VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 05.09.2019 - 10 K 7561/17.A - asyl.net: M27596
https://www.asyl.net/rsdb/M27596
Leitsatz:

Entscheidungserheblicher Zeitpunkt zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Dublin-Bescheids:

"1. Die Frage, ob die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013 vorliegen, beurteilt sich entgegen § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht allein nach den Verhältnissen zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, sondern wegen des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs des Art. 7 Abs. 2 VO 604/2013 auch nach den Verhältnissen zum Zeitpunkt der erstmaligen Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat.

2. Bei Kindern ist die Erheblichkeitsschwelle für einen Verstoß gegen Art. 4 EU-Grundrechtecharta nicht erst bei Vorliegen der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union entwickelten Voraussetzungen für Fälle gesunder, arbeitsfähiger Männer erreicht. Vielmehr ist bei Kindern zu berücksichtigen, dass diese besondere Bedürfnisse haben und extrem verletzlich sind. Dementsprechend müssen die Aufnahmebedingungen für Kinder an ihr Alter angepasst sein, um sicherzustellen, dass keine Situation von Anspannung und Angst mit besonders traumatisierenden Wirkungen für ihre Psyche entsteht.

3. Jedenfalls im Mai 2017 wies das italienische Asylsystem systemische Schwachstellen für Familien mit Kindern, die in Italien noch keinen Asylantrag gestellt hatten, auf, weil die damaligen Aufnahmebedingungen für Angehörige dieser Gruppe gegen Art. 4 EU-Grundrechtecharta verstießen.

4. Aufgrund dessen durften Familien mit Kindern, die in Italien noch keinen Asylantrag gestellt hatten, im Mai 2017 nur bei Vorliegen einer aktuellen und belastbaren individuellen Zusicherung seitens der italienischen Behörden, dass für sie nach ihrer Ankunft eine ihren Bedürfnissen entsprechende Unterkunft zur Verfügung steht, nach Italien überstellt werden. Im Mai 2017 fehlte es an einer solchen Zusicherung.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Italien, systemische Mängel, Beurteilungszeitpunkt, besonders schutzbedürftig, Kinder, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, minderjährig, Kind,
Normen: AsylG § 77, VO 604/2013 Art. 7 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 3 Abs 2, EMRK Art 3, AsylG § 29 Abs. 1 Nr 1
Auszüge:

[...]

cc) Bei Kindern ist die Erheblichkeitsschwelle nicht erst bei Vorliegen der vorstehend unter bb) aufgeführten Voraussetzungen erreicht. Vielmehr ist ihren Bedürfnissen besonders Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. August 2017 - 2 BvR 863/17 -, Asylmagazin 2017, 408, Rn. 16).

Dies liegt darin begründet, dass die Frage, ob eine Behandlung als unmenschlich oder erniedrigend und damit als gegen Art. 4 GrCh verstoßend einzustufen ist, von sämtlichen Umständen des Einzelfalls (vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, InfAuslR 2019, 236, Rn. 91, sowie - C-297/17 u.a. (Ibrahim u.a.) -, Asylmagazin 2019, 195, Rn. 89), insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Auswirkungen sowie in einigen Fällen auch vom Geschlecht, dem Alter und dem Gesundheitszustand der betroffenen Person abhängt (vgl. EGMR, Urteile vom 28. Februar 2008 - 37201/06 (Saadi/ Italien) -, NVwZ 2008, 1330, Rn. 130 und 134, und vom 28. Juni 2011 - 8319/07 u.a. (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich) -, NVwZ 2012, 681, Rn. 213 und 216).

Dementsprechend ist bei Kindern zu berücksichtigen, dass sie besondere Bedürfnisse haben und extrem verletzlich sind. Das gilt auch, wenn die Kinder von ihren Eltern begleitet werden. Die Aufnahmebedingungen für minderjährige Asylsuchende müssen an ihr Alter angepasst sein, um sicherzustellen, dass keine Situation von Anspannung und Angst mit besonders traumatisierenden Wirkungen für die Psyche der Kinder entsteht. Anderenfalls ist die Schwelle erreicht, die erforderlich ist, um einen Verstoß gegen Art. 4 GrCh zu begründen (vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) -, NVwZ 2015, 127, Rn. 99 und 119 m.w.N.). [...]

ff) Die Frage, ob die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013 vorliegen, beurteilt sich entgegen § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht allein nach den Verhältnissen zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, sondern wegen des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs des Art. 7 Abs. 2 VO 604/2013 zusätzlich nach den Verhältnissen zum Zeitpunkt der erstmaligen Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat. Das bedeutet, dass auch ein Entfallen von systemischen Schwachstellen im Asylsystem im betreffenden Mitgliedstaat nach der erstmaligen Stellung eines Asylantrags und der Einreise des Asylsuchenden in das Bundesgebiet nicht eine (erneute) Zuständigkeit dieses Mitgliedstaats begründen kann. Nur so kann den unionsrechtlichen Erfordernissen eines klaren und praktikablen Zuständigkeitssystems, das zeitnah zu einer sachlichen Prüfung des Antrags zumindest in einem Mitgliedstaat führt und das einen potentiellen ständigen Wechsel der Zuständigkeit verbietet, genügt werden (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 5. Juli 2016 - A 11 S 974/16 -, InfAuslR 2016, 391 (juris Rn. 26); OVG NRW, Urteil vom 19. Mai 2017 - 11 A 52/17.A -, juris Rn. 43; a.A. ohne weitere Diskussion wohl VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 741/19 -, juris Rn. 42 ("im maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung"). [...]