Abschiebungsandrohung wegen falschen Zielstaats und mangels Berücksichtigung familiärer Belange unionsrechtswidrig:
1. Gemäß Art. 3 Nr. 3 Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG) kommt als Zielstaat einer Rückkehrentscheidung der Herkunftsstaat in Betracht. Herkunftsstaat in diesem Sinne ist gemäß Art. 2 Buchst. n Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU) und § 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylG das Land der Staatsangehörigkeit oder bei Staatenlosen das Land des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes. Verfügt eine Person über eine Staatsangehörigkeit (hier: Jordanien), kommt es auf das Land des letzten gewöhnlichen Aufenthalts (hier: Vereinigte Arabische Emirate) nicht an. Eine Abschiebungsandrohung in das Land des letzten gewöhnlichen Aufenthalts ist dann rechtswidrig.
2. Das Wohl eines Kindes und die familiären Bindungen sind im Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie vor Erlass einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen. Das gilt sowohl für Abschiebungsandrohungen gegenüber einem minderjährigen Kind als auch gegenüber den sorgeberechtigten Eltern. Unionsrechtlich ist es nicht ausreichend, dass diese Belange nach Erlass der Abschiebungsandrohung in einem aufenthaltsrechtlichen Verfahren berücksichtigt werden - z.B.bei Prüfung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG wegen inlandsbezogener Abschiebungshindernisse aus familiären Gründen.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Beschluss vom 15.02.2023 - C-484/22 BR Deutschland gg. GS - asyl.net: M31329; EuGH, Urteil vom 22.11.2022 - C-69/21 X gg. Niederlande - asyl.net: M31092; OVG Niedersachsen, Urteil vom 14.12.2017 - 8 LC 99/17 - asyl.net: M25892)
Anmerkung der Redaktion:
Nach dieser Entscheidung und dem Beschluss des EuGH vom 15.02.2023 (a.a.O.) ist die bisherige ständige Rechtspraxis in Deutschland unionsrechtswidrig, wonach familiären Belange als solche bei Erlass einer Abschiebungsandrohung am Ende des Asylverfahrens nicht zu berücksichtigen sind und nur anschließend in einem aufenthaltsrechtlichen Verfahren gegenüber der Ausländerbehörde geltend gemacht werden können.
[...]
20 Die Abschiebungsandrohung in dem Bescheid vom 4. Januar 2022 ist rechtswidrig. Rechtsgrundlage der Abschiebungsandrohung ist §§ 34, 36 AsylG i.V.m. § 59 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Zwar sind die im nationalen Recht niedergelegten Voraussetzungen einer Abschiebungsandrohung erfüllt. Die unionsrechtlichen Vorgaben an eine Abschiebungsandrohung, insbesondere die aus der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 (Rückführungsrichtlinie) folgen, sind aber nicht gegeben.
21 Eine asylrechtliche Abschiebungsandrohung einschließlich der Zielstaatsbestimmung ist an der Rückführungsrichtlinie zu messen, es handelt sich dabei um eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 Rückführungsrichtlinie (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Juni 2022 – 1 C 24.21 – juris Rn. 18).
22 Eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie erfordert, dass darin der Zielstaat der Abschiebung genannt ist. Unionsrechtlich ist eine Rückkehrverpflichtung ohne Bestimmung eines Ziellandes nicht vorstellbar (vgl. EuGH, Urteil vom 22. November 2022 – C-69/21 – juris Rn. 53; EuGH, Urteil vom 24. Februar 2021 – C-673/19 – juris Rn. 39; EuGH, Urteil vom 14. Mai 2020 – C-924/19 PPU u.a. – juris Rn. 115). [...] Welche Staaten als zulässiges Ziel einer "Rückkehr" in Betracht kommen, ist in Art. 3 Nr. 3 Rückführungsrichtlinie niedergelegt (vgl. EuGH, Urteil vom 22. November 2022 – C-69/21 – juris Rn. 53; VGH Mannheim, Urteil vom 2. Januar 2023 – 12 S 1841/22 – juris Rn. 131). Danach kann Zielstaat einer Rückkehr nur das Herkunftsland des Drittstaatsangehörigen, ein Transitland, in das der Drittstaatsangehörige gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen zurückgeführt werden soll, oder ein anderes Drittland, in das der Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird, sein. Herkunftsland in diesem Sinne ist wie in Art. 2 Buchst. n der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie) und damit wie in § 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylG das Land der Staatsangehörigkeit oder – bei Staatenlosen – des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 14. Dezember 2017 – 8 LC 99/17 – juris Rn. 44 f.; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Dezember 2016, § 59 Rn. 65).
23 Darüber hinaus ist im Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie vor Erlass einer Abschiebungsandrohung festzustellen, ob das Wohl des Kindes und dessen familiäre Bindungen im Bundesgebiet, die von Art. 6 GG, Art. 7 GRC und Art. 8 EMRK geschützt sind, eine Aufenthaltsbeendigung zulassen. Denn aus Art. 5 Buchst. a und b Rückführungsrichtlinie folgt, dass vor Erlass der Abschiebungsandrohung das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen gebührend zu berücksichtigen sind. Dabei muss die Situation des Minderjährigen umfassend und eingehend beurteilt werden. Unionsrechtlich reicht nicht aus, dass dessen Belange nach Erlass der Abschiebungsandrohung, aber noch vor deren Vollstreckung – etwa in einem ausländerrechtlichen Verfahren auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG – berücksichtigt werden (vgl. EuGH, Beschluss vom 15. Februar 2023 – C-484/22 – juris Rn. 24 ff.). Auch kommt es nicht darauf an, ob die Rückkehrentscheidung gegen einen Minderjährigen oder gegen seine Eltern ergeht (vgl. EuGH, Urteil vom 11. März 2021 – C-112/20 – juris Rn. 33).
24 Vor diesem Hintergrund ist die Abschiebungsandrohung in dem Bescheid vom 4. Januar 2022 rechtswidrig.
25 Für die Klägerin zu 1. folgt dies daraus, dass ihr das Bundesamt nicht die Abschiebung in ein in Art. 3 Nr. 3 Rückführungsrichtlinie genanntes Land angedroht hat. Zielstaat ihrer Abschiebung sind die Vereinigten Arabischen Emirate. Im Tenor des Bescheides vom 4. Januar 2022 heißt es zwar nur, sie werde in den "Staat des gewöhnlichen Aufenthalts" abgeschoben. Aus der Bescheidbegründung folgt aber ohne Weiteres, dass es sich dabei um die Vereinigten Arabischen Emirate handelt. Dieser Zielstaat ihrer Abschiebung erfüllt nicht die in der Rückführungsrichtlinie genannten Voraussetzungen, insbesondere handelt es sich dabei nicht um ihr Herkunftsland. Wie bereits im Urteil vom 13. August 2020 (VG 34 K 164.16 A) ausgeführt, ist Herkunftsland der Klägerin zu 1. Jordanien als das Land ihrer Staatsangehörigkeit. Auf das Land ihres letzten gewöhnlichen Aufenthaltes kommt es insoweit nicht an, weil dies nur für die Bestimmung des Herkunftslandes eines Staatenlosen maßgeblich ist (UA S. 9 f.).
26 In Bezug auf die übrigen (minderjährigen) Kläger lässt sich die Androhung ihrer Abschiebung in die Vereinigten Arabischen Emirate nicht mit ihrem Wohl und ihren familiären Bindungen vereinbaren. Die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Beklagte, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Verbleib begehrenden Ausländers an Personen, die sich im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. [...]
27 Vor diesem Hintergrund steht das Wohl der Kläger zu 2. und 3. der Androhung der Abschiebung in die Vereinigten Arabischen Emirate entgegen. Diese minderjährigen Kläger leben mit ihrer Mutter, der Klägerin zu 1., in familiärer Lebensgemeinschaft. Die bestehende Mutter-Kind-Beziehung würde bei ihrer Abschiebung in die Vereinigten Arabischen Emirate auf unabsehbare Zeit aufgelöst werden, weil ihre Mutter – wie ausgeführt – nicht dorthin abgeschoben werden kann.
28 Das in dem angegriffenen Bescheid angeordnete das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist ebenfalls rechtswidrig, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung die Voraussetzung für den Erlass eines solchen Verbotes fehlt. [...]