsgewalt des syrischen Regimes, sondern unter derjenigen islamistischer Gruppierungen. [...]
Einen Einberufungsbescheid oder andere konkrete Maßnahmen zu seiner Heranziehung zum Wehrdienst in der syrischen Armee gab es im Übrigen auch zum Zeitpunkt seines Aufenthalts in Latakia nicht; zumal er während seines dortigen Studiums vom Wehrdienst zurückgestellt war. [...]
b. Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit begründende Ereignisse, die eingetreten sind, nachdem der Kläger sein Herkunftsland verlassen hat (§ 28 Abs. 1a AsylG), liegen ebenfalls nicht vor.
(1) Syrische Staatsangehörige unterliegen nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats (Urt. v. 27.6.2017 - 2 LB 91/17 - u. v. 22.4.2021 - 2 LB 147/18 und 408/20 -, juris) allein aufgrund einer (illegalen) Ausreise, einer Asylantragstellung und einem längeren Aufenthalt im westlichen Ausland und wegen des Umstandes, dass sie sich durch ihre Ausreise oder ihren längeren Aufenthalt im Ausland dem Wehrdienst entzogen haben, nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG.
Es fehlt jedenfalls an der gemäß § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung zwischen einer etwaigen Verfolgungshandlung und einem Verfolgungsgrund i. S. v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3b AsylG. Die dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel lassen weiterhin nicht den Schluss, dass Rückkehrern ohne besonderes Profil von Seiten des syrischen Staates regelhaft eine oppositionelle Gesinnung zugeschrieben wird. Das gilt auch bei (einfacher) Wehrdienstentziehung. Nach der vom Senat geteilten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellen die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen (vgl. zusammenfassend BVerwG, Beschl. v. 24.4.2017 - 1 B 22.17 -, juris Rn. 14). An einer solchen Verknüpfung zwischen der Bestrafung von Rückkehrern wegen einer Wehrdienstentziehung und einem Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG fehlt es.
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung wegen einer Wehrdienstentziehung liegt auch unter Berücksichtigung des in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG aufgenommenen Regelbeispiels einer Verfolgungshandlung i. S. d. § 3a Abs. 1 AsylG nicht vor. Die dort genannten Voraussetzungen sind in zweifacher Hinsicht nicht erfüllt. Zum einen geht der Senat nicht davon aus, dass der Wehr- oder Reservedienst in der syrischen Armee Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Zum anderen fehlt es auch hier an der erforderlichen Verknüpfung der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Verweigerung des Militärdienstes mit einem Verfolgungsgrund.
Zur näheren Begründung seiner Einschätzung nimmt der Senat vollumfänglich Bezug auf seine Urteile vom 27. Juni 2017 - 2 LB 91/17 - und vom 22. April 2021 - 2 LB 147/18 und 408/20 -, juris [...].
Das Vorbringen des Klägers gibt keine Veranlassung zu einer veränderten Bewertung. Neuere Erkenntnisse, die darauf schließen lassen, dass die Situation von Rückkehrern aus Europa anders zu beurteilen wäre, liegen nicht vor. Auch die übrige obergerichtliche Rechtsprechung verneint in den genannten Fällen ganz überwiegend eine politische Verfolgung [...] Auch das auf der Linie der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg liegende Urteil des Oberverwaltungsgerichts Bremen vom 23. März 2022 (- 1 LB 484/21 -, juris), gegen das die Beklagte Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesverwaltungsgericht erhoben hat, gibt keinen Anlass zur Änderung der Senatsrechtsprechung. [...]
(3) Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG folgt mithin auch nicht allein aus der Herkunft aus einem (ehemals) von der Opposition beherrschten Gebiet [...].
Die dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel lassen nicht den Schluss zu, dass allein die Herkunft aus einem (ehemaligen) "oppositionellen oder oppositionsnahen" Gebiet mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit dazu führt, dass das syrische Regime Rückkehrer wegen einer zumindest unterstellten feindlichen Gesinnung verfolgt. [...]
Soweit der Kläger zudem bei einer Rückkehr in das Gouvernement Idlib eine Zwangsrekrutierung durch die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestufte Hayat Tahrir al-Sham (HTS) oder andere bewaffnete islamistische Gruppierungen befürchtet, ist zwar festzustellen, dass Teile der Gouvernements Latakia, Idlib und Aleppo trotz der anhaltenden Rückeroberungsbestrebungen und Militäroffensiven des syrischen Regimes von HTS und Türkei-nahen bewaffneten Gruppierungen kontrolliert werden [...]. Ungeachtet der Frage, ob die Terrororganisation des HTS infolge von der syrischen Regierung mit Unterstützung russischer Truppen und Iranischer Milizen ab April 2019 in Idlib (Gouvernement) geführten Militäroffensiven und der damit einhergehenden Kontrollverluste (vgl. BFA, Länderinformation - Syrien - v. 27.4.2022, S. 22 ff., 24) (noch) als nichtstaatlicher Verfolger (Akteur) im Sinne des § 3c AsylG qualifiziert werden kann, sind jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass eine etwaige zwangsweise Rekrutierung seitens des HTS an einen der in §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b AsylG genannten Verfolgungsgründe anknüpfen könnte [...].
Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang vorträgt, der HTS würde ihm, im Falle einer Rückkehr über die unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehenden Landesteile, unterstellen, ein Spion oder Kämpfer des syrischen Regimes zu sein und ihn deshalb als Gegner des HTS betrachten und verfolgen, führt dies zu keiner anderen Bewertung. Dass der HTS Rückkehrern, die über die unter der Kontrolle des syrischen Staats stehenden Landesteile nach Idlib gelangen, regelhaft eine oppositionelle Haltung unterstellen und diesem Personenkreis deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlungen im Sinn des § 3a AsylG drohen könnten, dafür liegen keine durchgreifenden Anhaltspunkte vor. [...]