VG München

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Zitieren als:
VG München, Beschluss vom 30.03.2023 - M 19 S 23.50135 - asyl.net: M31432
https://www.asyl.net/rsdb/m31432
Leitsatz:

Eilrechtsschutz für schwangere Person gegen Abschiebungsanordnung nach Litauen:

Es liegen ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass das litauische Asylsystem seit den Asylrechtsverschärfungen im Sommer 2021 mit systemischen Mängeln behaftet ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Litauen, Dublinverfahren, Aufnahmebedingungen, Haft, Dublin III-Verordnung, systemische Mängel, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Schwangerschaft, besonders schutzbedürftig,
Normen: VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 34a Abs. 2 Satz 1, VwGO § 80 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

24 Gemessen an diesen Maßstäben ist die Vermutung einer gesetzeskonformen Behandlung von Asylbewerbern im konkreten Fall nach summarischer Prüfung aller Voraussicht nach erschüttert, da ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das litauische Asylsystem seit den Asylrechtsverschärfungen im Sommer 2021 mit systemischen Mängeln behaftet ist. [...]

26 Der UN-Ausschuss gegen Folter hat am 21. Dezember 2021 in seinem vierten Staatenbericht zu Litauen die aktuellen Entwicklungen seit dem Sommer 2021 kritisiert und Litauen in vielfältiger Weise zum Ergreifen von Gegenmaßnahmen aufgefordert (Committee against Torture, Concluding observations on the fourth periodic report of Lithuania, UN Doc. CAT/C/LTU/CO/4, Rn. 11 f.). Gerügt werden Inhaftnahmen – auch vulnerabler Personen – ohne Rechtsschutzmöglichkeiten, unzureichende Unterbringungsbedingungen in überfüllten Aufnahmeeinrichtungen mit mangelhafter Heizung, mangelnden warmem Wasser und Trinkwasser, minderwertiger Nahrung, eingeschränktem Zugang zu medizinischem Service sowie Mängel bei der Hygiene und den sanitären Einrichtungen, Vorwürfe unverhältnismäßiger Gewalt und Folter seitens litauischer Beamten in Aufnahmeeinrichtungen sowie Kollektivausweisungen ohne Prüfung der individuellen Situation.

27 Des Weiteren hat der Europäische Gerichtshof im Juni 2022 in einem (Eil-) Vorabentscheidungsverfahren die Unvereinbarkeit der Notstandsregelungen des litauischen Ausländergesetzes mit europäischem Recht festgestellt. [...]

29 Es gibt keine aktuellen Erkenntnisse dazu, dass Litauen mittlerweile nachhaltig auf die Kritik reagiert und Gegenmaßnahmen ergriffen hat. Vielmehr wurde der in Folge der Migrationskrise ausgerufene Ausnahmezustand zuletzt bis zum 2. Mai 2023 verlängert (vgl. ORF v. 14.3.2023, Litauen verlängert Ausnahmezustand an Außengrenzen; NTV v. 8.3.2023, Litauens Regierung will Ausnahmezustand entlang der Grenze zu Russland und Belarus verlängern). [...] Eine aktuelle parlamentarische Anfrage vom Februar 2023 geht vielmehr davon aus, dass die litauische Regierung die Überführung der bislang als Notstandsdekrete ausgeführten Praxis in ein formales Gesetz, das im Juni 2023 in Kraft treten soll, billigte (vgl. Anfrage zur schriftlichen Beantwortung E-000557/2023 an die Kommission v. 22.2.2023, www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-9-2023-000557_DE.html, zuletzt abgerufen am 29.3.2023). [...]