VG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 19.04.2023 - 22 L 80/23 A - asyl.net: M31500
https://www.asyl.net/rsdb/m31500
Leitsatz:

Kein Eilrechtsschutz gegen Dublin-Bescheid wegen systemischer Mängel in Litauen:

"Aufgrund der vorliegenden Erkenntnismittel bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende in Litauen zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung systemische Schwachstellen aufweisen, die für den Antragsteller als Dublin-Rückkehrer die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung mit sich bringen.

Aktuell vorliegende Erkenntnismittel zeigen, dass zuvor ausgewertete Berichte, die sich vornehmlich auf das zweite Halbjahr 2021 und die erste Jahreshälfte 2022 beziehen, insbesondere wegen der zwischenzeitlich erheblich gesunkenen Zahl der Schutzsuchenden in Litauen nicht mehr die gegenwärtigen Zustände wider­spiegeln.

Der Antragsteller ist als Dublin-Rückkehrer voraussichtlich nicht von den derzeit noch geltenden Notstands­regelungen betroffen."

(Amtliche Leitsätze; anderer Ansicht zuletzt: VG München, Beschluss vom 30.03.2023 - M 19 S 23.50135 - asyl.net: M31432; VG Karlsruhe, Beschluss vom 27.03.2023 - A 19 K 391/23 - asyl.net: M31436; VG Weimar, Beschluss vom 10.03.2023 - 7 E 242/23 We - asyl.net: M31368; in Abkehr von: VG Berlin, Beschluss vom 07.10.2022 - 22 L 258/22.A - asyl.net: M31005; beachte zum maßgeblichen Zeitpunkt des Vorliegens systemischer Mängel: VG Minden, Urteil vom 05.09.2019 - 10 K 7561/17.A - asyl.net: M27596)

Schlagwörter: Litauen, Dublinverfahren, Änderung der Rechtsprechung, Änderung der Sachlage,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

11 Gemessen an diesen Maßstäben bestehen nach Auswertung der vorliegenden Erkenntnismittel keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende in Litauen zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) systemische Schwachstellen aufweisen, die die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK mit sich bringen [...]. Soweit die Einzelrichterin bislang im Hinblick auf unionsrechtswidrige Verschärfungen des litauischen Ausländergesetzes und erhebliche Missstände bei der Unterbringung von Asylsuchenden nach dem massiven Anstieg der Grenzübertritte von Migranten ab dem Sommer 2021 ernstzunehmende Anhaltspunkte für systemische Mängel gesehen hat [...], wird daran nicht mehr festgehalten. Aktuell vorliegende Erkenntnismittel zeigen, dass zuvor ausgewertete Berichte, die sich vornehmlich auf das zweite Halbjahr 2021 und die erste Jahreshälfte 2022 beziehen, insbesondere wegen der zwischenzeitlich erheblich gesunkenen Zahl der Schutzsuchenden in Litauen nicht mehr die gegenwärtigen Zustände widerspiegeln. Zudem ist der Antragsteller als Dublin-Rückkehrer voraussichtlich nicht von den derzeit noch geltenden Notstandsregelungen betroffen.

12 a) Den vorliegenden Erkenntnissen ist nicht zu entnehmen, dass Schutzsuchende, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Litauen überstellt werden, nur eingeschränkten Zugang zum Asylverfahren haben.

13 Der litauische Gesetzgeber hat anlässlich des unerwarteten Massenzustroms von Flüchtlingen über die belarussisch-litauische Grenze im Sommer 2021 ein Gesetzespaket zur Änderung des Asylverfahrens beschlossen, das unter anderem die Möglichkeit, wirksam Asyl zu beantragen, erheblich beschneidet. Aus dem danach geänderten Gesetz der Republik Litauen über den rechtlichen Status von Ausländern (Im Folgenden: Ausländergesetz) folgt unter anderem, dass illegal nach Litauen eingereiste Drittstaatsangehörige im Falle der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern keine Möglichkeit haben, im Land wirksam Asyl zu beantragen und ihr Antrag deswegen von den litauischen Behörden in der Regel gar nicht erst entgegengenommen wird (Art. 140/12 Abs. 1 und 2 des litauischen  Ausländergesetzes). Nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) diese Regelung mit Urteil vom 30. Juni 2022 für unvereinbar mit dem Unionsrecht erklärt hat (EuGH, Urteil vom 30. Juni 2022 – C-72/22 – juris Rn. 55, 63 ff.), liegt inzwischen ein Gesetzentwurf vor, der die Asylantragstellung unabhängig davon regelt, ob ein Ausländer legal oder illegal nach Litauen eingereist ist (Schengenvisa news, 12. Januar 2023, Lithuanian government approves amendments to law on state border, protection and legal status of foreigners).

14 Es kann hier dahinstehen, inwieweit das Urteil des Europäischen Gerichtshofs bereits vor dem Inkrafttreten des neuen Änderungsgesetzes umgesetzt wird und die unionsrechtswidrige Regelung überhaupt noch zur Anwendung kommt. Denn jedenfalls gibt es keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass auch der Antragsteller von dieser gesetzlichen Beschränkung betroffen wäre. Gegen eine solche Anwendung auf Asylsuchende, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Litauen überstellt werden, spricht zunächst der mittlerweile nur noch räumlich beschränkte Geltungsbereich der ausgerufenen Notstandslage. Der aktuell vom litauischen Parlament bis zum 2. Mai 2023 verlängerte Ausnahmezustand [...] gilt ausschließlich im Grenzgebiet zu Belarus, zu der russischen Exklave Oblast Kaliningrad sowie an Grenzübergangsstellen, die außerhalb der Republik Litauen liegen [...]. Anders als in den ersten Beschlüssen aus dem Jahr 2021 erstreckt sich der Geltungsbereich der Notstandsregelungen damit insbesondere nicht mehr auf Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge und Registrierungszentren für Ausländer [...]. Im Übrigen ist eine nach Maßgabe der Art. 29 ff. der Dublin III-VO erfolgte Überstellung als legale Einreise zu werten mit der Folge, dass auch während eines geltenden Ausnahmezustands Asylanträge bei der Migrationsbehörde im Landesinneren gestellt werden können. Hinweise darauf, dass Asyl-(Folge-)Anträge von Dublin-Rückkehrern unter Verweis auf eine ursprünglich illegale Einreise über die belarussisch-litauische Grenze nicht entgegengenommen werden oder ihr Zugang zum Asylverfahren auf sonstige Weise beschränkt wird, sind den Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen (vgl. auch VG Freiburg, Urteil vom 17. Januar 2023 – A 13 K 1760/22 – juris Rn. 29 unter Verweis auf eine Mitteilung der litauischen Behörden zu Dublin-Rückkehrern vom 10. Oktober 2022).

15 b) Es ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass dem Antragsteller eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung infolge einer Unterbringung in einer geschlossenen Aufnahmeeinrichtung für Ausländer droht.

16 aa) Eine Inhaftierung bzw. Unterbringung des Antragstellers in einer geschlossenen Aufnahmeeinrichtung aufgrund einer illegalen Einreise ist im Falle der Dublin-Rücküberstellung nicht zu erwarten. [...]

17 Unabhängig davon, ob die unionsrechtswidrige Regelung derzeit überhaupt noch zur Anwendung kommt, ist jedoch nicht davon auszugehen, dass der Antragsteller als Dublin-Rückkehrer von ihr betroffen wäre. Dies gilt – wie oben bereits hinsichtlich des Zugangs zum Asylverfahren ausgeführt – insbesondere deshalb, weil die Rückführung unter dem Dublin-Regime als legale Einreise zu werten ist und Schutzsuchende nach der förmlichen Registrierung ihres Asyl-(Folge-)Antrags als Asylbewerber und damit nicht als illegal aufhältig einzustufen sind [...].

18 bb) Soweit die Möglichkeit besteht, dass der Antragsteller nach seiner Überstellung in Litauen aus anderen Gründen inhaftiert bzw. in einer geschlossenen Aufnahmeeinrichtung untergebracht wird [...], gibt es nach den aktuell vorliegenden Erkenntnissen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass ihm aufgrund der dortigen Lebensbedingungen beachtlich wahrscheinlich eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.

19 Die vor allem im zweiten Halbjahr 2021 und im ersten Halbjahr 2022 von verschiedenen Organisationen und Beobachtern dokumentierten Zustände in den zeitweise deutlich überfüllten geschlossenen Aufnahmezentren entsprechen nicht mehr dem aktuellen Stand. Nationale wie internationale Beobachter und Hilfsorganisationen hatten insbesondere Ende 2021 und zu Beginn des Jahres 2022 auf Missstände in den litauischen Registrierungszentren und (temporären) Aufnahmeeinrichtungen für Ausländer aufmerksam gemacht. [...]

20 Diese Feststellungen können jedoch insbesondere deshalb nicht mehr zur Bewertung der aktuellen Lage herangezogen werden, weil sich die Zahl der in den staatlichen Unterkünften untergebrachten Asylsuchenden und anderen Migranten inzwischen ganz erheblich verringert hat und die Unterbringung teils umorganisiert und verbessert wurde. [...]

25 Von einer Überlastung des Aufnahmesystems, einer Überbelegung der Zentren und daraus resultierenden unzureichenden Aufnahmebedingungen kann daher zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr ausgegangen werden. Den vorliegenden neueren Erkenntnismitteln lässt sich zudem entnehmen, dass die Empfehlungen der nationalen und internationalen Beobachter zur Organisation und Ausstattung der Aufnahmeeinrichtungen zumindest in Teilen umgesetzt und die dortigen Bedingungen teils verbessert wurden. [...]